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Hiob

Bezpłatny fragment - Hiob


Objętość:
169 str.
Blok tekstowy:
papier offsetowy 90 g/m2
Format:
145 × 205 mm
Okładka:
miękka
Rodzaj oprawy:
blok klejony
ISBN:
978-83-288-0818-8

Erster Teil

I

Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer.Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicherJude. Er übte den schlichten Beruf eines Lehrers aus. In seinem Haus,das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kinderndie Kenntnis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne aufsehenerregenden Erfolg. Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebtund unterrichtet.

Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbartvon einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halb verhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen,landesüblichen jüdischen Kaftan, dessen Schöße flatterten, wenn Mendel Singer durch die Gasse eilte, und die mit hartem, regelmäßigemFlügelschlag an die Schäfte der hohen Lederstiefel pochten.

Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewißwar sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. EineFrau und drei Kinder mußte er kleiden und nähren. (Mit einem viertenging sie schwanger.) Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen,seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten keinGold zu wägen und keine Banknoten zu zählen. Dennoch rann seinLeben stetig dahin, wie ein kleiner, armer Bach zwischen kärglichenUfern. Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging, beteteer noch einmal. Wenn die ersten Sterne aufsprühten, betete er zumdrittenmal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiligesGebet mit müden, aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. SeinGewissen war rein. Seine Seele war keusch. Er brauchte nichts zu bereuen, und nichts gab es, was er begehrt hätte. Er liebte sein Weib undergötzte sich an ihrem Fleische. Mit gesundem Hunger verzehrte erschnell seine Mahlzeiten. Seine zwei kleinen Söhne, Jonas und Schemarjah, prügelte er wegen Ungehorsams. Aber das Jüngste, die Tochter Mirjam, liebkoste er häufig. Sie hatte sein schwarzes Haar und seineschwarzen, trägen und sanften Augen. Ihre Glieder waren zart, ihreGelenke zerbrechlich. Eine junge Gazelle.

Zwölf sechsjährige Schüler unterrichtete er im Lesen und Memorierender Bibel. Jeder von den zwölf brachte ihm an jedem Freitag zwanzigKopeken. Sie waren Mendel Singers einzige Einnahmen. Dreißig Jahrewar er erst alt. Aber seine Aussichten, mehr zu verdienen, waren gering, vielleicht überhaupt nicht vorhanden. Wurden die Schüler älter,kamen sie zu anderen, weiseren Lehrern. Das Leben verteuerte sich vonJahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wässerig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.

Also klangen die Klagen Deborahs, der Frau Mendel Singers. Sie warein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. Sie schielte nach dem BesitzWohlhabender und neidete Kaufleuten den Gewinn. Viel zu geringwar Mendel Singer in ihren Augen. Die Kinder warf sie ihm vor, dieSchwangerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogardas schlechte Wetter. Am Freitag scheuerte sie den Fußboden, bis ergelb wurde wie Safran. Ihre breiten Schultern zuckten auf und niederim gleichmäßigen Rhythmus, ihre starken Hände rieben kreuz undquer jedes einzelne Brett, und ihre Nägel fuhren in die Sparren undHohlräume zwischen den Brettern und kratzten schwarzen Unrat hervor, den Sturzwellen aus dem Kübel vollends vernichteten. Wie einbreites, gewaltiges und bewegliches Gebirge kroch sie durch das kahle,blaugetünchte Zimmer. Draußen, vor der Tür, lüfteten sich die Möbel,das braune, hölzerne Bett, die Strohsäcke, ein blankgehobelter Tisch,zwei lange und schmale Bänke, horizontale Bretter, festgenagelt auf jezwei vertikalen. Sobald die erste Dämmerung an das Fenster hauchte,zündete Deborah die Kerzen an, in Leuchtern aus Alpaka, schlug dieHände vors Angesicht und betete. Ihr Mann kam nach Hause, in seidigem Schwarz, der Fußboden leuchtete ihm entgegen, gelb wie geschmolzene Sonne, sein Angesicht schimmerte weißer als gewöhnlich,schwärzer als an Wochentagen dunkelte auch sein Bart. Er setzte sich,sang ein Liedchen, dann schlürften die Eltern und die Kinder die heißeSuppe, lächelten den Tellern zu und sprachen kein Wort. Wärme erhob sich im Zimmer. Sie schwärmte aus den Töpfen, den Schüsseln,den Leibern. Die billigen Kerzen in den Leuchtern aus Alpaka hieltenes nicht aus, sie begannen sich zu biegen. Auf das ziegelrote, blaukarierte Tischtuch tropfte Stearin und verkrustete im Nu. Man stieß dasFenster auf, die Kerzen ermannten sich und brannten friedlich ihremEnde zu. Die Kinder legten sich auf die Strohsäcke in der Nähe desOfens, die Eltern saßen noch und sahen mit bekümmerter Festlichkeitin die letzten blauen Flämmchen, die gezackt aus den Höhlungen derLeuchter emporschossen und sanft gewellt zurücksanken, ein Wasserspiel aus Feuer. Das Stearin schwelte, blaue, dünne Fäden aus Rauchzogen von den verkohlten Dochtresten aufwärts zur Decke. „Ach!”,seufzte die Frau. „Seufze nicht!”, gemahnte Mendel Singer. Sie schwiegen. „Schlafen wir, Deborah!”, befahl er. Und sie begannen, ein Nachtgebet zu murmeln.

Am Ende jeder Woche brach so der Sabbat an, mit Schweigen, Kerzenund Gesang. Vierundzwanzig Stunden später tauchte er unter in derNacht, die den grauen Zug der Wochentage anführte, einen Reigen ausMühsal. An einem heißen Tag im Hochsommer, um die vierte Stundedes Nachmittags, kam Deborah nieder. Ihre ersten Schreie stießen inden Singsang der zwölf lernenden Kinder. Sie gingen alle nach Hause.Sieben Tage Ferien begannen. Mendel bekam ein neues Kind, ein viertes, einen Knaben. Acht Tage später wurde es beschnitten und Menuchim genannt.

Menuchim hatte keine Wiege. Er schwebte in einem Korb aus geflochtenen Weidenruten in der Mitte des Zimmers, mit vier Seilen an einemHaken im Plafond befestigt wie ein Kronleuchter. Mendel Singertippte von Zeit zu Zeit mit einem leichten, nicht lieblosen Finger anden hängenden Korb, der sofort anfing zu schaukeln. Diese Bewegungberuhigte den Säugling zuweilen. Manchmal aber half gar nichts gegenseine Lust, zu wimmern und zu schreien. Seine Stimme krächzte überden Stimmen der zwölf lernenden Kinder, profane, häßliche Lauteüber den heiligen Sätzen der Bibel. Deborah stieg auf einen Schemelund holte den Säugling herunter. Weiß, geschwellt und kolossal entquoll ihre Brust der offenen Bluse und zog die Blicke der Knabenübermächtig auf sich. Alle Anwesenden schien Deborah zu säugen.Ihre eigenen älteren drei Kinder umstanden sie, eifersüchtig und lüstern. Stille brach ein. Man hörte das Schmatzen des Säuglings.

Die Tage dehnten sich zu Wochen, die Wochen wuchsen sich zu Monaten aus, zwölf Monate machten ein Jahr. Menuchim trank immernoch die Milch seiner Mutter, eine schüttere, klare Milch. Sie konnteihn nicht absetzen. Im dreizehnten Monat seines Lebens begann er,Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen, in jagender Hastzu atmen und auf eine noch nie dagewesene Art zu keuchen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seinebreite Stirn fältelte und furchte sich kreuz und quer wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zweihölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stammelte sein Mund. Bekam er einen Anfall, so nahmman ihn aus der Wiege und schüttelte ihn ordentlich, bis sein Angesicht bläulich wurde und der Atem ihm beinah verging. Dann erholteer sich langsam. Man legte gebrühten Tee (in mehreren Säckchen) aufseine magere Brust und wickelte Huflattich um seinen dünnen Hals.,,Macht nichts”, sagte sein Vater, „es kommt vom Wachsen!” „Söhnegeraten nach den Brüdern der Mutter. Mein Bruder hat es fünf Jahregehabt!”, sagte die Mutter. „Man wächst sich aus!”, sprachen die andern. Bis eines Tages die Pocken in der Stadt ausbrachen, die BehördenImpfungen vorschrieben und die Ärzte in die Häuser der Juden drangen. Manche verbargen sich. Mendel Singer aber, der Gerechte, flohvor keiner Strafe Gottes. Auch der Impfung sah er getrost entgegen.

Es war an einem heißen, sonnigen Vormittag, an dem die Kommissiondurch Mendels Gasse kam. Das letzte in der Reihe der jüdischen Häuser war Mendels Haus. Mit einem Polizisten, der ein großes Buch imArm trug, ging der Doktor Soltysiuk mit wehendem, blondemSchnurrbart im braunen Angesicht, einen goldgeränderten Kneifer aufder geröteten Nase, mit breiten Schritten, in knarrend gelben Ledergamaschen und den Rock, der Hitze wegen, über die blaue Rubaschkalässig gehängt, daß die Ärmel wie noch ein paar Arme aussahen, dieebenfalls bereit schienen, Impfungen vorzunehmen: also kam derDoktor Soltysiuk in die Gasse der Juden. Ihm entgegen scholl dasWehklagen der Frauen und das Heulen der Kinder, die sich nicht hatten verbergen können. Der Polizist holte Frauen und Kinder aus tiefenKellern und von hohen Dachböden, aus kleinen Kämmerchen undgroßen Strohkörben. Die Sonne brütete, der Doktor schwitzte. Nichtweniger als hundertsechsundsiebzig Juden hatte er zu impfen. Für jeden Geflohenen und Unerreichbaren dankte er Gott im Stillen. Als erzum vierten der kleinen, blaugetünchten Häuschen gelangt war, gab erdem Polizisten einen Wink, nicht mehr eifrig zu suchen. Immer stärkerschwoll das Geschrei, je weiter der Doktor ging. Es wehte vor seinenSchritten einher. Das Geheul derjenigen, die sich noch fürchteten, verband sich mit dem Fluchen der bereits Geimpften. Müde und vollendsverwirrt ließ er sich in Mendels Stube mit einem schweren Stöhnen aufdie Bank nieder und verlangte ein Glas Wasser. Sein Blick fiel auf denkleinen Menuchim, er hob den Krüppel hoch und sagte: „Er wird einEpileptiker.” Angst goß er in des Vaters Herz. „Alle Kinder habenFraisen”, wandte die Mutter ein. „Das ist es nicht”, bestimmte derDoktor. „Aber ich könnte ihn vielleicht gesund machen. Es ist Lebenin seinen Augen.”

Gleich wollte er den Kleinen ins Krankenhaus mitnehmen. Schon warDeborah bereit. „Man wird ihn umsonst gesund machen”, sagte sie.Mendel aber erwiderte: „Sei still, Deborah! Gesund machen kann ihnkein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindernaufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen undHühner auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt? Wir sindarm, aber Menuchims Seele verkaufe ich nicht, nur weil seine Heilungumsonst sein kann. Man wird nicht geheilt in fremden Spitälern.” Wieein Held hielt Mendel seinen dürren, weißen Arm zum Impfen hin.Menuchim aber gab er nicht fort. Er beschloß, Gottes Hilfe für seinenJüngsten zu erflehen und zweimal in der Woche zu fasten, Montag undDonnerstag. Deborah nahm sich vor, auf den Friedhof zu pilgern unddie Gebeine der Ahnen anzurufen um ihre Fürsprache beim Allmächtigen. Also würde Menuchim gesund werden und kein Epileptiker.

Dennoch hing seit der Stunde der Impfung über dem Haus MendelSingers die Furcht wie ein Ungetüm, und der Kummer durchzog dieHerzen wie ein dauernder heißer und stechender Wind. Deborahdurfte seufzen, und ihr Mann wies sie nicht zurecht. Länger als sonsthielt sie ihr Angesicht in den Händen vergraben, wenn sie betete, alsschüfe sie sich eigene Nächte, die Furcht in ihnen zu begraben, undeigene Finsternisse, um zugleich die Gnade in ihnen zu finden. Dennsie glaubte, wie es geschrieben stand, daß Gottes Licht in den Dämmernissen aufleuchte und seine Güte das Schwarze erhelle. MenuchimsAnfälle aber hörten nicht auf. Die älteren Kinder wuchsen und wuchsen, ihre Gesundheit lärmte wie ein Feind Menuchims, des Kranken,böse in den Ohren der Mutter. Es war, als bezögen die gesunden Kinder Kraft von dem Siechen, und Deborah haßte ihr Geschrei, ihre roten Wangen, ihre geraden Gliedmaßen. Sie pilgerte zum Friedhofdurch Regen und Sonne. Sie schlug mit dem Kopf gegen die moosigenSandsteine, die aus den Gebeinen ihrer Väter und Mütter wuchsen. Siebeschwor die Toten, deren stumme, tröstende Antworten sie zu hörenvermeinte. Auf dem Heimweg zitterte sie vor Hoffnung, ihren Sohngesund wiederzufinden. Sie versäumte den Dienst am Herd, die Suppelief über, die tönernen Töpfe zerbrachen, die Kasserollen verrosteten,die grünlich schimmernden Gläser zersprangen mit hartem Knall, derZylinder der Petroleumlampe verfinsterte sich rußig, der Docht verkohlte kümmerlich zu einem Zäpfchen, der Schmutz vieler Sohlen undvieler Wochen überlagerte die Dielen des Bodens, das Schmalz imTopfe zerrann, die Knöpfe fielen dürr von den Hemden der Kinderwie Laub vor dem Winter.

Eines Tages, eine Woche vor den hohen Feiertagen (aus dem Sommerwar Regen geworden, und aus dem Regen wollte Schnee werden),packte Deborah den Korb mit ihrem Sohn, legte wollene Decken überihn, stellte ihn auf die Fuhre des Kutschers Sameschkin und reiste nachKluczysk, wo der Rabbi wohnte. Das Sitzbrett lag locker auf demStroh und rutschte bei jeder Bewegung des Wagens. Lediglich mit demGewicht ihres Körpers hielt Deborah es nieder, lebendig war es, hüpfen wollte es. Die schmale, gewundene Straße bedeckte der silbergraueSchlamm, in dem die hohen Stiefel der Vorüberkommenden versankenund die halben Räder der Fuhre. Der Regen verhüllte die Felder, zerstäubte den Rauch über den vereinzelten Hütten, zermahlte mitunendlicher, feiner Geduld alles Feste, auf das er traf, den Kalkstein,der hier und dort wie weißer Zahn aus der schwarzen Erde wuchs, diezersägten Stämme an den Rändern der Straße, die aufeinandergeschichteten, duftenden Bretter vor dem Eingang zur Sägemühle, auchdas Kopftuch Deborahs und die wollenen Decken, unter denen Menuchim begraben lag. Kein Tröpfchen sollte ihn benetzen. Deborah berechnete, daß sie noch vier Stunden zu fahren hatte; hörte der Regennicht auf, mußte sie vor der Herberge halten und die Decken trocknen,einen Tee trinken und die mitgenommenen, ebenfalls schon durchweichten Mohnbrezeln verzehren. Das konnte fünf Kopeken kosten,fünf Kopeken, mit denen man nicht leichtsinnig umgehen darf. Gotthatte ein Einsehen, es hörte zu regnen auf. Über hastigen Wolkenfetzen bleichte eine zerronnene Sonne, eine Stunde kaum; in einemneuen, tieferen Dämmer versank sie endgültig.

Die schwarze Nacht lagerte in Kluczysk, als Deborah ankam. Vieleratlose Menschen waren bereits gekommen, den Rabbi zu sehn. Kluczysk bestand aus ein paar tausend niedrigen, stroh-- und schindelgedeckten Häusern, einem kilometerweiten Marktplatz, der wie eintrockener See war, umkränzt von Gebäuden. Die Fuhrwerke, die inihm herumstanden, erinnerten an steckengebliebene Wracks; übrigensverloren sie sich, winzig und sinnlos, in der kreisrunden Weite. Dieausgespannten Pferde wieherten neben den Fuhrwerken und traten mitmüden, klatschenden Hufen den klebrigen Schlamm. Einzelne Männerirrten mit schwankenden, gelben Laternen durch die runde Nacht, einevergessene Decke zu holen und ein klirrendes Geschirr mit Mundvorrat. Ringsum, in den tausend kleinen Häuschen, waren Ankömmlingeuntergebracht. Sie schliefen auf Pritschen neben den Betten der Einheimischen, die Siechen, die Krummen, die Lahmen, die Wahnsinnigen,die Idiotischen, die Herzschwächen, die Zuckerkranken, die denKrebs im Leibe trugen, deren Augen mit Trachom verseucht waren,Frauen mit unfruchtbarem Schoß, Mütter mit mißgestalteten Kindern,Männer, denen Gefängnis oder Militärdienst drohte, Deserteure, dieum eine geglückte Flucht baten, von Ärzten Aufgegebene, von derMenschheit Verstoßene, von der irdischen Gerechtigkeit Mißhandelte,Bekümmerte, Sehnsüchtige, Verhungernde und Satte, Betrüger undEhrliche, alle, alle, alle...

Deborah wohnte bei Kluczysker Verwandten ihres Mannes. Sie schliefnicht. Die ganze Nacht kauerte sie neben dem Korb Menuchims in derEcke, neben dem Herd; finster war das Zimmer, finster war ihr Herz.Sie wagte nicht mehr, Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß,zu weit, unendlich hinter unendlichen Himmeln, eine Leiter aus Millionen Gebeten hätte sie haben müssen, um einen Zipfel von Gott zuerreichen. Sie suchte nach toten Gönnern, rief die Eltern an, den Großvater Menuchims, nach dem der Kleine hieß, dann die Erzväter derJuden, Abraham, Isaak und Jakob, die Gebeine Mosis und zum Schlußdie Erzmütter. Wo immer eine Fürsprach möglich war, schickte sieeinen Seufzer vor. Sie pochte an hundert Gräber, an hundert Türen desParadieses. Vor Angst, daß sie morgen den Rabbi nicht erreichenwürde, weil zu viel Bittende da waren, betete sie zuerst um das Glück,rechtzeitig Vordringen zu können, als wäre die Gesundung ihres Sohnes dann schon ein Kinderspiel. Endlich sah sie durch die Ritzen derschwarzen Fensterläden ein paar fahle Streifen des Morgens. Schnellerhob sie sich. Sie zündete die trockenen Kienspäne an, die auf demHerd lagen, suchte und fand einen Topf, holte den Samowar vomTisch, warf die brennenden Späne hinein, schüttete Kohle nach, faßtedas Gefäß an beiden Henkeln, bückte sich und blies hinein, daß dieFunken herausstoben und um ihr Angesicht knisterten. Es war, alshandelte sie nach einem geheimnisvollen Ritus. Bald siedete das Wasser, bald kochte der Tee, die Familie erhob sich, sie setzten sich vorirdene, braune Geschirre und tranken. Da hob Deborah ihren Sohnaus dem Korb. Er winselte. Sie küßte ihn schnell und viele Male, miteiner rasenden Zärtlichkeit, ihre feuchten Lippen knallten auf dasgraue Angesicht, die dürren Händchen, die krummen Schenkel, denaufgedunsenen Bauch des Kleinen, es war, als schlüge sie das Kind mitihrem liebenden mütterlichen Mund. Hierauf packte sie ihn ein,schnürte einen Strick um das Paket und hängte sich ihren Sohn um denHals, damit ihre Hände frei würden. Platz wollte sie sich schaffen imGedränge vor der Tür des Rabbi.

Mit scharfem Heulen stürzte sie sich in die Menge der Wartenden, mitgrausamen Fäusten drängte sie Schwache auseinander, niemand konntesie aufhalten. Wer immer, von ihrer Hand getroffen und weggerückt,sich nach ihr umsah, um sie zurückzuweisen, war geblendet von dembrennenden Schmerz in ihrem Angesicht, ihrem offenen roten Mund,aus dem ein sengender Hauch zu strömen schien, von dem kristallenenLeuchten der großen, rollenden Tränen, von den Wangen, die in hellroten Flammen standen, von den dicken blauen Adern am gerecktenHals, in denen sich die Schreie sammelten, ehe sie ausbrachen. Wieeine Fackel wehte Deborah einher. Mit einem einzigen grellen Schrei,hinter dem die grauenhafte Stille einer ganzen gestorbenen Welt einstürzte, fiel Deborah vor der endlich erreichten Tür des Rabbi nieder,die Klinke in der gereckten Rechten. Mit der Linken trommelte siegegen das braune Holz. Menuchim schleifte vor ihr her am Boden.

Jemand machte die Tür auf. Der Rabbi stand am Fenster, er kehrte ihrden Rücken, ein schwarzer, schmaler Strich. Plötzlich wandte er sichum. Sie blieb an der Schwelle, auf beiden Armen bot sie ihren Sohndar, wie man ein Opfer bringt. Sie erhaschte einen Schimmer von dembleichen Angesicht des Mannes, das eins zu sein schien mit seinemweißen Bart. Sie hatte sich vorgenommen, in die Augen des Heiligenzu sehen, um sich zu überzeugen, daß wirklich in ihnen die mächtigeGüte lebe. Aber nun sie hier stand, lag ein See von Tränen vor ihremBlick, und sie sah den Mann hinter einer weißen Welle aus Wasser undSalz. Er hob die Hand, zwei dürre Finger glaubte sie zu erkennen,Instrumente des Segens. Aber ganz nah hörte sie die Stimme desRabbi, obwohl er nur flüsterte:

„Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Seinesgleichen wirdes nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, dieHäßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. SeineAugen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall.Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht, und geh nach Haus!”

„Wann, wann, wann wird er gesund werden?”, flüsterte Deborah.

„Nach langen Jahren”, sagte der Rabbi, „aber frage mich nicht weiter,ich habe keine Zeit, und ich weiß nicht mehr. Verlaß deinen Sohnnicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir,er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind. Und geh!”...

Draußen machte man ihr Platz. Ihre Wangen waren blaß, ihre Augentrocken, ihre Lippen leicht geöffnet, als atmeten sie lauter Hoffnung.Gnade im Herzen, kehrte sie heim.

II

Als Deborah heimkehrte, traf sie ihren Mann am Herd. Unwillig besorgte er das Feuer, den Topf, die hölzernen Löffel. Sein gerader Sinnwar auf die einfachen, irdischen Dinge gerichtet und vertrug keinWunder im Bereich der Augen. Er lächelte über den Glauben seinerFrau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner vermittelnden Gewalt zwischen Gott und den Menschen. „Menuchimwird gesund werden, aber es wird lange dauern!” Mit diesen Wortenbetrat Deborah das Haus. „Es wird lange dauern!”, wiederholte Mendel wie ein böses Echo. Deborah hängte seufzend den Korb wieder anden Plafond. Die älteren drei Kinder kamen vom Spiel. Sie fielen überden Korb her, den sie schon einige Tage vermißt hatten, und ließen ihnheftig pendeln. Mendel Singer ergriff mit beiden Händen seine Söhne,Jonas und Schemarjah. Mirjam, das Mädchen, flüchtete zur Mutter.Mendel kniff seine Söhne in die Ohren. Sie heulten auf. Er schnallteden Hosengurt ab und schwang ihn durch die Luft. Als gehörte dasLeder noch zu seinem Körper, als wäre es die natürliche Fortsetzungseiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden klatschenden Schlag, der dieRücken seiner Söhne traf. Ein unheimliches Getöse brach los in seinemKopf. Die warnenden Schreie seiner Frau fielen in seinen eigenenLärm, unbedeutend vergingen sie darin. Es war, als schüttete man Gläser Wasser in ein aufgeregtes Meer.

Er fühlte nicht, wo er stand. Er wirbelte mit dem schwingenden, knallenden Gürtel umher, traf die Wände, den Tisch, die Bänke und wußtenicht, ob ihn die verfehlten Schläge mehr freuten oder die gelungenen.Endlich klang es drei von der Wanduhr, die Stunde, in der sich dieSchüler am Nachmittag versammelten. Mit leerem Magen — denn erhatte nichts gegessen —, die würgende Aufregung noch in der Kehle,begann Mendel, Wort für Wort, Satz für Satz aus der Bibel vorzutragen. Der helle Chor der Kinderstimmen wiederholte Wort für Wort,Satz für Satz, es war, als würde die Bibel von vielen Glocken geläutet.Wie Glocken schwangen auch die Oberkörper der Lernenden vorwärts und zurück, indes über den Köpfen der Korb Menuchims fast ingleichem Rhythmus pendelte. Heute nahmen Mendels Söhne am Unterricht teil. Des Vaters Zorn versprühte, erkaltete, erlosch, weil sie imklingenden Vorsagen den andern voran waren. Um sie zu erproben,verließ er die Stube. Der Chor der Kinder läutete weiter, angeführt vonden Stimmen der Söhne. Er konnte sich auf sie verlassen.

Jonas, der ältere, war stark wie ein Bär, Schemarjah, der jüngere, warschlau wie ein Fuchs. Stampfend trottete Jonas einher, mit vorgeneigtem Kopf, mit hängenden Händen, strotzenden Backen, ewigem Hunger, gekräuseltem Haar, das heftig über die Ränder der Mütze wucherte. Sanft und beinahe schleichend, mit spitzem Profil, immerwachen, hellen Augen, dünnen Armen, in der Tasche vergrabenenHänden, folgte ihm sein Bruder Schemarjah. Niemals brach ein Streitzwischen ihnen aus, zu ferne waren sie einander, getrennt waren ihreReiche und Besitztümer, sie hatten ein Bündnis geschlossen. AusBlechdosen, Zündholzschachteln, Scherben, Hörnern, Weidenrutenverfertigte Schemarjah wunderbare Sachen. Jonas hätte sie mit seinemstarken Atem umblasen und vernichten können. Aber er bewundertedie zarte Geschicklichkeit seines Bruders. Seine kleinen, schwarzenAugen blinkten wie Fünkchen zwischen seinen Wangen, neugierig undheiter.

Einige Tage nach ihrer Rückkehr erachtete Deborah die Zeit für gekommen, Menuchims Korb vom Plafond abzuknöpfen. Nicht ohneFeierlichkeit übergab sie den Kleinen den älteren Kindern. „Ihr werdetihn spazierenführen!” sagte Deborah. „Wenn er müde wird, werdet ihrihn tragen. Laßt ihn Gott behüte nicht fallen! Der heilige Mann hatgesagt, er wird gesund. Tut ihm kein Weh.” Von nun an begann diePlage der Kinder.

Sie schleppten Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt, sie ließenihn liegen, sie ließen ihn fallen. Sie ertrugen den Hohn der Altersgenossen schwer, die hinter ihnen herliefen, wenn sie Menuchim spazierenführten. Der Kleine mußte zwischen zweien gehalten werden. Ersetzte nicht einen Fuß vor den andern wie ein Mensch. Er wackelte mitseinen Beinen wie mit zwei zerbrochenen Reifen, er blieb stehen, erknickte ein. Schließlich ließen ihn Jonas und Schemarjah liegen. Sielegten ihn in eine Ecke, in einen Sack. Dort spielte er mit Hundekot,Pferdeäpfeln, Kieselsteinen. Er fraß alles. Er kratzte den Kalk von denWänden und stopfte sich den Mund voll, hustete dann und wurde blauim Angesicht. Ein Stück Dreck, lagerte er im Winkel. Manchmal finger an zu weinen. Die Knaben schickten Mirjam zu ihm, damit sie ihntröste. Zart, kokett, mit hüpfenden dünnen Beinen, einen häßlichenund hassenden Abscheu im Herzen, näherte sie sich ihrem lächerlichenBruder. Die Zärtlichkeit, mit der sie sein aschgraues, verknittertes Angesicht streichelte, hatte etwas Mörderisches. Sie sah sich vorsichtigum, nach rechts und links, dann kniff sie ihren Bruder in den Schenkel.Er heulte auf, Nachbarn sahen aus den Fenstern. Sie verzerrte das Angesicht zur weinerlichen Grimasse. Alle Menschen hatten Mitleid mitihr und fragten sie aus.

Eines Tages im Sommer, es regnete, schleppten die Kinder Menuchimaus dem Haus und steckten ihn in den Bottich, in dem sich Regenwasser seit einem halben Jahr gesammelt hatte, Würmer herumschwammen, Obstreste und verschimmelte Brotrinden. Sie hielten ihn an denkrummen Beinen und stießen seinen grauen, breiten Kopf ein dutzendmal ins Wasser. Dann zogen sie ihn heraus, mit klopfenden Herzen, roten Wangen, in der freudigen und grausigen Erwartung, einenToten zu halten. Aber Menuchim lebte. Er röchelte, spuckte das Wasser aus, die Würmer, das verschimmelte Brot, die Obstreste und lebte.Nichts geschah ihm. Da trugen ihn die Kinder schweigsam und vollerAngst ins Haus zurück. Eine große Furcht vor Gottes kleinem Finger,der eben ganz leise gewinkt hatte, ergriff die zwei Knaben und dasMädchen. Den ganzen Tag sprachen sie nicht zueinander. Ihre Zungenlagen gefesselt an den Gaumen, ihre Lippen öffneten sich, ein Wort zuformen, aber kein Ton bildete sich in ihren Kehlen. Es hörte zu regnenauf, die Sonne erschien, die Bächlein flössen munter an den Rändernder Straßen. Es wäre an der Zeit gewesen, die Papierschiffchen loszulassen und zuzusehen, wie sie dem Kanal entgegenschwimmen. Abergar nichts geschah. Die Kinder krochen ins Haus zurück wie Hunde.Den ganzen Nachmittag noch warteten sie auf den Tod Menuchims.Menuchim starb nicht.

Menuchim starb nicht, er blieb am Leben, ein mächtiger Krüppel. Vonnun an war der Schoß Deborahs trocken und fruchtlos. Menuchim wardie letzte, mißratene Frucht ihres Leibes, es war, als weigerte sich ihrSchoß, noch mehr Unglück hervorzubringen. In flüchtigen Sekundenumarmte sie ihren Mann. Sie waren kurz wie Blitze, trockene Blitzeam fernen, sommerlichen Horizont. Lang, grausam und ohne Schlafwaren Deborahs Nächte. Eine Wand aus kaltem Glas trennte sie vonihrem Mann. Ihre Brüste welkten, ihr Leib schwoll an wie ein Hohnauf ihre Unfruchtbarkeit, ihre Schenkel wurden schwer, und Blei hingan ihren Füßen.

Eines Morgens im Sommer erwachte sie früher als Mendel. Ein zwitschernder Sperling am Fensterbrett hatte sie geweckt. Noch lag ihr seinPfiff im Ohr, Erinnerung an Geträumtes, Glückliches, wie die Stimmeeines Sonnenstrahls. Die frühe, warme Dämmerung durchdrang diePoren und Ritzen der hölzernen Fensterläden, und obwohl die Kantender Möbel noch im Schatten der Nacht verrannen, war Deborahs Augeschon klar, ihr Gedanke hart, ihr Herz kühl. Sie warf einen Blick aufden schlafenden Mann und entdeckte die ersten weißen Haare in seinem schwarzen Bart. Er räusperte sich im Schlaf. Er schnarchte.Schnell sprang sie vor den blinden Spiegel. Sie fuhr mit kalten, strählenden Fingerspitzen durch ihren schütteren Scheitel, zog eine Strähnenach der andern vor die Stirn und suchte nach weißen Haaren. Sieglaubte, ein einziges gefunden zu haben, ergriff es mit einer hartenZange aus zwei Fingern und riß es aus. Dann öffnete sie ihr Hemd vordem Spiegel. Sie sah ihre schlaffen Brüste, hob sie hoch, ließ sie fallen,strich mit der Hand über den hohlen und dennoch gewölbten Leib, sahdie blauen verzweigten Adern an ihren Schenkeln und beschloß, wieder ins Bett zu gehen. Sie wandte sich um, und ihr Blick stieß erschrocken auf das geöffnete Auge ihres Mannes. „Was schaust du?”, rief sie.Er antwortete nicht. Es war, als gehörte das offene Auge nicht ihm,denn er selbst schlief noch. Unabhängig von ihm hatte es sich geöffnet.Selbständig neugierig war es geworden. Das Weiße des Auges schienweißer als gewöhnlich. Die Pupille war winzig. Das Auge erinnerteDeborah an einen vereisten See mit einem schwarzen Punkt darinnen.Es konnte kaum eine Minute offen gewesen sein, aber Deborah hieltdiese Minute für ein Jahrzehnt. Mendels Auge schloß sich wieder. Eratmete ruhig weiter, er schlief, ohne Zweifel. Ein fernes Trillern vonMillionen Lerchen erhob sich draußen, über dem Haus, unter denHimmeln. Schon drang die anbrechende Hitze des jungen Tages in denmorgendlich verdunkelten Raum. Bald mußte die Uhr sechs Schlägeschlagen, die Stunde, in der Mendel Singer aufzustehen pflegte. Deborah rührte sich nicht. Sie blieb stehen, wo sie gestanden war, als sie sichwieder dem Bett zugewandt hatte, den Spiegel im Rücken. Nie hattesie so stehend gelauscht, ohne Zweck, ohne Not, ohne Neugier, ohneLust. Sie wartete auf gar nichts. Aber es schien ihr, daß sie auf etwasBesonderes warten müßte. Alle ihre Sinne waren wach wie nie, undnoch ein paar unbekannte, neue Sinne waren erwacht, zur Unterstützung der alten. Sie sah, hörte, fühlte tausendfach. Und gar nichts geschah. Nur ein Sommermorgen brach an, nur Lerchen trillerten in unerreichbarer Ferne, nur Sonnenstrahlen zwängten sich mit heißer Gewalt durch die Ritzen der Läden, und die breiten Schatten an den Rändern der Möbelstücke wurden schmäler und schmäler, und die Uhrtickte und holte zu sechs Schlägen aus, und der Mann atmete. Lautloslagen die Kinder in der Ecke neben dem Herd, Deborah sichtbar, aberweit, wie in einem andern Raum. Gar nichts geschah. Dennoch schienUnendliches geschehen zu wollen. Die Uhr schlug wie eine Erlösung.Mendel Singer erwachte, setzte sich gerade im Bett auf und starrte verwundert auf seine Frau. „Warum bist du nicht im Bett?”, fragte er undrieb sich die Augen. Er hustete und spuckte aus. Gar nichts an seinenWorten und an seinem Gehaben verriet, daß sein linkes Auge offengewesen war und selbständig geschaut hatte. Vielleicht wußte er nichtsmehr, vielleicht hatte sich Deborah getäuscht.

Seit diesem Tage hörte die Lust auf zwischen Mendel Singer und seinerFrau. Wie zwei Menschen gleichen Geschlechts gingen sie schlafen,durchschliefen sie die Nächte, erwachten sie des Morgens. Sie schämten sich voreinander und schwiegen wie in den ersten Tagen ihrer Ehe.Die Scham stand am Beginn ihrer Lust, und am Ende ihrer Lust standsie auch.

Dann war auch sie überwunden. Sie redeten wieder, ihre Augen wichen nicht mehr einander aus, im gleichen Rhythmus alterten ihre Gesichter und ihre Leiber wie Gesichter und Leiber von Zwillingen. DerSommer war träge und schweren Atems und arm an Regen. Tür undFenster standen offen. Die Kinder waren selten zu Haus. Draußenwuchsen sie schnell, von der Sonne befruchtet.

Sogar Menuchim wuchs. Seine Beine blieben zwar gekrümmt, aber siewurden ohne Zweifel länger. Auch sein Oberkörper streckte sich.Plötzlich, eines Morgens, stieß er einen nie gehörten, schrillen Schreiaus. Dann blieb er still. Eine Weile später sagte er, klar und vernehmlich: „Mama.”

Deborah stürzte sich auf ihn, und aus ihren Augen, die lange schontrocken gewesen waren, flossen die Tränen, heiß, stark, groß, salzig,schmerzlich und süß. „Sag Mama!” „Mama”, wiederholte der Kleine.Ein dutzendmal wiederholte er das Wort. Hundertmal wiederholte esDeborah. Nicht vergeblich waren ihre Bitten geblieben. Menuchimsprach. Und dieses eine Wort der Mißgeburt war erhaben wie eineOffenbarung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädigwie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wieeine süße Frucht. Es war mehr als die Gesundheit der gesunden Kinder. Es bedeutete, daß Menuchim stark und groß, weise und gütig werden sollte, wie die Worte des Segens gelautet hatten.

Allerdings: Noch andere verständliche Laute kamen nicht mehr ausMenuchims Kehle. Lange Zeit bedeutete dieses eine Wort, das er nachso schrecklichem Schweigen zustande gebracht hatte, Essen und Trinken, Schlafen und Lieben, Lust und Schmerz, Himmel und Erde. Obwohl er nur dieses Wort bei jeder Gelegenheit sagte, erschien er seinerMutter Deborah beredt wie ein Prediger und reich an Ausdruck wieein Dichter. Sie verstand jedes Wort, das sich in dem einen verbarg.Sie vernachlässigte die älteren Kinder. Sie wandte sich von ihnen ab.Sie hatte nur einen Sohn, den einzigen Sohn: Menuchim.

III

Vielleicht brauchen Segen eine längere Zeit zu ihrer Erfüllung als Flüche. Zehn Jahre waren vergangen, seitdem Menuchim sein erstes undeinziges Wort ausgesprochen hatte. Er konnte immer noch kein anderes sagen.

Manchmal, wenn Deborah mit ihrem kranken Sohn allein im Hausewar, schob sie den Riegel vor, setzte sich neben Menuchim auf denBoden und sah dem Kleinen starr ins Angesicht. Sie erinnerte sich anden fürchterlichen Tag im Sommer, an dem die Gräfin vor der Kirchevorgefahren war. Deborah sieht das offene Portal der Kirche. Ein goldener Glanz von tausend Kerzen, von bunten, lichtumkranzten Bildern, von drei Geistlichen im Ornat, die tief und fern am Altar stehen,mit schwarzen Bärten und weißen, schwebenden Händen, dringt inden weiß besonnten, staubigen Platz. Deborah ist im dritten Monat.Menuchim regt sich in ihrem Leib, die kleine, zarte Mirjam hält sie festan der Hand. Auf einmal erhebt sich Geschrei. Es übertönt den Gesang der Beter in der Kirche. Man hört das schnalzende Getrappel derPferde, eine Staubwolke wirbelt auf, die dunkelblaue Equipage derGräfin hält vor der Kirche. Die Bauernkinder jubeln. Die Bettler undBettlerinnen auf den Stufen humpeln der Kalesche entgegen, um derGräfin die Hände zu küssen. Auf einmal reißt sich Mirjam los. Im Nuist sie verschwunden. Deborah zittert, sie friert, mitten in der Hitze.Wo ist Mirjam? Sie fragt jedes Bauernkind. Die Gräfin ist ausgestiegen.Deborah tritt ganz nah an die Kalesche. Der Kutscher mit den silbernen Knöpfen in der dunkelblauen Livree sitzt so hoch, daß er allesübersehen kann. „Haben Sie die kleine Schwarze laufen gesehen?”,fragt Deborah, den Kopf emporgereckt, die Augen geblendet vomGlanz der Sonne und des Livrierten. Der Kutscher zeigt mit seinerweiß behandschuhten Linken in die Kirche. Da hinein ist Mirjam gelaufen.

Deborah überlegt einen Augenblick, dann stürzt sie sich in die Kirche,hinein in den goldenen Glanz, in den vollen Gesang, in das Brausender Orgel. Im Eingang steht Mirjam. Deborah ergreift das Kind,schleppt es auf den Platz, rennt die heißen, weiß glühenden Stufenhinunter, flüchtet wie vor einem Brand. Sie will das Kind schlagen,aber sie hat Angst.

Sie rennt, das Kind hinter sich her ziehend, in eine Gasse. Nun ist sieruhiger. „Du darfst dem Vater nichts davon erzählen”, keucht sie.,,Hörst du, Mirjam?”

Seit diesem Tage weiß Deborah, daß ein Unglück im Anzug ist. EinUnglück trägt sie im Schoß. Sie weiß es und schweigt. Sie schiebt denRiegel wieder zurück, es klopft an der Tür, Mendel ist da.

Früh ergraut ist sein Bart. Früh verwelkt waren auch Angesicht, Körper und Hände Deborahs. Stark und langsam wie ein Bär war der älteste Sohn Jonas, schlau und hurtig wie ein Fuchs der jüngere Schemarjah, kokett und gedankenlos wie eine Gazelle die Schwester Mirjam.So wie sie durch die Gassen huschte, Botengänge zu besorgen, schlankund schmal, ein schimmernder Schatten, ein braunes Gesicht, ein großer roter Mund, ein goldgelber Schal, unter dem Kinn in zwei wehende Flügel geknotet, und die zwei alten Augen mitten in der braunen Jugend des Angesichts, so fiel sie in die Blickfelder der Offizierevon der Garnison und blieb haften in ihren sorglosen, lustsüchtigenKöpfen. Mancher stellte ihr manchmal nach. Nichts anderes nahm sievon ihren Jägern zur Kenntnis, als was sie durch die äußeren Tore derSinne gerade nachschicken konnte: ein silbernes Klirren und Rasselnvon Sporen und Wehr, einen verwehenden Duft von Pomade und Rasierseife, einen knalligen Schimmer von goldenen Knöpfen, silbernenBorten und blutroten Riemen aus Juchten. Es war wenig, es war genug. Gleich hinter den äußeren Toren ihrer Sinne lauerte die Neugierin Mirjam, die Schwester der Jugend, die Künderin der Lust. In einersüßen und heißen Furcht floh das Mädchen vor seinen Verfolgern.Nur um den schmerzlichen, erregenden Genuß der Furcht auszukosten, floh es durch mehr Gassen, viele Minuten länger. Es flüchteteauf Umwegen. Nur um wieder fliehen zu können, ging Mirjam häufiger, als nötig war, aus dem Haus. An den Straßenecken hielt sie einund warf Blicke zurück, Lockspeise den Jägern. Es waren Mirjamseinzige Genüsse. Selbst wenn jemand vorhanden gewesen wäre, der sieverstanden hätte, ihr Mund wäre verschlossen geblieben. Denn die Genüsse sind stärker, solange sie geheim bleiben.

Noch wußte Mirjam nicht, in welch drohende Beziehung sie zu derfremden und schrecklichen Welt des Militärs treten sollte und wieschwer die Schicksale waren, die sich bereits zu sammeln begannenüber den Häuptern Mendel Singers, seiner Frau und seiner Kinder.Denn Jonas und Schemarjah waren schon in dem Alter, in dem sienach dem Gesetz zu den Soldaten sollten und nach der Tradition ihrerVäter sich vor dem Dienst retten mußten. Andern Jünglingen hatte eingnädiger und vorsorglicher Gott ein körperliches Gebrechen mitgegeben, das sie wenig behinderte und vor dem Bösen beschützte. Manchewaren einäugig, manche hinkten, der hatte einen Leistenbruch, jenerzuckte ohne Grund mit den Armen und Beinen, einige hatten schwache Lungen, andere schwache Herzen, einer hörte schlecht und einanderer stotterte, und ein dritter hatte ganz einfach eine allgemeineKörperschwäche.

In der Familie Mendel Singers aber schien es, als hätte der kleine Menuchim die ganze Anzahl menschlicher Qualen auf sich genommen,die sonst vielleicht eine gütige Natur sachte auf alle Mitglieder verteilthätte. Mendels ältere Söhne waren gesund, kein Fehler konnte an ihrem Körper entdeckt werden, und sie mußten anfangen, sich zu plagen, zu fasten und schwarzen Kaffee zu trinken und wenigstens aufeine vorübergehende Herzschwäche hoffen, obwohl der Krieg gegenJapan schon beendet war.

Und also begannen ihre Plagen. Sie aßen nicht, sie schliefen nicht, sietorkelten schwach und zitternd durch Tage und Nächte. Ihre Augenwaren gerötet und geschwollen, ihre Hälse mager und ihre Köpfeschwer. Deborah liebte sie wieder. Für ihre älteren Söhne zu beten,pilgerte sie noch einmal zum Friedhof. Diesmal betete sie um eineKrankheit für Jonas und Schemarjah, wie sie früher um die GesundheitMenuchims gefleht hatte. Das Militär erhob sich vor ihrem bekümmerten Aug’ wie ein schwerer Berg aus glattem Eisen und klirrenderMarter. Leichen sah sie, lauter Leichen. Hoch und schimmernd, diegespornten Füße im roten Blut, saß der Zar und wartete auf das Opferihrer Söhne. Sie gingen ins Manöver, schon dies allein war ihr dergrößte Schrecken, an einen neuen Krieg dachte sie nicht einmal. Siezürnte ihrem Mann. Mendel Singer, was war er? Ein Lehrer, ein dummer Lehrer dummer Kinder. Sie hatte anderes im Sinn gehabt, als sienoch ein Mädchen gewesen war. Mendel Singer indessen trug nichtleichter am Kummer als seine Frau. Am Sabbat in der Synagoge, wenndas gesetzlich vorgeschriebene Gebet für den Zaren abgehalten wurde,dachte Mendel an die nächste Zukunft seiner Söhne. Schon sah er sie inder verhaßten Drillichuniform frischer Rekruten. Sie aßen Schweinefleisch und wurden von Offizieren mit der Reitpeitsche geschlagen. Sietrugen Gewehre und Bajonette. Er seufzte oft ohne erdenklichenGrund, mitten im Beten, mitten im Unterricht, mitten im Schweigen.Sogar Fremde sahen ihn bekümmert an. Nach seinem kranken Sohnhatte ihn niemals jemand gefragt, aber nach seinen gesunden Söhnenerkundigten sich alle.

Am sechsundzwanzigsten März, endlich, fuhren die beiden Brüdernach Targi. Sie zogen beide das Los. Beide waren tadellos und gesund.Beide wurden genommen.

Noch einen Sommer durften sie zu Hause verbringen. Im Herbst sollten sie einrücken. An einem Mittwoch waren sie Soldaten geworden.Am Sonntag kehrten sie heim.

Am Sonntag kehrten sie heim, mit Freikarten des Staates ausgerüstet.Schon reisten sie auf Kosten des Zaren. Viele ihresgleichen fuhren mitihnen. Es war ein langsamer Zug. Sie saßen auf hölzernen Bänken unter Bauern. Die Bauern sangen und waren betrunken. Alle rauchtenden schwarzen Tabak, in dessen Rauch noch eine ferne Erinnerung anSchweiß mitduftete. Alle erzählten einander Geschichten. Jonas undSchemarjah trennten sich nicht für einen Augenblick. Es war ihre ersteReise mit der Eisenbahn. Oft tauschten sie die Plätze. Jeder von ihnenwollte ein wenig am Fenster sitzen und in die Landschaft sehen. Ungeheuer weit erschien Schemarjah die Welt. Flach war sie in Jonas’ Augen, sie langweilte ihn. Der Zug fuhr glatt durch das flache Land wieein Schlitten über Schnee. Die Felder lagen in den Fenstern. Die bunten Bäuerinnen winkten. Wo sie in Gruppen auf tauchten, antworteteihnen im Waggon ein dröhnendes Geheul der Bauern. Schwarz,schüchtern und bekümmert saßen die zwei Juden unter ihnen, in die Ecke gedrängt vom Übermut der Trunkenen.

„Ich möchte ein Bauer sein”, sagte plötzlich Jonas.

„Ich nicht”, erwiderte Schemarjah.

„Ich möchte ein Bauer sein”, wiederholte Jonas, „ich möchte betrunken sein und mit den Mädchen da schlafen.”

„Ich will sein, was ich bin”, sagte Schemarjah, „ein Jude wie meinVater Mendel Singer, kein Soldat und nüchtern.”

„Ich freue mich ein bißchen, daß ich Soldat werde”, sagte Jonas.

„Du wirst schon deine Freuden erleben! Ich möchte lieber ein reicherMann sein und das Leben sehen.”

„Was ist das Leben?”

„Das Leben”, erklärte Schemarjah, „ist in großen Städten zu sehen. DieBahnen fahren mitten durch die Straßen, alle Läden sind so groß wiebei uns die Gendarmerie-Kaserne, und die Schaufenster sind noch größer. Ich habe Ansichtskarten gesehen. Man braucht keine Tür, um inein Geschäft zu treten, die Fenster reichen bis zu den Füßen.”

„He, warum seid ihr so betrübt?”, rief plötzlich ein Bauer aus der gegenüberliegenden Ecke.

Jonas und Schemarjah taten, als hörten sie ihn nicht oder als gelte nichtihnen seine Frage. Sich taub stellen, wenn ein Bauer sie anredete, dashatten sie im Blut. Seit tausend Jahren ging es niemals gut aus, wennein Bauer fragte und ein Jude antwortete.

„He!”, sagte der Bauer und erhob sich.

Jonas und Schemarjah standen gleichzeitig auf.

„Ja, zu euch, Juden, hab’ ich gesprochen”, sagte der Bauer. „Habt ihrnoch nichts getrunken?”

„Haben schon getrunken”, sagte Schemarjah.

„Ich nicht”, sagte Jonas.

Der Bauer holte eine Flasche hervor, die er unter der Joppe, an derBrust, getragen hatte. Sie war warm und schlüpfrig und roch nach demBauern stärker als nach ihrem Inhalt. Jonas setzte sie an den Mund. Erentblößte die blutroten, vollen Lippen, man sah zu beiden Seiten derbraunen Flasche die weißen, starken Zähne. Jonas trank und trank. Erspürte nicht die leichte Hand des Bruders, die ihn mahnend am Ärmelberührte. Mit beiden Händen, einem riesigen Säugling ähnlich, hielt erdie Flasche. An seinen emporgereckten Ellenbogen schimmerte weißlich das Hemd durch den zerriebenen, dünnen Stoff. Regelmäßig, wieein Kolben an einer Maschine, stieg und sank sein Adamsapfel unterder Haut des Halses. Ein leises, ersticktes Gurgeln grollte aus seinerKehle. Alle sahen zu, wie der Jude trank.

Jonas war fertig. Die leere Flasche fiel ihm aus den Händen und seinemBruder Schemarjah in den Schoß. Er selbst sank ihr nach, als müßte erden gleichen Weg nehmen wie sie. Der Bauer streckte die Hand ausund erbat stumm die Flasche von Schemarjah wieder. Dann liebkosteer mit dem Stiefel ein wenig die breiten Schultern des schlafenden Jonas.

Sie erreichten Podworsk, hier mußten sie aussteigen. Bis nach Jurkiwaren es sieben Werst, zu Fuß sollten die Brüder wandern, wer weiß,ob sie unterwegs jemand auf den Wagen nehmen würde. Alle Reisenden halfen, den schweren Jonas aufrichten. Als er draußen stand, wurdeer wieder nüchtern.

Sie wanderten. Es war Nacht. Den Mond ahnten sie hinter milchigemGewölk. Auf den Schneefeldern dunkelten einzelne unregelmäßigkonturierte Erdflecken wie Kratermünder. Der Frühling schien ausdem Wald einherzuwehen. Jonas und Schemarjah gingen schnell aufeinem schmalen Weg. Sie hörten das zarte Knistern der dünnen, spröden Eishülle unter ihren Stiefeln. Ihre weißen, rundlichen Bündel trugen sie geschultert an Stöcken. Einige Male versuchte Schemarjah, einGespräch mit seinem Bruder anzufangen. Jonas antwortete nicht. Erschämte sich, weil er getrunken hatte und hingefallen war wie einBauer. An den Stellen, an denen der Pfad so schmal war, daß beideBrüder nicht nebeneinandergehen konnten, ließ Jonas dem jüngerenden Vortritt. Am liebsten hätte er Schemarjah vor sich hergehen lassen.Wo der Weg wieder breiter wurde, verlangsamte er den Schritt in derHoffnung, Schemarjah würde weitergehen, ohne auf den Bruder zuwarten. Aber es war, als fürchtete der jüngere, den älteren zu verlieren.Seitdem er gesehen hatte, daß Jonas betrunken sein konnte, traute erihm nicht mehr, zweifelte er an des älteren Vernunft, fühlte er sich fürden älteren verantwortlich. Jonas erriet, was sein Bruder empfand. Eingroßer, törichter Zorn kochte in seinem Herzen. Lächerlich ist Schemarjah, dachte Jonas. Wie ein Gespenst ist er dünn, den Stock kann ernicht einmal halten, jedes Mal schultert er ihn wieder, das Bündel wirdnoch in den Dreck fallen. Bei der Vorstellung, daß Schemarjahs weißesBündel vom glatten Stock in den schwarzen Dreck der Straße fallenkönnte, lachte Jonas laut auf. „Was lachst du?”, fragte Schemarjah.,,Über dich!”, antwortete Jonas. „Ich hatte mehr Recht, über dich zulachen”, sagte Schemarjah. Wieder schwiegen sie. Schwarz wuchs ihnen der Tannenwald entgegen. Aus ihm, nicht aus ihnen selbst, schiendie Schweigsamkeit zu kommen. Von Zeit zu Zeit erhob sich ein Windaus willkürlicher Himmelsrichtung, ein heimatloser Windstoß. EinWeidenbusch regte sich im Schlaf, Zweige knackten dürr, die Wolkenliefen hell über den Himmel. „Jetzt sind wir doch Soldaten!” sagte aufeinmal Schemarjah. „Ganz richtig”, sagte Jonas, „was waren wir dennsonst? Wir haben keinen Beruf. Sollen wir Lehrer werden wie unserVater?” „Besser als Soldat sein!”, sagte Schemarjah. „Ich könnte einKaufmann werden und in die Welt gehen!” „Die Soldaten sind auchWelt, und ich kann kein Kaufmann sein”, meinte Jonas. „Du bist betrunken!” „Ich bin nüchtern wie du. Ich kann trinken und nüchternsein. Ich kann ein Soldat sein und die Welt sehn. Ich möchte ein Bauersein. Das sag' ich dir — und ich bin nicht betrunken...”

Schemarjah zuckte mit den Schultern. Sie gingen weiter. Gegen Morgen hörten sie die Hähne krähen aus entfernten Gehöften. „Das wirdJurki sein”, sagte Schemarjah. „Nein, es ist Bytók!”, sagte Jonas. „Meinetwegen Bytók”, sagte Schemarjah.

Eine Fuhre klapperte und rasselte hinter der nächsten Biegung des Weges. Der Morgen war fahl, wie die Nacht gewesen war. Kein Unterschied zwischen Mond und Sonne. Schnee fing an zu fallen, weicher,warmer Schnee. Raben flogen auf und krächzten.

„Sieh, die Vögel”, sagte Schemarjah; nur als Vorwand, um den Bruderzu versöhnen.

„Raben sind das!”, sagte Jonas. „Vögel!”, ahmte er höhnisch nach.

„Meinetwegen!”, sagte Schemarjah, „Raben!”

Es war wirklich Bytók. Noch eine Stunde, sie kamen nach Jurki. Nochdrei Stunden, und sie waren zu Haus.

Es schneite dichter und weicher, je weiter der Tag fortschritt, als kämeder Schnee von der ansteigenden Sonne. Nach einigen Minuten war dasganze Land weiß. Auch die einzelnen Weiden am Weg und die verstreuten Birkengruppen zwischen den Feldern weiß, weiß, weiß. Nur diezwei jungen, schreitenden Juden waren schwarz. Auch sie überschüttete der Schnee, aber auf ihren Rücken schien er schneller zu schmelzen.Ihre langen, schwarzen Röcke flatterten. Die Schöße pochten mit hartem, regelmäßigem Schlag gegen die Schäfte der hohen Lederstiefel. Jedichter es schneite, desto schneller gingen sie. Bauern, die ihnen entgegenkamen, gingen ganz langsam, mit eingeknickten Knien, sie wurdenweiß, auf ihren breiten Schultern lag der Schnee wie auf dicken Ästen,schwer und leicht zugleich, vertraut mit dem Schnee, gingen sie in ihmeinher wie in einer Heimat. Manchmal blieben sie stehen und sahen sichnach den zwei schwarzen Männern um wie nach ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war. Atemloslangten die Brüder zu Hause an, schon fing es an zu dämmern. Siehörten von weitem den Singsang der lernenden Kinder. Er kam ihnenentgegen, ein Mutterlaut, ein Vaterwort, ihre ganze Kindheit trug erihnen entgegen, alles bedeutete und enthielt er, was sie seit der Stundeder Geburt geschaut, vernommen, gerochen und gefühlt hatten: derSingsang der lernenden Kinder. Er enthielt den Geruch der heißen undwürzigen Speisen, den schwarzweißen Schimmer, der von Bart undAngesicht des Vaters ausging, den Widerhall der mütterlichen Seufzerund der Wimmertöne Menuchims, des betenden Geflüsters MendelSingers am Abend, Millionen unnennbarer regelmäßiger und besonderer Ereignisse. Beide Brüder nahmen also mit den gleichen Regungendie Melodie auf, die ihnen durch den Schnee entgegenwehte, währendsie sich dem väterlichen Hause näherten. In gleichem Rhythmus schlugen ihre Herzen. Die Tür flog vor ihnen auf, durchs Fenster hatte sieihre Mutter Deborah schon lange kommen sehen.

„Wir sind genommen!”, sagte Jonas ohne Gruß.

Auf einmal stürzte ein furchtbares Schweigen über die Stube, in dereben noch die Stimmen der Kinder geklungen hatten, ein Schweigenohne Grenzen, um vieles gewaltiger als der Raum, der seine Beute geworden war, und dennoch geboren aus dem kleinen Wort „genommen”, das Jonas eben ausgesprochen hatte. Mitten im halben Wort, dassie memoriert hatten, brachen die Kinder das Lernen ab. Mendel, derauf und ab durch die Stube gewandert war, blieb stehen, sah in die Luft,erhob die Arme und ließ sie wieder sinken. Die Mutter Deborah setztesich auf einen der zwei Schemel, die immer in der Nähe des Ofensstanden, als hätten sie schon seit langem auf die Gelegenheit gewartet,eine trauernde Mutter aufzunehmen. Mirjam, die Tochter, hatte sichrückwärts tastend in die Ecke geschoben, laut pochte ihr Herz, sieglaubte, alle müßten es hören. Die Kinder saßen festgenagelt auf ihrenPlätzen. Ihre Beine in wollenen, buntbereiften Strümpfen, die unaufhörlich während des Lernens gebaumelt hatten, hingen leblos unterdem Tisch. Draußen schneite es unaufhörlich, und das weiche Weißder Flocken strömte einen fahlen Schimmer durch das Fenster in dieStube und auf die Gesichter der Schweigenden. Ein paarmal hörte manverkohlte Holzreste im Ofen knistern und ein leises Knattern an denTürpfosten, wenn der Wind an ihnen rüttelte. Die Stöcke noch überden Schultern, die weißen Bündel noch an den Stöcken, standen dieBrüder an der Tür, Boten des Unglücks und seine Kinder. Plötzlichschrie Deborah: „Mendel, geh, lauf und frag die Leute um Rat!”

Mendel Singer faßte nach seinem Bart. Das Schweigen war verbannt,die Beine der Kinder fingen an, sachte zu baumeln, die Brüder legtenihre Bündel und ihre Stöcke ab und näherten sich dem Tisch.

„Was redest du für Dummheiten?”, sagte Mendel Singer. „Wohin sollich gehen? Und wen soll ich um Rat fragen? Wer hilft einem armenLehrer, und womit soll man mir helfen? Welche Hilfe erwartest duvon den Menschen, wo Gott uns gestraft hat?”

Deborah antwortete nicht. Eine Weile saß sie noch ganz still auf demSchemel. Dann erhob sie sich, stieß ihn mit dem Fuß wie einen Hund,daß er mit Gepolter hintorkelte, ergriff ihren braunen Schal, der wieein Hügel aus Wolle auf dem Fußboden gelegen hatte, umwickelteKopf und Hals, knüpfte die Fransen im Nacken zu einem starkenKnoten, mit einer wütenden Bewegung, als wollte sie sich erwürgen,wurde rot im Gesicht, stand da, zischend und wie gefüllt von siedendem Wasser, und spuckte plötzlich aus, weißen Speichel feuerte sie wieein giftiges Geschoß vor Mendel Singers Füße. Und als hätte sie damitallein ihre Verachtung nicht genügend bewiesen, schickte sie dem Speichel noch einen Schrei nach, der wie ein Pfui! klang, der aber nichtgenau verstanden werden konnte. Ehe sich die Verblüfften gefaßt hatten, schlug sie die Tür auf. Ein böser Windstoß schüttete weiße Flocken ins Zimmer, blies Mendel Singer ins Gesicht, griff den Kindern andie hängenden Beine. Dann knallte die Tür wieder zu. Deborah warfort.

Sie lief, ohne Ziel, durch die Gassen, immer in der Mitte, ein schwarzbrauner Koloss, raste sie durch den weißen Schnee, bis sie in ihm versank. Sie verwickelte sich in den Kleidern, stürzte, erhob sich mit erstaunlicher Hurtigkeit, lief weiter, noch wußte sie nicht, wohin, aberes war ihr, als liefen die Füße schon selbst zu einem Ziel, das ihr Kopfnoch nicht kannte. Die Dämmerung fiel schneller als die Flocken, dieersten gelben Lichter erglommen, die spärlichen Menschen, die ausden Häusern traten, um die Fensterläden zu schließen, drehten dieKöpfe nach Deborah und sahen ihr lange nach, obwohl sie froren.Deborah lief in die Richtung des Friedhofs. Als sie das hölzerne, kleineGitter erreichte, fiel sie noch einmal nieder. Sie raffte sich auf, die Türwollte nicht weichen, Schnee hatte sie festgeklemmt. Deborah ranntemit den Schultern gegen das Gitter. Jetzt war sie drinnen. Der Windheulte über die Gräber. Toter als sonst schienen heute die Toten. Ausder Dämmerung wuchs schnell die Nacht, schwarz, schwarz unddurchleuchtet vom Schnee. Vor einem der ersten Grabsteine in derersten Reihe ließ sich Deborah nieder. Mit klammen Fäusten befreitesie ihn vom Schnee, als wollte sie sich vergewissern, daß ihre Stimmeleichter zu dem Toten dringen würde, wenn die dämpfende Schichtzwischen ihrem Gebet und dem Ohr des Seligen fortgeräumt wäre.Und dann brach ein Schrei aus Deborah, der klang wie aus einemHorn, in dem ein menschliches Herz eingebaut ist. Diesen Schrei hörteman im ganzen Städtchen, aber man vergaß ihn sofort. Denn die Stille,die hinter ihm folgte, wurde nicht mehr gehört. Nur ein leises Wimmern stieß Deborah in kurzen Abständen hervor, ein leises, mütterliches Wimmern, das die Nacht verschlang, das der Schnee begrub unddas nur die Toten vernahmen.

IV

Nicht weit von den Kluczysker Verwandten Mendel Singers lebteKapturak, ein Mann ohne Alter, ohne Familie, ohne Freunde, flinkund vielbeschäftigt und mit den Behörden vertraut. Seine Hilfe zu erreichen, bemühte sich Deborah. Von den siebzig Rubeln, die Kapturakeinforderte, ehe er sich mit seinen Klienten in Verbindung setzte, besaß sie erst knapp fünfundzwanzig, geheim erspart in den langen Jahren der Mühsal, im haltbaren Lederbeutel aufbewahrt unter einemDielenbrett, das ihr allein vertraut war. Jeden Freitag hob sie es sachteauf, wenn sie den Fußboden scheuerte. Ihrer mütterlichen Hoffnungerschien die Differenz von fünf und vierzig Rubeln geringer als dieSumme, die sie bereits besaß. Denn zu dieser addierte sie die Jahre, indenen sich das Geld angehäuft hatte, die Entbehrungen, denen jederhalbe Rubel seine Dauer verdankte, und die vielen stillen und heißenFreuden des Nachzählens.

Vergeblich versuchte ihr Mendel Singer die Unzugänglichkeit Kapturaks zu schildern, sein hartes Herz und seinen hungrigen Beutel. „Waswillst du, Deborah”, sagte Mendel Singer, „die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotterie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen.Dem einen gibt Er, dem andern nimmt Er. Ich weiß nicht, wofür Eruns straft, zuerst mit dem kranken Menuchim und jetzt mit den gesunden Kindern. Ach, dem Armen geht es schlecht, wenn er gesündigthat, und wenn er krank ist, geht es ihm schlecht. Man soll sein Schicksal tragen! Laß die Söhne einrücken, sie werden nicht verkommen!Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kannman nicht davonlaufen — so steht es geschrieben.”

Deborah aber antwortete, die Hand in die Hüfte gestemmt über denBund rostiger Schlüssel: „Der Mensch muß sich zu helfen suchen, undGott wird ihm helfen. So steht es geschrieben, Mendel! Immer weißtdu die falschen Sätze auswendig. Viele tausend Sätze sind geschriebenworden, die überflüssigen merkst du dir alle! Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unterrichtest! Du gibst ihnen dein bißchen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du,Mendel, ein Lehrer!”

Mendel Singer war nicht eitel auf seinen Verstand und auf seinen Beruf. Dennoch wurmten ihn die Reden Deborahs, ihre Vorwürfe zernagten langsam seine Gutmütigkeit, und in seinem Herzen züngelten bereits die weißen Stichflämmchen der Empörung. Er wandte sich ab, umdas Angesicht seiner Frau nicht länger anzusehen. Es war ihm, als kannteer es schon lange, weit länger als seit der Hochzeit, seit der Kindheitvielleicht. Lange Jahre war es ihm gleich erschienen wie am Tage seinerHeirat. Er hatte nicht gesehen, wie das Fleisch abbröckelte von denWangen wie schön getünchter Mörtel von einer Wand, wie die Hautsich um die Nase spannte, um desto lockerer unter dem Kinn zu zerflattern, wie die Lider sich runzelten zu Netzen über den Augen und wiederen Schwärze ermattete zu einem kühlen und nüchternen Braun,kühl, verständig und hoffnungslos. Eines Tages, er erinnerte sich nicht,wann es gewesen sein konnte (vielleicht war es auch an jenem Morgengeschehen, an dem er selbst geschlafen und nur eines seiner AugenDeborah vor dem Spiegel überrascht hatte), eines Tages also war dieErkenntnis über ihn gekommen. Es war wie eine zweite, eine wiederholte Ehe, diesmal mit der Häßlichkeit, mit der Bitterkeit, mit demfortschreitenden Alter seiner Frau. Näher empfand er sie zwar, beinaheihm einverleibt, untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quälendund ein bißchen auch gehaßt. Sie war aus einem Weib, mit dem man sichnur in der Finsternis verbindet, gleichsam eine Krankheit geworden, mitder man Tag und Nacht verbunden ist, die einem ganz angehört, dieman nicht mehr mit der Welt zu teilen braucht und an deren treuerFeindschaft man zugrunde geht. Gewiß, er war nur ein Lehrer! Auchsein Vater war ein Lehrer gewesen, sein Großvater auch. Er selbstkonnte eben nichts anderes sein. Man griff also sein Dasein an, wennman seinen Beruf tadelte, man versuchte, ihn auszulöschen aus der Listeder Welt. Dagegen wehrte sich Mendel Singer.

Eigentlich freute er sich, daß Deborah wegfuhr. Jetzt schon, währendsie die Vorbereitungen zur Abreise traf, war das Haus leer, Jonas undSchemarjah trieben sich in den Gassen herum, Mirjam saß bei denNachbarn oder ging spazieren. Zu Hause, um die Stunde des Mittags,bevor die Schüler wiederkamen, blieben nur Mendel und Menuchim.Mendel aß eine Graupensuppe, die er selbst gekocht hatte, und ließ inseinem irdenen Teller einen erheblichen Rest für Menuchim übrig. Erschob den Riegel vor, damit der Kleine nicht vor die Tür krieche, wie esseine Art war. Dann ging der Vater in die Ecke, hob das Kind hoch,setzte es auf seine Knie und begann, es zu füttern.

Er liebte diese stillen Stunden. Er blieb gern allein mit seinem Sohn. Ja,manchmal überlegte er, ob es nicht besser wäre, wenn sie überhauptzusammenblieben, ohne Mutter, ohne Geschwister. Nachdem Menuchim Löffel um Löffel die Graupensuppe verschluckt hatte, setzte ihnder Vater auf den Tisch, blieb hart vor ihm sitzen und vertiefte sich mitzärtlicher Neugier in das breite, blaßgelbe Angesicht mit den vielenRunzeln auf der Stirn, den vielfach gefältelten Augenlidern und demschlaffen Doppelkinn. Er bemühte sich zu erraten, was in diesem breiten Schädel vorgehen mochte, durch die Augen wie durch Fenster in dasGehirn hineinzusehen und durch ein bald leises, bald lautes Sprechendem stumpfen Knaben irgendein Zeichen zu entlocken. Er nanntezehnmal hintereinander Menuchims Namen, mit langsamen Lippenzeichnete er die Laute in die Luft, damit Menuchim sie erblickte, wenner sie schon nicht hören konnte. Aber Menuchim regte sich nicht.Dann ergriff Mendel seinen Löffel, schlug damit gegen ein Teeglas,und sofort wendete Menuchim den Kopf, und ein kleines Lichtleinflammte in seinen großen, grauen, hervorquellenden Augen auf. Mendel klingelte weiter, begann, ein Liedchen zu singen und mit dem Löffel an das Glas den Takt zu läuten, und Menuchim offenbarte einedeutliche Unruhe, wendete den großen Kopf mit einiger Mühe undbaumelte mit den Beinen. „Mama, Mama!”, rief er dazwischen. Mendelstand auf, holte das schwarze Buch der Bibel, hielt die erste Seite aufgeschlagen vor Menuchims Angesicht und intonierte in der Melodie, inder er seine Schüler zu unterrichten pflegte, den ersten Satz: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.” Er wartete einen Augenblick inder Hoffnung, daß Menuchim die Worte nachsprechen würde. AberMenuchim regte sich nicht. Nur in seinen Augen stand noch das lauschende Licht. Da legte Mendel das Buch weg, blickte seinen Sohntraurig an und fuhr in dem monotonen Singsang fort:

„Hör mich, Menuchim, ich bin allein! Deine Brüder sind groß undfremd geworden, sie gehen zu den Soldaten. Deine Mutter ist ein Weib,was kann ich von ihr verlangen? Du bist mein jüngster Sohn, meineletzte und jüngste Hoffnung habe ich in dich gepflanzt. Warumschweigst du, Menuchim? Du bist mein wirklicher Sohn! Sieh her, Menuchim, und wiederhole die Worte: Am Anfang schuf Gott Himmelund Erde.”

Mendel wartete noch einen Augenblick. Menuchim rührte sich nicht.Da klingelte Mendel wieder mit dem Löffel an das Glas. Menuchimdrehte sich um, und Mendel ergriff wie mit beiden Händen den Moment der Wachheit und sang wieder: „Hör mich, Menuchim! Ich binalt, du bleibst mir allein von allen Kindern, Menuchim! Hör zu undsprich mir nach: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.”

Aber Menuchim rührte sich nicht.

Da ließ Mendel mit einem schweren Seufzer Menuchim wieder auf denBoden. Er schob den Riegel zurück und trat vor die Tür, um seineSchüler zu erwarten. Menuchim kroch ihm nach und blieb auf derSchwelle hocken. Von der Turmuhr schlug es sieben Schläge, vier tiefeund drei helle. Da rief Menuchim: „Mama, Mama!” Und als Mendelsich zu ihm umwandte, sah er, daß der Kleine den Kopf in die Luftstreckte, als atmete er den nachhallenden Gesang der Glocken ein.Wofür bin ich so gestraft? dachte Mendel. Und er durchforschte seinGehirn nach irgendeiner Sünde und fand keine schwere.

Die Schüler kamen. Er kehrte mit ihnen ins Haus zurück, und während er auf und ab durch die Stube wanderte, den und jenen ermahnte,den auf die Finger schlug und jenem einen leichten Stoß in die Rippenversetzte, dachte er unaufhörlich: Wo ist die Sünde? Wo steckt dieSünde?

Deborah ging indessen zum Fuhrmann Sameschkin und fragte ihn, ober sie in der nächsten Zeit umsonst nach Kluczysk mitnehmen könnte.,,Ja”, sagte der Kutscher Sameschkin, er saß auf der blanken Ofenbank,ohne sich zu rühren, die Füße in graugelben Säcken, mit Stricken umwickelt, und er duftete nach selbstgebranntem Schnaps. Deborah rochden Branntwein wie einen Feind. Es war der gefährliche Geruch derBauern, der Vorbote unbegreiflicher Leidenschaften und der Begleiterder Pogromstimmungen. „Ja”, sagte Sameschkin, „wenn die Wege besser wären!” „Du hast mich einmal auch schon im Herbst mitgenommen, als die Wege noch schlechter waren.” „Ich erinnere mich nicht”,sagte Sameschkin, „du irrst dich, es wird ein trockener Sommertag gewesen sein.” „Keineswegs”, erwiderte Deborah, „es war Herbst, undes regnete, und ich fuhr zum Rabbi.” „Siehst du”, sagte Sameschkin,und seine beiden Füße in den Säcken begannen sachte zu baumeln,denn die Ofenbank war ziemlich hoch und Sameschkin ziemlich kleinvon Wuchs, „siehst du”, sagte er, „damals fuhrst du zum Rabbi, es warvor euren hohen Feiertagen, und da nahm ich dich eben mit. Heuteaber fährst du nicht zum Rabbi!” „Ich fahre in einer wichtigen Angelegenheit”, sagte Deborah, „Jonas und Schemarjah sollen niemals Soldaten werden!” „Auch ich war Soldat”, meinte Sameschkin, „siebenJahre, davon saß ich zwei im Zuchthaus, denn ich hatte gestohlen. EineKleinigkeit übrigens!” Er brachte Deborah zur Verzweiflung. SeineErzählungen bewiesen ihr nur, wie fremd er ihr war, ihr und ihrenSöhnen, die nicht stehlen und auch nicht im Zuchthaus sitzen sollten.Also entschloß sie sich, schnell zu handeln: „Wieviel soll ich dir zahlen?” „Gar nichts! — Ich verlange kein Geld, ich will auch nicht fahren!Der Schimmel ist alt, der Braune hat gleich auf einmal zwei Hufeisenverloren. Übrigens frißt er den ganzen Tag Hafer, wenn er einmal nurzwei Werst gelaufen ist. Ich kann ihn nicht mehr halten, ich will ihnverkaufen. Es ist überhaupt kein Leben, Fuhrmann sein!” „Jonas wirdden Braunen selbst zum Schmied führen”, sagte beharrlich Deborah,,,er wird selbst die Hufeisen bezahlen.” „Vielleicht!” erwiderte Sameschkin. „Wenn Jonas das selbst machen will, dann muß er aber auchein Rad beschlagen lassen.” „Auch das!” versprach Deborah. „Wirfahren also nächste Woche!”

Also reiste sie nach Kluczysk zu dem unheimlichen Kapturak. Viellieber wäre sie eigentlich beim Rabbi eingetreten, denn gewiß war einWort aus seinem heiligen, dünnen Mund mehr wert als eine ProtektionKapturaks. Aber der Rabbi empfing nicht zwischen Ostern und Pfingsten, es sei denn in dringenden Fällen, in denen es sich um Leben undTod handelte. Sie traf Kapturak in der Schenke, wo er, umringt vonBauern und Juden, in der Ecke am Fenster saß und schrieb. Seine offene Mütze, mit dem aufwärtsgekehrten Unterfutter, lag auf demTisch, neben den Papieren, wie eine ausgestreckte Hand, und viele Silbermünzen ruhten bereits in der Mütze und zogen die Augen allerUmstehenden an. Kapturak kontrollierte sie von Zeit zu Zeit, obwohler wußte, daß niemand wagen würde, ihm auch nur eine Kopeke zuentwenden. Er schrieb Gesuche, Liebesbriefe und Postanweisungenfür jeden Analphabeten — (außerdem konnte er Zähne ziehen undHaare schneiden).

„Ich habe mit dir eine wichtige Sache zu besprechen”, sagte Deborahüber die Köpfe der Umstehenden hinweg. Kapturak schob mit einemRuck alle Papiere von sich, die Menschen zerstreuten sich, er langtenach der Mütze, schüttete das Geld in die hohle Hand und knüpfte esin ein Taschentuch. Dann lud er Deborah ein, sich zu setzen.

Sie sah in seine harten, kleinen Augen wie in starre, helle Knöpfchenaus Horn. „Meine Söhne müssen einrücken!” sagte sie. „Du bist einearme Frau”, sagte Kapturak mit einer fernen, singenden Stimme, alsläse er aus den Karten. „Du hast kein Geld sparen können, und keinMensch kann dir helfen.” „Doch, ich habe gespart.” „Wieviel?” „Vierundzwanzig Rubel und siebzig Kopeken. Davon habe ich schon einenRubel ausgegeben, um dich zu sehn.” „Das macht also nur dreiundzwanzig Rubel!” „Dreiundzwanzig Rubel und siebzig Kopeken!” verbesserte Deborah. Kapturak hob die rechte Hand, spreizte Mittel-- undZeigefinger und fragte: „Und zwei Söhne?” „Zwei”, flüsterte Deborah. „Fünfundzwanzig kostet schon ein einziger!” „Für mich?” „Auch für dich!”

Sie handelten eine halbe Stunde. Dann erklärte sich Kapturak mit dreiundzwanzig für einen zufrieden. Wenigstens einer! dachte Deborah.Aber unterwegs, während sie auf der Fuhre Sameschkins saß und dieRäder durch ihre Eingeweide und ihren armen Kopf holperten, erschien ihr die Lage noch elender als zuvor. Wie konnte sie ihre Söhnevoneinander unterscheiden? Jonas oder Schemarjah? fragte sie sich unermüdlich. Besser einer als beide, sagte ihr Verstand, wehklagte ihrHerz.

Als sie nach Hause kam und ihren Söhnen das Urteil Kapturaks zuberichten anfing, unterbrach sie Jonas, der ältere, mit den Worten:,,Ich gehe gern zu den Soldaten!”

Deborah, die Tochter Mirjam, Schemarjah und Mendel Singer warteten wie Hölzer. Endlich, da Jonas nichts weiter sprach, sagte Schemarjah: „Du bist ein Bruder! Ein guter Bruder bist du!” „Nein”, erwiderteJonas, „ich will zu den Soldaten!”

„Vielleicht kommst du ein halbes Jahr später frei!”, tröstete der Vater.,,Nein”, sagte Jonas, „ich will gar nicht freikommen! Ich bleibe bei denSoldaten!”

Alle murmelten das Nachtgebet. Schweigsam entkleideten sie sich.Dann ging Mirjam im Hemd und auf koketten Zehen zur Lampe undpustete sie aus. Sie legten sich schlafen.

Am nächsten Morgen war Jonas verschwunden. Sie suchten nach ihm,den ganzen Vormittag. Erst am späten Abend erblickte ihn Mirjam. Erritt einen Schimmel, trug eine braune Joppe und eine Soldatenmütze.,,Bist du schon Soldat?”, rief Mirjam.

„Noch nicht”, sagte Jonas und hielt den Schimmel an. „Grüß Vaterund Mutter. Ich bin bei Sameschkin, vorläufig, bis ich einrücke. Sag,ich konnte es nicht bei euch aushalten, aber ich hab’ euch alle ganzgern!”

Er ließ daraufhin eine Weidengerte pfeifen, zog an den Zügeln und rittweiter.

Von nun an war er Pferdeknecht beim Fuhrmann Sameschkin. Erstriegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall,sog mit offenen, genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduftein und den sauren Schweiß. Er besorgte den Hafer und den Tränkeimer, flickte die Koppeln, beschnitt die Schwänze, hängte neue Glöckchen an das Joch, füllte die Tröge, wechselte das faule Heu in den zweiFuhren gegen trockenes aus, trank Samogonka mit Sameschkin, warbetrunken und befruchtete die Mägde.

Man beweinte ihn zu Hause als einen Verlorenen, aber man vergaß ihnnicht. Der Sommer brach an, heiß und trocken. Die Abende sankenspät und golden über das Land. Vor der Hütte Sameschkins saß Jonasund spielte Ziehharmonika. Er war sehr betrunken, und er erkannteseinen eigenen Vater nicht, der manchmal zögernd vorbeischlich, einSchatten, der sich vor sich selbst fürchtete, ein Vater, der nicht aufhörte zu staunen, daß dieser Sohn seinen eigenen Lenden entsprossenwar.

V

Am zwanzigsten August erschien bei Mendel Singer ein Bote Kapturaks, um Schemarjah abzuholen. Alle hatten den Boten in diesen Tagenerwartet. Als er aber leibhaftig vor ihnen stand, waren sie überraschtund erschrocken. Es war ein gewöhnlicher Mann von gewöhnlichemWuchs und gewöhnlichem Aussehen, mit einer blauen Soldatenmützeauf dem Kopf und einer dünnen, gedrehten Zigarette im Mund. Alsman ihn einlud, sich zu setzen und einen Tee zu trinken, lehnte er ab.,,Ich will lieber vor dem Haus warten”, sagte er in einer Art, an derman erkennen mußte, daß er gewohnt war, draußen zu warten, vorden Häusern. Aber gerade dieser Entschluß des Mannes versetzte dieFamilie Mendel Singers in noch hitzigere Aufregung. Immer wiedersahen sie den blau bemützten Mann wie einen Wachtposten vor demFenster erscheinen, und immer heftiger wurden ihre Bewegungen. Siepackten Schemarjahs Sachen ein, einen Anzug, Gebetriemen, Reiseproviant, ein Brotmesser. Mirjam holte die Gegenstände herbei, immermehr schleppte sie heran. Menuchim, der bereits mit dem Kopf biszum Tisch reichte, reckte neugierig und stupide das Kinn und lallteunaufhörlich das eine Wort, das er konnte: „Mama”. Mendel Singerstand am Fenster und trommelte gegen die Scheibe. Deborah weintelautlos, eine Träne nach der anderen schickten ihre Augen zu dem verzogenen Mund. Als Schemarjahs Bündel fertig war, erschien es allenviel zu kümmerlich, und sie suchten mit hilflosen Augen das Zimmerab, um noch irgendeinen Gegenstand zu entdecken. Bis zu diesem Augenblick hatten sie nichts miteinander gesprochen. Jetzt, da das weißeBündel neben dem Stock auf dem Tisch lag, wandte sich Mendel Singervom Fenster ab und der Stube zu und sagte zu seinem Sohn: „Du wirstuns sofort und so schnell, wie es dir möglich ist, Nachricht zukommenlassen, vergiß es nicht!” Deborah schluchzte laut auf, breitete die Armeaus und umfing ihren Sohn. Lange umklammerten sie sich. Dann löstesich Schemarjah gewaltsam los, schritt auf seine Schwester zu undküßte sie mit knallenden Lippen auf beide Wangen. Sein Vater breitetedie Hände segnend über ihn und murmelte hastig etwas Unverständliches. Furchtsam näherte sich darauf Schemarjah dem glotzenden Menuchim. Zum ersten Mal galt es, das kranke Kind zu umarmen, und eswar Schemarjah, als hätte er nicht einen Bruder zu küssen, sondern einSymbol, das keine Antwort gibt. Jeder hätte gerne noch etwas gesagt.Aber keiner fand ein Wort. Sie wußten, daß es ein Abschied für immerwar. Im besten Fall geriet Schemarjah heil und gesund ins Ausland. Imschlimmsten Fall wurde er an der Grenze gefangen, dann hingerichtetoder von den Grenzposten an Ort und Stelle erschossen. Was soll maneinander sagen, wenn man Abschied fürs Leben nimmt?

Schemarjah schulterte das Bündel und stieß die Tür mit dem Fuß auf.Er sah sich nicht mehr um. Er versuchte, in dem Augenblick, in dem erüber die Schwelle trat, das Haus und alle seine Angehörigen zu vergessen. Hinter seinem Rücken ertönte noch einmal ein lauter Schrei Deborahs. Die Tür schloß sich wieder. Mit dem Gefühl, daß seine Mutterohnmächtig hingestürzt sei, näherte sich Schemarjah seinem Begleiter.,,Gleich hinter dem Marktplatz”, sagte der Mann mit der blauenMütze, „erwarten uns die Pferde.” Als sie an Sameschkins Hütte vorbeikamen, blieb Schemarjah stehen. Er warf einen Blick in den kleinenGarten, dann in den offenen, leeren Stall. Sein Bruder Jonas war nichtda. Einen wehmütigen Gedanken hinterließ er dem verlorenen Bruder,der sich freiwillig geopfert hatte, wie Schemarjah immer noch glaubte.Er ist ein Grobian, aber edel und tapfer, dachte er. Dann ging er mitgleichmäßigen Schritten an der Seite des Fremden weiter.

Gleich hinter dem Marktplatz trafen sie die Pferde, wie der Mann gesagt hatte. Nicht weniger als drei Tage brauchten sie, bis sie zurGrenze kamen, denn sie mieden die Eisenbahn. Es erwies sich unterwegs, daß der Begleiter Schemarjahs genau Bescheid im Lande wußte.Er gab es zu erkennen, ohne daß ihn Schemarjah gefragt hätte. Auf diefernen Kirchtürme deutete er und nannte die Dörfer, zu denen sie gehörten. Er nannte die Gehöfte und die Güter und die Namen derGutsbesitzer. Er zweigte oft von der breiten Straße ab und fand sichauf schmalen Wegen in kürzerer Zeit zurecht. Es war, als wollte erSchemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe derjunge Mann auszog, eine neue zu suchen. Er säte das Heimweh fürsganze Leben in das Herz Schemarjahs.

Eine Stunde vor Mitternacht kamen sie zur Grenzschenke. Es war einestille Nacht. Die Schenke stand in ihr als einziges Haus, ein Haus inder Stille der Nacht, stumm, finster, mit abgedichteten Fenstern, hinterdenen kein Leben zu ahnen war. Millionen Grillen umzirpten es unaufhörlich, der wispernde Chor der Nacht. Sonst störte sie keineStimme. Flach war das Land, der gestirnte Horizont zog einen vollendet runden, tiefblauen Kreis darum, der nur im Nordosten durch einenhellen Streifen unterbrochen war, wie ein blauer Ring von einem Stückeingefaßten Silber. Man roch die ferne Feuchtigkeit der Sümpfe, diesich im Westen ausbreiteten, und den langsamen Wind, der sie herübertrug. „Eine schöne, echte Sommernacht!” sagte der Bote Kapturaks. Und zum ersten Mal, seitdem sie zusammen waren, ließ er sichherbei, von seinem Geschäft zu sprechen: „Man kann in so stillenNächten nicht immer ohne Schwierigkeiten hinüber. Für unsere Unternehmungen ist Regen nützlicher.” Er warf eine kleine Angst inSchemarjah. Da die Schenke, vor der sie standen, stumm und geschlossen war, hatte Schemarjah nicht an ihre Bedeutung gedacht, bis ihn dieWorte des Begleiters an sein Vorhaben erinnerten. „Gehen wir hinein!” sagte er wie einer, der die Gefahr nicht länger aufschieben will.,,Brauchst dich nicht zu eilen, wir werden lange genug warten müssen!”

Er trat dennoch ans Fenster und klopfte leise an den hölzernen Laden.Die Tür öffnete sich und entließ einen breiten Strom gelben Lichtsüber die nächtliche Erde. Sie traten ein. Hinter der Theke, genau imLichtkegel einer Hängelampe, stand der Wirt und nickte ihnen zu, aufdem Fußboden hockten ein paar Männer und würfelten. An einemTisch saß Kapturak mit einem Mann in Wachtmeisteruniform. Niemand sah auf. Man hörte das Klappern der Würfel und das Ticken derWanduhr. Schemarjah setzte sich. Sein Begleiter bestellte zu trinken.Schemarjah trank einen Schnaps, er wurde heiß, aber ruhig. Sicherheitfühlte er wie noch nie; er wußte, daß er eine der seltenen Stundenerlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zuformen hat als die große Gewalt, die es ihm beschert.

Kurz nachdem die Uhr Mitternacht geschlagen hatte, knallte einSchuß, hart und scharf, mit einem langsam verrinnenden Echo. Kapturak und der Wachtmeister erhoben sich. Es war das verabredete Zeichen, mit dem der Posten zu verstehen gab, daß die nächtliche Kontrolle des Grenzoffiziers vorbei war. Der Wachtmeister verschwand.Kapturak mahnte die Leute zum Aufbruch. Alle erhoben sich träge,schulterten Bündel und Koffer, die Tür ging auf, sie tropften einzeln indie Nacht hinaus und traten den Weg zur Grenze an. Sie versuchten zusingen, irgendjemand verbot es ihnen, es war Kapturaks Stimme. Manwußte nicht, ob sie aus den vorderen Reihen herkam, aus der Mitte,aus der letzten. Sie schritten also schweigsam durch das dichte Zirpender Grillen und das tiefe Blau der Nacht. Nach einer halben Stundekommandierte ihnen Kapturaks Stimme: „Niederlegen!” Sie ließensich auf den taufeuchten Boden fallen, lagen reglos, preßten die klopfenden Herzen gegen die nasse Erde, Abschied der Herzen von derHeimat. Dann befahl man ihnen aufzustehen. Sie kamen an einen seichten, breiten Graben, ein Licht blinkte links von ihnen auf, es war dasLicht der Wächterhütte. Sie setzten über den Graben. Pflichtgemäß,aber ohne zu zielen, feuerte hinter ihnen der Posten sein Gewehr ab.

„Wir sind draußen!”, rief eine Stimme.

In diesem Augenblick lichtete sich der Himmel im Osten. Die Männerwandten sich um zur Heimat, über der noch die Nacht zu liegenschien, und kehrten sich wieder dem Tag und der Fremde zu.

Einer begann zu singen, alle fielen ein, singend setzten sie sich inMarsch. Nur Schemarjah sang nicht mit. Er dachte an seine nächsteZukunft (er besaß zwei Rubel); an den Morgen zu Haus. In zwei Stunden erhob sich daheim der Vater, murmelte ein Gebet, räusperte sich,gurgelte, ging zur Schüssel und verspritzte Wasser. Die Mutter blies inden Samowar. Menuchim lallte irgendetwas in den Morgen hinein,Mirjam kämmte weiße Flaumfedern aus ihrem schwarzen Haar. Alldies sah Schemarjah so deutlich, wie er es nie gesehen hatte, als er nochzu Hause gewesen war und selbst ein Bestandteil des heimatlichenMorgens. Er hörte kaum den Gesang der andern, nur seine Füße nahmen den Rhythmus auf und marschierten mit.

Eine Stunde später erblickte er die erste fremde Stadt, den blauenRauch aus den ersten fleißigen Schornsteinen, einen Mann mit einergelben Armbinde, der die Ankömmlinge in Empfang nahm. Von einerTurmuhr schlug es sechs.

Auch von der Wanduhr der Singers schlug es sechs. Mendel erhobsich, gurgelte, räusperte sich, murmelte ein Gebet, Deborah stand bereits am Herd und pustete in den Samowar, Menuchim lallte aus seinerEcke etwas Unverständliches, Mirjam kämmte sich vor dem erblindeten Spiegel. Dann schlürfte Deborah den heißen Tee, stehend, immernoch am Herd. „Wo ist jetzt Schemarjah?”, sagte sie plötzlich. Allehatten an ihn gedacht. „Gott wird ihm helfen!”, sagte Mendel Singer.Und also brach der Tag an.

Also brachen die folgenden Tage an, leere Tage, kümmerliche Tage.Ein Haus ohne Kinder, dachte Deborah. Alle hab’ ich geboren, allehab’ ich gesäugt, ein Wind hat sie weggeblasen. Sie sah sich nach Mirjam um, sie fand die Tochter selten zu Haus. Menuchim allein bliebder Mutter. Immer streckte er die Arme aus, kam sie an seinem Winkelvorbei. Und wenn sie ihn küßte, suchte er nach ihrer Brust wie einSäugling. Vorwurfsvoll dachte sie an den Segen, der sich so langsamerfüllte, und sie zweifelte, ob sie die Gesundheit Menuchims noch erleben würde.

Das Haus schwieg, wenn der Singsang der lernenden Knaben aufhörte.Es schwieg und war finster. Es war wieder Winter. Man sparte Petroleum. Man legte sich zeitig schlafen. Man versank dankbar in der gütigen Nacht. Von Zeit zu Zeit schickte Jonas einen Gruß. Er diente inPskow, erfreute sich seiner guten, gewohnten Gesundheit und hattekeine Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten.

Also verrannen die Jahre.

VI

An einem Nachmittag im Spätsommer betrat ein Fremder das HausMendel Singers. Tür und Fenster standen offen. Die Fliegen klebtenstill, schwarz und satt an den heiß besonnten Wänden, und der Singsang der Schüler strömte aus dem offenen Haus in die weiße Gasse.Plötzlich bemerkten sie den fremden Mann im Rahmen der Tür undverstummten. Deborah erhob sich vom Schemel. Von der andern Seiteder Gasse eilte Mirjam herbei, den wackelnden Menuchim an der heftigen Hand. Mendel Singer stellte sich vor dem Fremden auf und musterte ihn. Es war ein außergewöhnlicher Mann. Er trug einen mächtigen, schwarzen Kalabreser, weite, helle, flatternde Hosen, solide, gelbeStiefel, und wie eine Fahne wehte über seinem tiefgrünen Hemd eineknallrote Krawatte. Ohne sich zu rühren, sagte er etwas, offenbareinen Gruß, in einer unverständlichen Sprache. Es klang, als spräche ermit einer Kirsche im Mund. Grüne Stengel lugten ohnehin aus seinenRocktaschen. Seine glatte, sehr lange Oberlippe rückte langsam hinaufwie ein Vorhang und entblößte ein starkes, gelbes Gebiß, das an Pferdedenken ließ. Die Kinder lachten, und auch Mendel Singer schmunzelte. Der Fremde zog einen länglich gefalteten Brief und las dieAdresse und den Namen der Singers in seiner eigentümlichen Weise,so daß alle noch einmal lachten. „Amerika!”, sagte jetzt der Mann undüberreichte Mendel Singer den Brief. Eine glückliche Ahnung stieg inMendel auf und erleuchtete sein Angesicht. „Schemarjah”, sagte er.Mit einer Handbewegung schickte er seine Schüler fort, wie man Fliegen verscheucht. Sie liefen hinaus. Der Fremde setzte sich. Deborahstellte Tee, Konfekt und Limonade auf den Tisch. Mendel öffnete denBrief. Deborah und Mirjam setzten sich ebenfalls. Und folgendes begann Singer vorzulesen:

„Lieber Vater, liebe Mutter, teure Mirjam und guter Menuchim!

Den Jonas rede ich nicht an, weil er ja beim Militär ist. Auch bitte ichEuch, ihm diesen Brief nicht direkt zukommen zu lassen, denn erkönnte widrige Umstände haben, wenn er mit einem Bruder korrespondiert, der ein Deserteur ist. Deshalb habe ich auch so lange gewartet und Euch nicht per Post geschrieben, bis ich endlich die Gelegenheit fand, Euch diesen Brief mit meinem guten Freund Mac zu schicken. Er kennt Euch alle aus meinen Erzählungen, aber er wird keinWort mit Euch sprechen können, denn nicht nur er ist ein Amerikaner,sondern seine Eltern waren auch schon in Amerika geboren, und einJude ist er auch nicht. Aber er ist besser als zehn Juden.

Und also beginne ich, Euch zu erzählen, von Anfang bis heute: Zuerst,als ich über die Grenze kam, hatte ich nichts zu essen, nur zwei Rubelin der Tasche, aber ich dachte mir, Gott wird helfen. Von einer Triestiner Schiffsgesellschaft kam ein Mann mit einer Amtsmütze an dieGrenze, um uns abzuholen. Wir waren zwölf Mann, die anderen elfhatten alle Geld, sie kauften sich falsche Papiere und Schiffskarten, undder Agent der Schiffsgesellschaft brachte sie zum Zug. Ich ging mit.Ich dachte mir, es kann nicht schaden. Man geht mit, auf jeden Fallwerde ich sehen, wie es ist, wenn man nach Amerika fährt. Ich bliebalso allein mit dem Agenten zurück, und er wundert sich, daß ich nichtauch fahre. ,Ich habe keine Kopeke', sage ich zu dem Agenten. Ob ichlese und schreibe, fragt er. ,Ein bißchen', sage ich, ,aber es ist vielleichtgenug.' Nun gut, um Euch nicht lange aufzuhalten, der Mann hatteeine Arbeit für mich. Nämlich: jeden Tag, wenn die Deserteure ankommen, zur Grenze zu gehen, sie abholen und ihnen alles einkaufenund ihnen einreden, daß in Amerika Milch und Honig fließt. Well: Ichfange zu arbeiten an, und fünfzig Prozent von meinem Verdienst gebeich dem Agenten, denn ich bin nur Unteragent. Er trägt eine Mützemit goldgestickter Firma, ich habe nur eine Armbinde. Nach zwei Monaten sage ich ihm, ich müsse sechzig Prozent haben, sonst lege ich dieArbeit nieder. Er gibt sechzig. Kurz und gut, ich lerne bei meinemWirt ein hübsches Mädchen kennen, Vega heißt sie, und jetzt ist sieEure Schwiegertochter. Ihr Vater gab mir etwas Geld, damit ich einGeschäft anfange, ich aber kann und kann nicht vergessen, wie die elfnach Amerika gefahren sind und wie ich allein zurückgeblieben bin.Ich nehme also nur von Vega Abschied, in Schiffen kenne ich mich aus,es ist ja meine Branche — und also fahre ich nach Amerika. Und hierbin ich, vor zwei Monaten ist Vega hierhergekommen, wir haben geheiratet und sind sehr glücklich. Mac hat die Bilder in der Tasche. ImAnfang nähte ich Knöpfe an Hosen, dann bügelte ich Hosen, dannnähte ich Unterfutter in Ärmel, und fast wäre ich ein Schneider geworden wie alle Juden in Amerika. Da aber lernte ich Mac auf einem Ausflug auf Long Island kennen, direkt am Fort Lafayette. Wenn Ihr hierseid, werde ich Euch die Stelle zeigen. Von da an begann ich, mit ihmzusammenzuarbeiten, allerhand Geschäfte. Bis wir Versicherungen anfingen. Ich versichere die Juden und er die Irländer, ich habe sogarauch schon ein paar Christen versichert. Mac wird euch zehn Dollarvon mir geben, davon kauft Euch was für die Reise. Denn bald schickeich Euch Schiffskarten, mit Gottes Hilfe.

Ich umarme und küsse Euch alle

Euer Sohn Schemarjah

(hier heiße ich Sam)”

Nachdem Mendel Singer den Brief beendet hatte, entstand in der Stubeein klingendes Schweigen, das sich mit der Stille des Spätsommertageszu vermischen schien und aus dem alle Mitglieder der Familie dieStimme des ausgewanderten Sohnes zu hören vermeinten. Ja, Schemarjah selbst sprach, drüben, im weiten, weiten Amerika, wo um dieseStunde vielleicht Nacht war oder Morgen. Für eine kurze Weile vergaßen alle den anwesenden Mac. Es war, als wäre er hinter dem fernenSchemarjah unsichtbar geworden, wie ein Postbote, der einen Briefabgibt, weitergeht und verschwindet. Er selbst, der Amerikaner,mußte sich wieder in Erinnerung bringen. Er erhob sich und griff indie Hosentasche, wie ein Zauberkünstler, der sich anschickt, einKunststück zu produzieren. Er zog ein Portefeuille, entnahm ihmzehn Dollar und Photographien, auf denen Schemarjah einmal mit seiner Frau Vega auf der Bank im Grünen zu sehen war und ein anderesMal allein, im Schwimmkostüm, am Badestrand, ein Leib und ein Gesicht unter einem Dutzend fremder Leiber und Gesichter, kein Schemarjah mehr, sondern ein Sam. Den Dollarschein und die Bilder überreichte der Fremde Deborah, nachdem er alle kurz gemustert hatte,wie um jeden einzelnen auf seine Vertrauenswürdigkeit zu prüfen.Den Schein zerknüllte sie in der einen Hand, mit der andern legte siedie Bilder auf den Tisch, neben den Brief. All dies dauerte ein paarMinuten, in denen immer noch geschwiegen wurde. Endlich setzteMendel Singer den Zeigefinger auf die Photographie und sagte: „Dasist Schemarjah!” „Schemarjah!”, wiederholten die anderen, und sogarMenuchim, der jetzt schon den Tisch überragte, gab ein helles Wiehernvon sich und legte einen seiner scheuen Blicke mit schielender Behutsamkeit auf die Bilder.

Es war Mendel Singer auf einmal, als wäre der Fremde kein Fremdermehr und als verstünde er dessen seltsame Sprache. „Erzählt mir was!”,sagte er zu Mac. Und der Amerikaner, als hätte er die Worte Mendelsbegriffen, begann seinen großen Mund zu bewegen und mit heiteremEifer Unbegreifliches zu erzählen, und es war, als zerkaute er mancheschmackhafte Speise mit gesegnetem Appetit. Er erzählte den Singers,daß er eines Hopfenhandels wegen — es lag ihm an der Errichtung vonBrauereien in Chicago — nach Rußland gekommen sei. Aber die Singers verstanden ihn nicht. Da er einmal hier sei, wolle er keineswegsverfehlen, den Kaukasus zu besuchen und besonders jenen Ararat zubesteigen, von dem er bereits Ausführliches in der Bibel gelesen. Hatten die Zuhörer der Erzählung Macs mit angestrengten Spähergebärden gelauscht, um aus dem ganzen polternden Wust vielleicht einewinzige verständliche Silbe zu erjagen, so erbebten ihre Herzen beidem Wort „Ararat”, das ihnen merkwürdig bekannt vorkam, aberauch zum Entsetzen verändert, und das aus Mac mit einem gefährlichen und schrecklichen Grollen herausrollte. Mendel Singer allein lächelte unaufhörlich. Es war ihm angenehm, die Sprache zu hören, dienunmehr auch die seines Sohnes Schemarjah geworden war, und während Mac redete, versuchte Mendel sich vorzustellen, wie sein Sohnaussah, wenn er ebensolche Worte sprach. Und bald war es ihm, alsspräche die Stimme des eigenen Sohnes aus dem heiter mahlendenMunde des Fremden.

Der Amerikaner beendete seinen Vortrag, ging rund um den Tisch unddrückte jedem herzlich und heftig die Hand. Menuchim hob er miteinem hastigen Ruck in die Höhe, betrachtete den schiefen Kopf, dendünnen Hals, die blauen und leblosen Hände und die krummen Beineund setzte ihn mit einer zärtlichen und besinnlichen Geringschätzungauf den Boden, als wollte er so ausdrücken, daß merkwürdige Geschöpfe auf der Erde zu kauern haben und nicht an Tischen zu stehen.Dann ging er breit, groß und ein wenig schwankend, die Hände in denHosentaschen, aus der offenen Tür, und ihm nach drängte die ganzeFamilie. Alle beschatteten die Augen mit den Händen, wie sie so in diebesonnte Gasse sahen, in deren Mitte Mac dahinschritt und an derenEnde er noch einmal stehenblieb, um einen kurzen Gruß zurückzuwinken.

Lange blieben sie draußen, auch nachdem Mac verschwunden war. Siehielten die Hände über den Augen und sahen in das staubige Strahlender leeren Straße. Endlich sagte Deborah: „Nun ist er weg!” Und alswäre der Fremde erst jetzt verschwunden, kehrten alle um und standenumschlungen, jeder einen Arm um die Schultern des anderen, vor denPhotographien auf dem Tisch. „Wieviel sind zehn Dollar?”, fragte Mirjam und begann nachzurechnen.

„Es ist ganz gleich”, sagte Deborah, „wieviel zehn Dollar sind, wirwerden uns doch nichts dafür kaufen.”

„Warum nicht?”, erwiderte Mirjam, „in unsern Fetzen sollen wir fahren?”

„Wer fährt und wohin?”, schrie die Mutter.

„Nach Amerika”, sagte Mirjam und lächelte, „Sam selbst hat es geschrieben.”

Zum ersten Mal hatte ein Angehöriger der Familie Schemarjah „Sam”genannt, und es war, als hätte Mirjam den amerikanischen Namen desBruders absichtlich ausgesprochen, um seiner Forderung, die Familiemöge nach Amerika fahren, Nachdruck zu verleihen.

„Sam!”, rief Mendel Singer, „wer ist Sam?”

„Ja”, wiederholte Deborah, „wer ist Sam?”

„Sam”, sagte, immer noch mit einem Lächeln, Mirjam, „ist mein Bruder in Amerika und euer Sohn!”

Die Eltern schwiegen.

Menuchims Stimme gellte plötzlich hell aus dem Winkel, in den er sichverkrochen hatte.

„Menuchim kann nicht fahren!”, sagte Deborah, so leise, als fürchtetesie, der Kranke könnte sie verstehen.

„Menuchim kann nicht fahren!”, wiederholte, ebenso leise, MendelSinger.

Die Sonne schien rapide zu sinken. Auf der Wand des gegenüberliegenden Hauses, auf die alle durch das offene Fenster starrten, stieg derschwarze Schatten sichtbar höher, wie das Meer beim Anzug der Flutseine Uferwände emporsteigt. Ein leiser Wind erhob sich, und in denAngeln knarrte der Fensterflügel.

„Mach die Tür zu, es zieht!”, sagte Deborah.

Mirjam ging zur Tür. Ehe sie die Klinke berührte, stand sie noch einwenig still und steckte den Kopf über den Türrahmen in die Richtung,in der Mac verschwunden war. Dann schloß Mirjam die Tür mit hartem Schlag und sagte: „Das ist der Wind!”

Mendel stellte sich ans Fenster. Er sah zu, wie der Schatten des Abendsdie Wand hinankroch. Er hob den Kopf und betrachtete den goldüberglänzten First des Hauses gegenüber. Er stand lange so, die Stube, seinWeib, seine Tochter Mirjam und den kranken Menuchim im Rücken.Er fühlte sie alle und ahnte jede ihrer Bewegungen. Er wußte, daßDeborah den Kopf auf den Tisch legte, um zu weinen, daß Mirjam ihrGesicht dem Herd zukehrte und daß ihre Schultern dann und wannzuckten, obwohl sie gar nicht weinte. Er wußte, daß seine Frau nur aufden Augenblick wartete, in dem er nach seinem Gebetbuch griff, umins Bethaus zu gehen, das Abendgebet sagen, und Mirjam den gelbenSchal nahm, um zu den Nachbarn hinüberzueilen. Dann wollte Deborah den Zehn-Dollar-Schein, den sie immer noch in der Hand hielt,unter dem Dielenbrett vergraben. Er kannte das Dielenbrett, MendelSinger. Sooft er es betrat, verriet es ihm knarrend das Geheimnis, dases deckte, und erinnerte ihn an das Knurren der Hunde, die Sameschkin vor seinem Stall angebunden hielt. Er kannte das Brett, MendelSinger. Und um nicht an die schwarzen Hunde Sameschkins denkenzu müssen, die ihm unheimlich waren, lebendige Gestalten der Sünde,vermied er es, auf das Brett zu treten, wenn er nicht gerade vergeßlichwar und im Eifer des Unterrichtens durch die Stube wanderte. Wie erso den goldenen Streifen der Sonne immer schmaler werden sah undvom First des Hauses auf das Dach gleiten und von hier auf den weißen Schornstein, glaubte er, zum ersten Mal in seinem Leben deutlichdas lautlose und tückische Schleichen der Tage zu fühlen, die trügerische Hinterlist des ewigen Wechsels von Tag und Nacht und Sommerund Winter und das Rinnen des Lebens, gleichförmig, trotz allen erwarteten wie überraschenden Schrecken. Sie wuchsen nur an denwechselreichen Ufern, an ihnen vorbei strich Mendel Singer. Es kamein Mann aus Amerika, lachte, brachte einen Brief, Dollars und Bildervon Schemarjah und verschwand wieder in den verschleierten Gebieten der Ferne. Die Söhne verschwanden: Jonas diente dem Zaren inPskow und war kein Jonas mehr. Schemarjah badete an den Ufern desOzeans und hieß nicht mehr Schemarjah. Mirjam sah dem Amerikanernach und wollte auch nach Amerika. Nur Menuchim blieb, was ergewesen war, seit dem Tage seiner Geburt: ein Krüppel. Und MendelSinger selbst blieb, was er immer gewesen war: ein Lehrer.

Die schmale Gasse verdunkelte sich vollends und belebte sich gleichzeitig. Die dicke Frau des Glasermeisters Chaim und die neunzigjährige Großmutter des längst verstorbenen Schlossers Jossel Koppbrachten ihre Stühle aus den Häusern, um sich vor den Türen hinzusetzen und die frische Abendstunde zu genießen. Die Juden eiltenschwarz und hastig und mit flüchtig gemurmelten Grüßen ins Bethaus.Da wandte sich Mendel Singer um, er wollte sich ebenfalls auf denWeg machen. Er ging an Deborah vorbei, deren Kopf immer noch aufdem harten Tisch lag. Ihr Gesicht, das Mendel schon seit Jahren nichtmehr leiden konnte, war jetzt vergraben, wie eingebettet in das harteHolz, und die Dunkelheit, die das Zimmer zu erfüllen begann, deckteauch die Härte und die Schüchternheit Mendels zu. Seine Handhuschte über den breiten Rücken der Frau, vertraut war ihm diesesFleisch einmal gewesen, fremd war es ihm jetzt. Sie erhob sich undsagte: „Du gehst beten!” Und da sie an etwas anderes dachte, wandeltesie mit einer fernen Stimme den Satz ab und wiederholte: „Beten gehstdu!”

Mit ihrem Vater zugleich verließ Mirjam im gelben Schal das Haus undbegab sich zu den Nachbarn.

Es war die erste Woche im Monat Ab. Die Juden versammelten sichnach dem Abendgebet, um den Neumond zu begrüßen, und weil dieNacht angenehm war und ein Labsal nach dem heißen Tage, folgten sieihren gläubigen Herzen williger als gewöhnlich und dem Gebot Gottes, die Wiedergeburt des Mondes auf einem freien Platz zu begrüßen,über dem sich der Himmel weiter und umfangreicher wölbt als überden engen Gassen des Städtchens. Und sie hasteten, stumm undschwarz, in regellosen Grüppchen, hinter die Häuser, sahen in derFerne den Wald, der schwarz und schweigsam war wie sie, aber ewigin seinem verwurzelten Bestand, sahen die Schleier der Nacht über denweiten Feldern und blieben schließlich stehen. Sie blickten zum Himmel und suchten das gekrümmte Silber des neuen Gestirns, das heutenoch einmal geboren wurde, wie am Tage seiner Erschaffung. Sieschlossen sich zu einer dichten Gruppe, schlugen ihre Gebetbücherauf, weiß schimmerten die Seiten, schwarz starrten die eckigen Buchstaben vor ihren Augen in der nächtlich-bläulichen Klarheit, und siebegannen, den Gruß an den Mond zu murmeln und die Oberkörperhin und her zu wiegen, daß sie aussahen wie von einem unsichtbarenSturm gerüttelt. Immer schneller wiegten sie sich, immer lauter betetensie, mit kriegerischem Mut warfen sie zu dem fernen Himmel ihre urheimischen Worte. Fremd war ihnen die Erde, auf der sie standen,feindlich der Wald, der ihnen entgegenstarrte, gehässig das Kläffen derHunde, deren mißtrauisches Gehör sie geweckt hatten, und vertrautnur der Mond, der heute in dieser Welt geboren wurde wie im Landeder Väter, und der Herr, der überall wachte, daheim und in der Verbannung.

Mit einem lauten „Amen” beschlossen sie den Segen, reichten einanderdie Hände und wünschten sich einen glücklichen Monat, Gedeih denGeschäften und Gesundheit den Kranken. Sie zerteilten sich, sie liefeneinzeln nach Haus, verschwanden in den Gäßchen hinter den kleinenTüren ihrer schiefen Hütten. Nur ein Jude blieb zurück, Mendel Singer.

Seine Gefährten mochten sich erst vor wenigen Minuten verabschiedethaben, aber ihm war es, als stünde er schon seit einer Stunde da. Eratmete die ungestörte Ruhe in der Freiheit, machte ein paar Schritte,fühlte sich matt, bekam Lust, sich auf den Boden zu legen, und hatteAngst vor der unbekannten Erde und dem gefahrvollen Gewürm, dassie höchstwahrscheinlich beherbergte. Sein verlorener Sohn Jonas kamihm in den Sinn. Jonas schlief jetzt in einer Kaserne, auf dem Heu, ineinem Stall, vielleicht neben Pferden. Sein Sohn Schemarjah lebte jenseits des Wassers: Wer war weiter, Jonas oder Schemarjah? Deborahhatte daheim schon die Dollars vergraben, und Mirjam erzählte jetztden Nachbarn die Geschichte von dem Besuch des Amerikaners.

Die junge Mondsichel verbreitete bereits einen starken, silbernenGlanz, treu begleitet von dem hellsten Stern des Himmels glitt siedurch die Nacht. Manchmal heulten die Hunde und erschrecktenMendel. Sie zerrissen den Frieden der Erde und vergrößerten MendelSingers Unruhe. Obwohl er kaum fünf Minuten von den Häusern desStädtchens entfernt war, kam er sich unendlich weit von der bewohnten Welt der Juden vor, unsagbar einsam, von Gefahren bedroht unddennoch außerstande zurückzugehen. Er wandte sich nach Norden:Da atmete finster der Wald. Rechts dehnten sich viele Werst weit dieSümpfe mit den vereinzelten, silbernen Weiden. Links lagen die Felderunter opalenen Schleiern. Manchmal glaubte Mendel, einen menschlichen Laut aus unbestimmbarer Richtung zu vernehmen. Er hörte bekannte Leute reden, und es war ihm auch, als ob er sie verstünde. Dannerinnerte er sich, daß er diese Reden schon längst gehört hatte. Er begriff, daß er sie jetzt nur noch einmal vernahm, lediglich ihr Echo, dasso lange in seinem Gedächtnis gewartet hatte.

Auf einmal rauschte es links im Getreide, obwohl sich kein Wind erhoben hatte. Es rauschte immer näher, jetzt konnte Mendel auch sehen,wie sich die mannshohen Ähren bewegten, zwischen ihnen mußte einMensch schleichen, wenn nicht ein riesiges Tier, ein Ungetüm. Davonlaufen wäre wohl richtig gewesen, aber Mendel wartete und bereitetesich auf den Tod vor. Ein Bauer oder ein Soldat würde jetzt aus demKorn treten, Mendel des Diebstahls bezichtigen und auf der Stelle erschlagen, mit einem Stein vielleicht. Es könnte auch ein Landstreichersein, ein Mörder, ein Verbrecher, der nicht belauscht und beobachtetsein wollte. „Heiliger Gott!”, flüsterte Mendel. Da hörte er Stimmen.Es waren zwei, die durch das Getreide gingen, und daß es nicht einerwar, beruhigte den Juden, obwohl er sich gleichzeitig sagte, daß eseben zwei Mörder sein dürften. Nein, es waren keine Mörder, es warein Liebespaar. Eine Mädchenstimme sprach, ein Mann lachte. AuchLiebespaare konnten gefährlich werden, es gab manches Beispiel dafür,daß ein Mann rasend wurde, wenn er einen Zeugen seiner Liebe ergriff. Bald mußten die beiden aus dem Felde treten. Mendel Singerüberwand seinen furchtsamen Ekel vor dem Gewürm der Erde undlegte sich sachte hin, den Blick auf das Getreide gerichtet. Da teiltensich die Ähren, der Mann trat zuerst hervor, ein Mann in Uniform, einSoldat mit dunkelblauer Mütze, gestiefelt und gespornt, das Metallblinkte und klingelte leise. Hinter ihm leuchtete ein gelber Schal auf,ein gelber Schal, ein gelber Schal. Eine Stimme erklang, die Stimme desMädchens. Der Soldat wandte sich um, legte seinen Arm um ihreSchultern, jetzt öffnete sich der Schal, der Soldat ging hinter dem Mädchen, die Hände hielt er an ihrer Brust, eingebettet in den Soldatenging das Mädchen.

Mendel schloß die Augen und ließ das Unglück im Finstern Vorbeigehen. Hätte er nicht Angst gehabt, sich zu verraten, er hätte sich auchgern die Ohren verstopft, um nicht hören zu müssen. So aber mußte erhören: schreckliche Worte, silbernes Klirren der Sporen, leises, wahnsinniges Kichern und ein tiefes Lachen des Mannes. Sehnsüchtig erwartete er jetzt das Kläffen der Hunde. Wenn sie nur laut heulen wollten, sehr laut heulen sollten sie! Mörder hatten aus dem Getreide zutreten, um ihn zu erschlagen. Die Stimmen entfernten sich. Stille wares. Fort war alles. Nichts war gewesen.

Mendel Singer stand eilends auf, sah sich um in der Runde, hob mitbeiden Händen die Schöße seines langen Rockes und lief in die Richtung des Städtchens. Die Fensterläden waren geschlossen, aber mancheFrauen saßen noch vor den Türen und plauderten und schnarrten. Erverlangsamte seinen Lauf, um nicht aufzufallen, er machte nur große,eilige Schritte, die Rockschöße immer noch in den Händen. Vor seinem Hause stand er. Er klopfte ans Fenster. Deborah öffnete es: „Woist Mirjam?”, fragte Mendel. „Sie geht noch spazieren”, sagte Deborah,,,sie ist ja nicht zu halten! Tag und Nacht geht sie spazieren. Eine halbeStunde kaum ist sie im Haus. Gott hat mich gestraft mit diesen Kindern, hat man je in der Welt schon — ” „Sei still”, unterbrach sie Mendel, „wenn Mirjam nach Hause kommt, sag ihr, ich habe nach ihr gefragt. Ich komme heute nicht nach Haus, sondern erst morgen früh.Heute ist der Todestag meines Großvaters Zallel, ich gehe beten.” Under entfernte sich, ohne eine Antwort seiner Frau abzuwarten.

Es konnten kaum drei Stunden verflossen sein, seitdem er das Bethausverlassen hatte. Nun, da er es wieder betrat, war ihm, als kehre er nachvielen Wochen dahin zurück, und er strich mit einer zärtlichen Handüber den Deckel seines alten Gebetpultes und feierte mit ihm ein Wiedersehn. Er klappte es auf und langte nach seinem alten, schwarzenund schweren Buch, das in seinen Händen heimisch war und das erunter tausend gleichartigen Büchern ohne Zögern erkannt hätte. Sovertraut war ihm die lederne Glätte des Einbands mit den erhabenen,runden Inselchen aus Stearin, den verkrusteten Überresten unzähligerlängst verbrannter Kerzen, und die unteren Ecken der Seiten, porös,gelblich, fett, dreimal gewellt durch das jahrzehntelange Umblätternmit angefeuchteten Fingern. Jedes Gebet, dessen er im Augenblick bedurfte, konnte er im Nu aufschlagen. Eingegraben war es in sein Gedächtnis mit den kleinsten Zügen der Physiognomie, die es in diesemGebetbuch trug, der Zahl seiner Zeilen, der Art und Größe des Drucksund der genauen Farbtönung der Seiten.

Es dämmerte im Bethaus, das gelbliche Licht der Kerzen an der östlichen Wand neben dem Schrank der Thorarollen vertrieb das Dunkelnicht, sondern schien sich eher in diesem zu bergen. Man sah denHimmel und einige Sterne durch die Fenster und erkannte alle Gegenstände im Raum, die Pulte, den Tisch, die Bänke, die Papierschnitzelauf dem Boden, die Armleuchter an der Wand, ein paar golden befranste Deckchen. Mendel Singer entzündete zwei Kerzen, klebte sie festam nackten Holz des Pultes, schloß die Augen und begann zu beten.Mit geschlossenen Augen erkannte er, wo eine Seite zu Ende war, mechanisch blätterte er die neue auf. Allmählich glitt sein Oberkörper indas altgewohnte, regelmäßige Schwanken, der ganze Körper betetemit, die Füße scharrten die Dielen, die Hände schlossen sich zu Fäusten und schlugen wie Hämmer auf das Pult, an die Brust, auf das Buchund in die Luft. Auf der Ofenbank schlief ein obdachloser Jude. SeineAtemzüge begleiteten und unterstützten Mendel Singers monotonenGesang, der wie ein heißer Gesang in der gelben Wüste war, verlorenund vertraut mit dem Tode. Die eigene Stimme und der Atem desSchlafenden betäubten Mendel, vertrieben jeden Gedanken aus seinemHerzen, nichts mehr war er als ein Beter, die Worte gingen durch ihnden Weg zum Himmel, ein hohles Gefäß war er, ein Trichter. So beteteer dem Morgen entgegen.

Der Tag hauchte an die Fenster. Da wurden die Lichter kümmerlichund matt, hinter den niedrigen Hütten sah man schon die Sonne emporkommen, mit roten Flammen erfüllte sie die zwei östlichen Fensterdes Hauses. Mendel zerdrückte die Kerzen, verbarg das Buch, öffnetedie Augen und wandte sich zum Gehen. Er trat ins Freie. Es roch nachSommer, trocknenden Sümpfen und erwachtem Grün. Die Fensterläden waren noch geschlossen. Die Menschen schliefen.

Mendel pochte dreimal mit der Hand an seine Tür. Er war kräftig undfrisch, als hätte er traumlos und lange geschlafen. Er wußte genau, waszu tun war. Deborah öffnete. „Mach mir einen Tee”, sagte Mendel,,,dann will ich dir was sagen. Ist Mirjam zu Haus?” „Natürlich”, erwiderte Deborah, „wo sollte sie denn sein? Glaubst du, sie ist schon inAmerika?”

Der Samowar summte, Deborah hauchte in ein Trinkglas und putztees blank. Dann tranken Mendel und Deborah gleichmäßig mit gespitzten, schlürfenden Lippen. Plötzlich setzte Mendel das Glas ab undsagte: „Wir werden nach Amerika fahren. Menuchim muß zurückbleiben. Wir müssen Mirjam mitnehmen. Ein Unglück schwebt über uns,wenn wir bleiben.” Er blieb eine Weile still und sagte dann leise:

„Sie geht mit einem Kosaken.”

Das Glas fiel klirrend aus den Händen Deborahs. Mirjam erwachte inder Ecke, und Menuchim regte sich in seinem dumpfen Schlaf. Dannblieb es still. Millionen Lerchen trillerten über dem Haus, unter demHimmel.

Mit einem hellen Blitz schlug die Sonne ans Fenster, traf den blankenSamowar aus Blech und entzündete ihn zu einem gewölbten Spiegel.So begann der Tag.

VII

Nach Dubno fährt man mit Sameschkins Fuhre; nach Moskau fährtman mit der Eisenbahn; nach Amerika fährt man nicht nur auf einemSchiff, sondern auch mit Dokumenten. Um diese zu bekommen, mußman nach Dubno.

Also begibt sich Deborah zu Sameschkin. Sameschkin sitzt nicht mehrauf der Ofenbank, er ist überhaupt nicht zu Haus, es ist Donnerstagund Schweinemarkt, Sameschkin kann erst in einer Stunde heimkehren.

Deborah geht auf und ab, auf und ab vor Sameschkins Hütte, sie denktnur an Amerika.

Ein Dollar ist mehr als zwei Rubel, ein Rubel hat hundert Kopeken,zwei Rubel enthalten zweihundert Kopeken, wieviel, um Gottes willen, enthält ein Dollar Kopeken? Wieviel Dollar ferner wird Schemarjah schicken? Amerika ist ein gesegnetes Land.

Mirjam geht mit einem Kosaken, in Rußland kann sie es wohl, in Amerika gibt es keine Kosaken. Rußland ist ein trauriges Land, Amerika istein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehrsein, der Vater eines reichen Sohnes wird er sein.

Es dauert nicht eine Stunde, es dauert nicht zwei Stunden, erst nachdrei Stunden hört Deborah Sameschkins genagelte Stiefel.

Es ist Abend, aber immer noch heiß. Die schräge Sonne ist schon gelbgeworden, aber weichen will sie nicht, sehr langsam geht sie heute unter. Deborah schwitzt vor Hitze und Aufregung und hundert ungewohnten Gedanken.

Nun, da Sameschkin herankommt, wird ihr noch mehr heiß. Er trägteine schwere Bärenmütze, zottelig und an einigen Stellen räudig, undeinen kurzen Pelz über schmutzigen Leinenhosen, die in den schwerenStiefeln stecken. Dennoch schwitzt er nicht.

In dem Augenblick, in dem ihn Deborah sieht, riecht sie ihn auchschon, denn er stinkt nach Branntwein. Einen schweren Stand wird siemit ihm haben. Es ist schon keine Kleinigkeit, den nüchternen Sameschkin herumzukriegen.

Am Montag ist Schweinemarkt in Dubno. Es ist nicht von Vorteil, daßSameschkin bereits den Schweinemarkt zu Hause absolviert hat, erdürfte keine Veranlassung mehr haben, nach Dubno zu fahren, und dieFuhre wird Geld kosten.

Deborah tritt Sameschkin mitten in den Weg. Er taumelt, die schwerenStiefel halten ihn aufrecht. Ein Glück, daß er nicht barfuß ist! denktDeborah, nicht ohne Verachtung.

Sameschkin erkennt die Frau nicht, die ihm den Weg verstellt. „Wegmit den Weibern!”, ruft er und macht eine Bewegung mit der Hand,halb ein Griff und halb ein Schlagen.

„Ich bin es!”, sagt Deborah tapfer. „Montag fahren wir nach Dubno!”,,Gott segne dich!”, ruft Sameschkin freundlich. Er bleibt stehen undstützt sich mit dem Ellenbogen auf Deborahs Schulter. Sie hat Angst,sich zu rühren, damit Sameschkin nicht hinfalle.

Sameschkin wiegt gute siebzig Kilo, sein ganzes Gewicht liegt jetzt imEllenbogen, und dieser Ellenbogen liegt auf Deborahs Schulter.

Zum ersten Mal ist ihr ein fremder Mann so nahe. Sie fürchtet sich, abersie denkt zugleich auch, daß sie schon alt ist, sie denkt auch an MirjamsKosaken und wie lange sie Mendel nicht mehr berührt hat.

„Ja, mein Süßes”, sagt Sameschkin, „wir fahren Montag nach Dubnound unterwegs schlafen wir miteinander.”

„Pfui, du Alter”, sagt Deborah, „ich werde es deiner Frau sagen, vielleicht bist du besoffen?” „Besoffen ist er nicht”, erwiderte Sameschkin,,,er hat nur gesoffen. Was willst du überhaupt in Dubno, wenn dunicht mit Sameschkin schläfst?”

„Dokumente machen”, sagt Deborah, „wir fahren nach Amerika.”

„Die Fuhre kostet fünfzig Kopeken, wenn du nicht schläfst, und dreißig, wenn du mit ihm schläfst. Ein Kindchen wird er dir machen, bekommen wirst du es in Amerika, ein Andenken an Sameschkin.”

Deborah erschauert, mitten in der Hitze.

Dennoch sagt sie, aber erst nach einer Minute: „Ich schlafe nicht mitdir und zahle fünfunddreißig Kopeken.”

Sameschkin steht plötzlich frei, er hat den Ellenbogen von DeborahsSchulter weggezogen, es scheint, daß er nüchtern geworden ist.

„Fünfunddreißig Kopeken”, sagt er mit fester Stimme.

„Montag um fünf Uhr früh.”

„Montag um fünf Uhr früh.”

Sameschkin kehrt in seinen Hof ein, und Deborah geht langsam nachHaus.

Die Sonne ist untergegangen. Der Wind kommt vom Westen, am Horizont schichten sich violette Wolken, morgen wird es regnen. Deborah denkt: Morgen wird es regnen, und fühlt einen rheumatischenSchmerz im Knie, sie begrüßt ihn, den alten, treuen Feind. DerMensch wird alt! denkt sie. Die Frauen werden schneller alt als dieMänner, Sameschkin ist genauso alt wie sie und noch älter. Mirjam istjung, sie geht mit einem Kosaken.

Vor dem Wort „Kosaken”, das sie laut gesagt hatte, war Deborah erschrocken. Es war, als ob erst der Klang ihr die Furchtbarkeit des Tatbestands bewußtgemacht hätte.

Zu Hause sah sie ihre Tochter Mirjam und ihren Mann Mendel. Siesaßen am Tisch, der Vater und die Tochter, und sie schwiegen so beharrlich, daß Deborah sofort beim Eintritt wußte, daß es bereits einaltes Schweigen war, ein heimisches, festgesiedeltes Schweigen.

„Ich habe mit Sameschkin gesprochen”, begann Deborah. „Montagum fünf Uhr früh fahre ich nach Dubno um die Dokumente. Fünfunddreißig Kopeken will er.” Und da sie der Teufel der Eitelkeit ritt, fügtesie hinzu: „So billig fährt er nur mit mir!”

„Du kannst überhaupt nicht allein fahren”, sagte, Müdigkeit in derStimme und Bangnis im Herzen, Mendel Singer. „Ich habe mit vielenJuden gesprochen, die sich auskennen. Sie sagen, ich muß selber beimUrjadnik sein.”

„Du beim Urjadnik?”

Es war in der Tat nicht einfach, sich Mendel Singer in einem Amtvorzustellen. Nie in seinem Leben hatte er mit einem Urjadnik gesprochen. Nie hatte er einem Polizisten begegnen können, ohne zu zittern.Den Uniformierten, den Pferden und den Hunden ging er sorgfältigaus dem Weg. Mendel sollte mit einem Urjadnik sprechen?

„Kümmere dich nicht, Mendel”, sagte Deborah, „um die Dinge, die dunur verderben kannst. Ich allein werde alles richten.”

„Alle Juden”, wendete Mendel ein, „haben mir gesagt, daß ich persönlich erscheinen muß.”

„Dann fahren wir Montag zusammen!”

„Und wo wird Menuchim sein?”

„Mirjam bleibt bei ihm!”

Mendel sah seine Frau an. Er versuchte, mit seinem Blick ihre Augenzu treffen, die sie unter den Lidern furchtsam verbarg. Mirjam, die voneiner Ecke aus den Tisch betrachtete, konnte den Blick ihres Vaterssehen, ihr Herz ging schneller. Montag war sie verabredet. Montag warsie verabredet. Die ganze heiße Zeit des Spätsommers war sie verabredet. Ihre Liebe blühte spät, zwischen den hohen Ähren, Mirjam hatteAngst vor der Ernte. Sie hörte schon manchmal, wie die Bauern sichvorbereiteten, wie sie die Sicheln wetzten an den blauen Schleifsteinen.Wo sollte sie hin, wenn die Felder kahl wurden? Sie mußte nach Amerika. Eine vage Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika,zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld, tröstete sie über das Nahen der Ernte. Schon kam sie.Mirjam hatte keine Zeit zu verlieren. Sie liebte Stepan. Er würde zurückbleiben. Sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen, ihregewaltigen Hände zündeten dennoch sachte die Flammen im Herzenan. Stepan hießen die Männer, Iwan und Wsewolod. In Amerika gab esnoch viel mehr Männer.

„Ich bleibe nicht allein zu Hause”, sagte Mirjam, „ich habe Angst!”,,Man muß ihr”, ließ sich Mendel vernehmen, „einen Kosaken insHaus stellen. Damit er sie bewacht.”

Mirjam wurde rot. Sie glaubte, daß der Vater ihre Röte sah, obwohl siein der Ecke, im Schatten stand. Ihre Röte mußte doch durch das Dunkel leuchten, wie eine rote Lampe war Mirjams Angesicht entzündet.Sie bedeckte es mit den Händen und brach in Tränen aus.

„Geh hinaus!”, sagte Deborah, „es ist spät, mach die Fensterläden zu!”Sie tastete sich hinaus, vorsichtig, die Hände immer noch vor den Augen. Draußen blieb sie einen Moment stehen. Alle Sterne des Himmelsstanden da, nah und lebendig, als hätten sie Mirjam vor dem Hauserwartet. Ihre klare, goldene Pracht enthielt die Pracht der großen,freien Welt, kleine Spiegelchen waren sie, in denen sich der GlanzAmerikas spiegelte.

Sie trat ans Fenster, sah hinein, versuchte aus den Mienen der Eltern zuerkennen, was sie sprechen mochten. Sie erkannte nichts. Sie löste dieeisernen Haken von dem Holz der aufgeklappten Läden und schloßdie beiden Flügel wie einen Schrank. Sie dachte an einen Sarg. Sie begrub die Eltern in dem kleinen Häuschen. Sie fühlte keine Wehmut.Mendel und Deborah Singer waren begraben. Die Welt war weit undlebendig. Stepan, Iwan und Wsewolod lebten. Amerika lebte, jenseitsdes großen Wassers, mit all seinen hohen Häusern und mit MillionenMännern.

Als sie wieder ins Zimmer trat, sagte ihr Vater, Mendel Singer:

„Sogar die Läden kann sie nicht schließen, eine halbe Stunde brauchtsie dazu!”

Er ächzte, erhob sich und trat an die Wand, an der die kleine Petroleumlampe hing, dunkelblauer Behälter, rußiger Zylinder, durch einenrostigen Draht verbunden mit einem gesprungenen runden Spiegel, derdie Aufgabe hatte, das spärliche Licht kostenlos zu verstärken. Dieobere Öffnung des Zylinders überragte Mendel Singers Kopf. Vergeblich versuchte er, die Lampe auszupusten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, er blies, aber der Docht flackerte nur stärker auf.

Indessen entzündete Deborah ein kleines, gelbliches Wachslicht undstellte es auf den Ziegelherd. Mendel Singer stieg krächzend auf einenSessel und blies endlich die Lampe aus. Mirjam legte sich in die Ecke,neben Menuchim. Erst wenn es finster war, wollte sie sich ausziehen.Sie wartete atemlos, mit geschlossenen Lidern, bis der Vater seinNachtgebet zu Ende gemurmelt hatte. Durch ein rundes Astloch imFensterladen sah sie das blaue und goldene Schimmern der Nacht. Sieentkleidete sich und befühlte ihre Brüste. Sie taten ihr weh. Ihre Hauthatte ein eigenes Gedächtnis und erinnerte sich an jeder Stelle der großen, harten und heißen Hände der Männer. Ihr Geruch hatte ein eigenes Gedächtnis und behielt den Duft von Männerschweiß, Branntweinund Juchten unablässig, mit quälender Treue. Sie hörte das Schnarchender Eltern und das Röcheln Menuchims. Da erhob sich Mirjam, imHemd, barfuß, mit den schweren Zöpfen, die sie nach vorne legte undderen Enden bis zu den Schenkeln reichten, schob den Riegel zurückund trat hinaus in die fremde Nacht. Sie atmete tief. Es schien ihr, daßsie die ganze Nacht einatmete, alle goldenen Sterne verschlang sie mitdem Atem, immer noch mehr brannten am Himmel. Frösche quaktenund Grillen zirpten, den nordöstlichen Rand des Himmels säumte einbreiter, silberner Streifen, in dem schon der Morgen enthalten zu seinschien. Mirjam dachte an das Kornfeld, ihr Hochzeitslager. Sie gingrund um das Haus. Da schimmerte von ferne her die große, weißeMauer der Kaserne. Ein paar kärgliche Lichter schickte sie Mirjam entgegen. In einem großen Saal schliefen Stepan, Iwan und Wsewolodund viele andere Männer.

Morgen war Freitag. Alles mußte man für den Samstag vorbereiten, dieFleischkugeln, den Hecht und die Hühnerbrühe. Das Backen begannschon um sechs Uhr morgens. Als der breite, silberne Streifen rötlichwurde, schlich sich Mirjam wieder in die Stube. Sie schlief nicht mehrein. Durch das Astloch im Fensterladen sah sie die ersten Flammen derSonne. Schon regten sich Vater und Mutter im Schlaf. Der Morgen warda.

Der Sabbat verging, den Sonntag verbrachte Mirjam im Kornfeld, mitStepan. Sie gingen schließlich weit hinaus, ins nächste Dorf, Mirjamtrank Schnaps. Den ganzen Tag suchte man sie zu Hause. Mochte mansie suchen! Ihr Leben war kostbar, der Sommer war kurz, bald beganndie Ernte. Im Walde schlief sie noch einmal mit Stepan. Morgen, Montag, fuhr der Vater nach Dubno die Papiere besorgen.

Um fünf Uhr früh am Montag erhob sich Mendel Singer. Er trank Tee,betete, legte dann schnell die Gebetsriemen ab und ging zu Sameschkin. „Guten Morgen!”, rief er von weitem. Es war Mendel Singer, alsbegänne schon hier, vor dem Einsteigen in die Fuhre Sameschkins, dieAmtshandlung und als müßte er Sameschkin begrüßen wie einen Urjadnik.

„Ich fahre lieber mit deiner Frau!”, sagte Sameschkin. „Sie ist nochansehnlich für ihre Jahre und hat einen anständigen Busen.”

„Fahren wir”, sagte Mendel.

Die Pferde wieherten und schlugen mit den Schwänzen auf ihre Hinterteile. „Hej! Wjo!”, rief Sameschkin und knallte mit der Peitsche.

Um elf Uhr vormittags kamen sie nach Dubno.

Mendel mußte warten. Er trat, die Mütze in der Hand, durch dasgroße Portal. Der Portier trug einen Säbel.

„Wohin willst du?”, fragte er.

„Ich will nach Amerika — wo muß ich hin?”

„Wie heißt du?”

„Mendel Mechelovitsch Singer.”

„Wozu willst du nach Amerika?”

„Geld verdienen, es geht mir schlecht.”

„Du gehst auf Nummer 84”, sagte der Portier. „Dort warten schonviele.”

Sie saßen in einem großen, gewölbten, ockergelb getünchten Korridor.Männer in blauen Uniformen wachten vor den Türen. Die Wände entlang standen braune Bänke — alle Bänke waren besetzt. Aber sooft einNeuer kam, machten die blauen Männer eine Handbewegung; und dieschon saßen, rückten zusammen, und immer wieder nahm ein NeuerPlatz. Man rauchte, spuckte, knackte Kürbiskerne und schnarchte.Der Tag war hier kein Tag. Durch das Milchglas eines sehr hohen, sehrfernen Oberlichts konnte man eine blasse Ahnung vom Tag erhaschen.Uhren tickten irgendwo, aber sie gingen gleichsam neben der Zeit einher, die in diesen hohen Korridoren stillestand.

Manchmal rief ein Mann in blauer Uniform einen Namen aus. AlleSchläfer erwachten. Der Aufgerufene erhob sich, wankte einer Tür zu,rückte an seinem Anzug und trat durch eine der hohen, zweiflügeligenTüren, die statt einer Klinke einen runden, weißen Knopf hatte. Mendel überlegte, wie er diesen Knopf behandeln würde, um die Tür aufzumachen. Er stand auf, vom langen Sitzen, eingezwängt zwischen denMenschen, taten ihm die Glieder weh. Kaum aber hatte er sich erhoben, als ein blauer Mann auf ihn zutrat. „Sidaj!”, rief der blaue Mann,,,setz dich!” Mendel Singer fand keinen Platz mehr auf seiner Bank. Erblieb neben ihr stehen, drückte sich an die Wand und hatte denWunsch, so flach zu werden wie die Mauer.

„Wartest du auf Nummer 84?”, fragte der blaue Mann.

„Ja”, sagte Mendel. Er war überzeugt, daß man jetzt gesonnen war, ihnendgültig hinauszuwerfen. Deborah wird noch einmal hierherfahrenmüssen. Fünfzig Kopeken und fünfzig Kopeken machen einen Rubel.Aber der blaue Mann hatte nicht die Absicht, Mendel aus dem Haus zuweisen. Dem blauen Mann lag vor allem daran, daß alle Wartendenihre Plätze behielten und daß er alle übersehen konnte. Wenn einerschon aufstand, so konnte er auch eine Bombe werfen.

Anarchisten verkleiden sich manchmal, dachte der Türsteher. Und erwinkte Mendel zu sich heran, betastete den Juden, fragte nach denPapieren. Und da alles in Ordnung war und Mendel keinen Platz mehrhatte, sagte der blaue Mann: „Paß auf! Siehst du die gläserne Tür? Diemachst du auf. Dort ist Nummer 84.”

„Was willst du hier?”, schrie ein breitschultriger Mann hinter demSchreibtisch. Genau unter dem Bild des Zaren saß der Beamte. Er bestand aus einem Schnurrbart, einem kahlen Kopf, Epauletten undKnöpfen. Er war wie eine schöne Büste hinter seinem breiten Tintenfaß aus Marmor, „Wer hat dir erlaubt, hier ohne weiteres einzutreten?Warum meldest du dich nicht an?”, polterte eine Stimme aus der Büste.Mendel Singer verbeugte sich unterdessen tief. Auf solch einen Empfang war er nicht vorbereitet gewesen. Er beugte sich und ließ denDonner über seinen Rücken dahinstreichen, er wollte winzig werden,dem Erdboden gleich, wie wenn er von einem Gewitter auf freiemFelde überrascht worden wäre. Die Falten seines langen Rockes schlugen auseinander, und der Beamte sah ein Stück von Mendel Singersfadenscheiniger Hose und das abgeschabte Leder der Stiefelschäfte.Dieser Anblick machte den Beamten milder. „Tritt näher!”, befahl er,und Mendel rückte näher, den Kopf vorgeschoben, als wollte er gegenden Schreibtisch vorstoßen. Erst als er sah, daß er sich schon demSaum des Teppichs näherte, hob Mendel ein wenig den Kopf. Der Beamte lächelte.

„Her mit den Papieren!”, sagte er.

Dann war es still. Man hörte eine Uhr ticken. Durch die Jalousienbrach das goldene Licht eines späten Nachmittags. Die Papiere raschelten. Manchmal sann der Beamte eine Weile nach, blickte in dieLuft und haschte plötzlich mit der Hand nach einer Fliege. Er hielt daswinzige Tier in seiner riesigen Faust, öffnete sie vorsichtig, zupfteeinen Flügel ab, dann den zweiten und sah noch ein bißchen zu, wiedas verkrüppelte Insekt auf dem Schreibtisch weiterkroch.

„Das Gesuch?”, fragte er plötzlich, „wo ist das Gesuch?”

„Ich kann nicht schreiben, Euer Hochwohlgeboren!”, entschuldigtesich Mendel.

„Das weiß ich, du Tepp, daß du nicht schreiben kannst! Ich habe nichtnach deinem Schulzeugnis gefragt, sondern nach dem Gesuch. Undwozu haben wir einen Schreiber? Ha? Im Parterre? Auf Nummer 3?Ha? Wozu erhält der Staat einen Schreiber? Für dich, du Esel, weil dueben nicht schreiben kannst. Also geh auf Nummer 3. Schreib das Gesuch. Sag, ich schicke dich, damit du nicht zu warten brauchst undgleich behandelt wirst. Dann kommst du zu mir. Aber morgen! Undmorgen Nachmittag kannst du meinetwegen wegfahren!”

Noch einmal verneigte sich Mendel. Er ging rückwärts, er wagte nicht,dem Beamten den Rücken zu kehren, unendlich lang schien ihm derWeg vom Schreibtisch zur Tür. Er glaubte, schon eine Stunde zu wandern. Endlich fühlte er die Nähe der Tür. Er wandte sich schnell um,ergriff den Knopf, drehte ihn zuerst links, dann rechts, dann machte ernoch eine Verbeugung. Er stand endlich wieder im Korridor.

In Nummer 3 saß ein gewöhnlicher Beamter, ohne Epauletten. Es wareine dumpfe, niedrige Stube, viele Menschen umstanden den Tisch, derSchreiber schrieb und schrieb, die Feder stieß er jedes Mal ungeduldigauf den Boden des Tintenbehälters. Er schrieb flink, aber er wurdenicht fertig. Immer kamen neue Menschen. Trotzdem hatte er nochZeit, Mendel zu bemerken.

„Euer Hochwohlgeboren, der Herr von Nummer 84 schickt mich”,sagte Mendel.

„Komm her”, sagte der Schreiber.

Man machte Mendel Singer Platz.

„Einen Rubel für den Stempel!”, sagte der Schreiber. Mendel kramteeinen Rubel aus seinem blauen Taschentuch. Es war ein harter, blankerRubel. Der Schreiber nahm die Münze nicht, er erwartete noch mindestens fünfzig Kopeken. Mendel verstand nichts von den ziemlich deutlichen Wünschen des Schreibers.

Da wurde der Schreiber böse. „Sind das Papiere?”, sagte er. „Fetzensind es! Die zerfallen einem ja in der Hand.” Und er zerriß wie unabsichtlich eines der Dokumente, es zerfiel in zwei gleiche Teile, und derBeamte griff nach dem Gummiarabikum, um es zusammenzukleben.Mendel Singer zitterte.

Das Gummiarabikum war zu trocken, der Beamte spuckte in dasFläschchen, dann hauchte er es an. Aber es blieb trocken. Er hatteplötzlich einen Einfall, man sah ihm an, daß er plötzlich einen Einfallhatte. Er schloß eine Schublade auf, legte Mendel Singers Papiere hinein, schloß sie wieder zu, riß von einem Block einen kleinen, grünenZettel, bestempelte ihn, gab ihn Mendel und sagte: „Weißt du was?Morgen früh um neun Uhr kommst du her! Da sind wir allein. Dakönnen wir ruhig miteinander sprechen. Deine Papiere sind hier beimir. Du holst sie morgen ab. Den Zettel zeigst du vor!”

Mendel ging. Sameschkin wartete draußen, neben den Pferden saß erauf den Steinen, die Sonne ging unter, der Abend kam.

„Wir fahren erst morgen”, sagte Mendel, „um neun Uhr früh muß ichwiederkommen.”

Er suchte nach einem Bethaus, um übernachten zu können. Er kaufteein Stück Brot, zwei Zwiebeln, steckte alles in die Tasche, hielt einenJuden auf und fragte ihn nach dem Bethaus. „Gehen wir zusammen”,sagte der Jude.

Unterwegs erzählte Mendel seine Geschichte.

„Bei uns im Bethaus”, sagte der Jude, „kannst du einen Mann treffen,der dir die ganze Sache besorgt. Er hat schon viele Familien nach Amerika geschickt. Kennst du Kapturak?”

„Kapturak? Natürlich! Er hat meinen Sohn weggeschickt!”

„Alte Kundschaft!”, sagte Kapturak. Im Spätsommer hielt er sich inDubno auf, er ordinierte in den Bethäusern. „Damals war deine Fraubei mir. An deinen Sohn erinnere ich mich noch. Gut geht es ihm, was?Kapturak hat eine glückliche Hand.”

Es erwies sich, daß Kapturak bereit war, die Angelegenheit zu über nehmen. Es kostete vorläufig zehn Rubel per Kopf. Einen Vorschußvon zehn Rubeln konnte Mendel nicht geben. Kapturak wußte einenAusweg. Er ließ sich die Adresse vom jungen Singer geben. In vierWochen hat er Antwort und Geld, wenn der Sohn wirklich die Absicht hat, seine Eltern kommen zu lassen.

„Gib mir den grünen Zettel, den Brief aus Amerika, und verlaß dichauf mich!”, sprach Kapturak. Und die Umstehenden nickten. „Fahrheute noch nach Hause. In ein paar Tagen komme ich bei euch vorbei.Verlaß dich auf Kapturak!”

Ein paar Umstehende wiederholten: „Verlaß dich ruhig auf Kapturak!”

„Es ist ein Glück”, sagte Mendel, „daß ich euch hier getroffen habe!”Alle gaben ihm die Hand und wünschten ihm eine gute Fahrt. Erkehrte zum Marktplatz zurück, wo Sameschkin wartete. Sameschkinwar schon im Begriff, sich in seinem Wagen schlafen zu legen. „Miteinem Juden kann nur der Teufel etwas Gewisses ausmachen!”, sagteer. „Also fahren wir doch noch!”

Sie fuhren.

Sameschkin band sich die Zügel ums Handgelenk, er gedachte, ein wenig zu schlafen. Er nickte wirklich ein, die Pferde scheuten vor demSchatten einer Vogelscheuche, die ein Spitzbube aus einem Feld fortgetragen und an den Straßenrand gestellt hatte. Die Tiere setzten sich inGalopp, die Fuhre schien sich in die Luft zu heben, bald, so glaubteMendel, würde sie zu flattern beginnen, auch sein Herz galoppierte,wie ihm schien, es wollte die Brust verlassen und in die Weite hüpfen.Auf einmal stieß Sameschkin einen lauten Fluch aus. Die Fuhre glitt ineinen Graben, die Pferde ragten noch mit den Vorderbeinen auf dieStraße, Sameschkin lag auf Mendel Singer.

Sie kletterten wieder hervor. Die Deichsel war zersplittert, ein Rad warlocker geworden, einem anderen fehlten zwei Speichen. Sie mußten dieNacht über hierbleiben. Morgen wollte man sehn.

„So beginnt deine Reise nach Amerika”, sagte Sameschkin. „Was fahrtihr auch immer so viel in der Welt herum! Der Teufel schickt euch voneinem Ort zum andern. Unsereins bleibt, wo er geboren ist, und nurwenn Krieg ist, zieht man nach Japan!”

Mendel Singer schwieg. Er saß am Straßenrand, neben Sameschkin.Zum ersten Mal in seinem Leben saß Mendel Singer auf der nacktenErde, mitten in der wilden Nacht, neben einem Bauern. Er sah übersich den Himmel und die Sterne und dachte: Sie verdecken Gott. Alldas hat der Herr in sieben Tagen geschaffen. Und wenn ein Jude nachAmerika fahren will, braucht es Jahre!

„Siehst du, wie schön das Land ist?”, fragte Sameschkin. „Bald wird dieErnte kommen. Es ist ein gutes Jahr. Wenn es so gut ist, wie ich mirvorstelle, kaufe ich noch ein Pferd im Herbst. Hörst du was von deinem Sohn Jonas? Er versteht was von Pferden. Er ist ganz anders alsdu. Hat dich dein Weib vielleicht einmal betrogen?” „Alles ist möglich”, erwiderte Mendel. Es war ihm auf einmal sehr leicht, alleskonnte er begreifen, die Nacht machte ihn frei von Vorurteilen. Erschmiegte sich sogar an Sameschkin wie an einen Bruder.

„Alles ist möglich”, wiederholte er, „die Weiber taugen nichts.”

Plötzlich begann Mendel zu schluchzen. Mendel weinte, mitten ineiner fremden Nacht, neben Sameschkin.

Der Bauer drückte seine Fäuste gegen die Augen, denn er fühlte, daß erauch weinen würde.

Dann legte er einen Arm um die dünnen Schultern Mendels und sagteleise:

„Schlaf, lieber Jude, schlaf dich aus!”

Er blieb lange wach. Mendel Singer schlief und schnarchte. Die Frösche quakten bis zum Morgen.

VIII

Zwei Wochen später rollte in einer großen Staubwolke ein kleiner,zweirädriger Wagen vor das Haus Mendel Singers und brachte einenGast: Es war Kapturak.

Er berichtete, daß die Papiere bereit waren. Sollte eine Antwort in vierWochen von Schemarjah, genannt Sam, aus Amerika kommen, sowürde die Abreise der Familie Singer gesichert sein. Nur dieses hatteKapturak sagen wollen; und daß ein Vorschuß von zwanzig Rubelnihm angenehmer wäre, als wenn er das Geld später von der SummeSchemarjahs abziehen müßte.

Deborah ging in die Rumpelkammer aus faulen Holzplanken, die indem kleinen Hof stand, zog die Bluse über den Kopf, holte ein verknotetes Taschentuch aus dem Busen und zählte sich acht harte Rubel indie Hand. Dann stülpte sie die Bluse wieder über, ging ins Haus undsagte zu Kapturak: „Das ist alles, was ich bei den Nachbarn auftreibenkonnte. Sie müssen sich damit zufriedengeben.”

„Einer alten Kundschaft sieht man was nach!”, sagte Kapturak,schwang sich auf sein federleichtes, gelbes Wägelchen und verschwandalsbald in einer Staubwolke.

„Kapturak war bei Mendel Singer!”, riefen die Leute im Städtchen.,,Mendel fährt nach Amerika.”

In der Tat begann bereits die Reise Mendel Singers nach Amerika. AlleLeute gaben ihm Ratschläge gegen die Seekrankheit. Ein paar Käufererschienen, Mendels Häuschen zu besichtigen. Man war bereit, tausend Rubel dafür zu zahlen, eine Summe, für die Deborah fünf Jahreihres Lebens gegeben hätte.

Mendel Singer aber sagte: „Weißt du, Deborah, daß Menuchim zurückbleiben muß? Bei wem wird er bleiben? Billes verheiratet im nächsten Monat seine Tochter an den Musikanten Fogl. Bis sie ein Kindbekommen, können die jungen Leute Menuchim behalten. Dafür geben wir ihnen die Wohnung, und wir nehmen kein Geld.”

„Ist es schon für dich eine ausgemachte Sache, daß Menuchim zurückbleibt? Es sind noch ein paar Wochen mindestens bis zu unserer Abreise, bis dahin tut Gott sicher ein Wunder.”

„Wenn Gott ein Wunder tun will”, erwiderte Mendel, „wird er es dichnicht vorher wissen lassen. Man muß hoffen. Fahren wir nicht nachAmerika, so geschieht ein Unglück mit Mirjam. Fahren wir nach Amerika, so lassen wir hier Menuchim zurück. Sollen wir Mirjam alleinnach Amerika schicken? Wer weiß, was sie anstellt, allein unterwegsund allein in Amerika. Menuchim ist krank, daß ihm nur ein Wunderhelfen kann. Hilft ihm aber ein Wunder, so kann er uns folgen. DennAmerika ist zwar sehr weit; aber es liegt dennoch nicht außerhalb dieser Welt.”

Deborah blieb still. Sie hörte die Worte des Rabbi von Kluczysk:,,Verlaß ihn nicht, bleibe bei ihm, als wenn er ein gesundes Kindwäre!” Sie blieb nicht bei ihm. Lange Jahre, Tag und Nacht, Stunde umStunde hatte sie auf das verheißene Wunder gewartet. Die Toten imJenseits halfen nicht, der Rabbi half nicht, Gott wollte nicht helfen.Ein Meer von Tränen hatte sie geweint. Nacht war in ihrem Herzen,Kummer in jeder Freude gewesen seit Menuchims Geburt. Alle Festewaren Qualen gewesen und alle Feiertage Trauertage. Es gab keinenFrühling mehr und keinen Sommer. Winter hießen alle Jahreszeiten.Die Sonne ging auf, aber sie wärmte nicht. Die Hoffnung allein wolltenicht sterben. „Der bleibt ein Krüppel”, sagten alle Nachbarn. Dennihnen war kein Unglück zugestoßen, und wer kein Unglück hat,glaubt auch nicht an Wunder.

Auch wer Unglück hat, glaubt nicht an Wunder. Wunder geschahenvor ganz alten Zeiten, als die Juden noch in Palästina lebten. Seitdemsind keine mehr gewesen. Dennoch: Hatte man nicht mit Recht merkwürdige Taten des Rabbi von Kluczysk erzählt? Hatte er nicht schonBlinde sehend gemacht und Gelähmte erlöst? Wie war es mit NathanPiczeniks Tochter? Verrückt war sie gewesen. Man brachte sie nachKluczysk. Der Rabbi sah sie an. Er sagte seinen Spruch. Dann spuckteer dreimal aus. Und Piczeniks Tochter ging frei, leicht und vernünftignach Haus.

Andere Menschen haben Glück, dachte Deborah. Für Wunder mußman auch Glück haben. Mendel Singers Kinder haben aber keinGlück! Sie sind eines Lehrers Kinder!

„Wenn du ein vernünftiger Mensch wärest”, sagte sie zu Mendel, „sowürdest du morgen nach Kluczysk fahren und den Rabbi um Rat fragen.”

„Ich?”, fragte Mendel. „Was soll ich bei deinem Rabbi? Bist einmaldort gewesen, fahr noch einmal hin! Glaubst an ihn, dir wird er einenRat geben. Du weißt, daß ich nichts davon halte. Kein Jude brauchteinen Vermittler zum Herrn. Er erhört unsere Gebete, wenn wir nichtsUnrechtes tun. Wenn wir aber Unrechtes tun, kann er uns strafen!”

„Wofür straft er uns jetzt? Haben wir Unrecht getan? Warum ist ergrausam?”

„Du lästerst ihn, Deborah, laß mich in Ruh’, ich kann nicht länger mitdir reden.” Und Mendel vertiefte sich in ein frommes Buch.

Deborah griff nach ihrem Schal und ging hinaus. Draußen stand Mirjam. Sie stand da, gerötet von der untergehenden Sonne, in einem weißen Kleid, das jetzt orangen schimmerte, mit ihren glatten, glänzendenschwarzen Haaren und sah gradaus in die untergehende Sonne mit ihren großen, schwarzen Augen, die sie weit offenhielt, obwohl sie dieSonne ja blenden mußte. Sie ist schön, dachte Deborah, so schön binich auch einmal gewesen, so schön wie meine Tochter — was ist aus mirgeworden? Mendel Singers Frau bin ich geworden. Mirjam geht miteinem Kosaken, sie ist schön, vielleicht hat sie recht.

Mirjam schien ihre Mutter nicht zu sehn. Sie beobachtete mit leidenschaftlicher Genauigkeit die glühende Sonne, die jetzt hinter einemschweren, violetten Wall von Wolken versinken wollte. Seit einigenTagen stand diese dunkle Masse jeden Abend im Westen, kündigteSturm und Regen an und war am nächsten Tag wieder verschwunden.Mirjam hatte beobachtet, daß in dem Augenblick, in dem die Sonneuntergetaucht war, drüben in der Kavalleriekaserne die Soldaten zusingen begannen, eine ganze Sotnia begann zu singen, immer dasselbeLied: „Polubil ja tibia za twoju krasotu.” Der Dienst war zu Ende, dieKosaken begrüßten den Abend. Mirjam wiederholte summend denText des Liedes, von dem sie nur die ersten zwei Verse kannte: „Ichhabe dich liebgewonnen, deiner Schönheit wegen.” Ihr galt das Liedeiner ganzen Sotnia! Hundert Männer sangen ihr zu. Eine halbeStunde später traf sie sich mit einem von ihnen oder auch mit zweien.Manchmal kamen drei.

Sie erblickte die Mutter, blieb ruhig stehen, wußte, daß Deborah herüberkommen würde. Seit Wochen wagte die Mutter nicht mehr, Mirjam zu rufen. Es war, als ginge von Mirjam selbst ein Teil des Schreckens aus, der die Kosaken umgab, als stünde die Tochter schon unterdem Schutz der fremden und wilden Kaserne.

Nein, Deborah rief Mirjam nicht mehr. Deborah kam zu Mirjam. Deborah, in einem alten Schal, stand alt, häßlich, ängstlich vor der goldüberglänzten Mirjam, hielt ein am Rande des hölzernen Bürgersteigs,als befolgte sie ein altes Gesetz, das den häßlichen Müttern befahl,einen halben Werst tiefer zu stehen als die schönen Tochter.

„Der Vater ist bös, Mirjam!”, sagte Deborah.

„Laß ihn böse sein”, erwiderte Mirjam, „deinen Mendel Singer.”

Zum ersten Mal hörte Deborah den Namen des Vaters aus dem Mundeeines ihrer Kinder. Einen Augenblick schien es ihr, daß hier eineFremde sprach, nicht Mendels Kind. Eine Fremde — weshalb sollte sieauch „Vater” sagen? Deborah wollte umkehren, sie hatte sich geirrt,sie hatte zu einem fremden Menschen gesprochen. Sie machte einekurze Wendung. „Bleib!”, befahl Mirjam — und Deborah fiel es zumersten Mal auf, mit welch harter Stimme ihre Tochter sprach. Eine kupferne Stimme, dachte Deborah. Sie klang wie eine der gehaßten undgefürchteten Kirchenglocken.

„Bleib hier, Mutter!”, wiederholte Mirjam, „laß ihn allein, deinenMann, fahr mit mir nach Amerika. Laß Mendel Singer und Menuchim,den Idioten, hier.”

„Ich habe ihn gebeten, zum Rabbi zu fahren, er will nicht. Allein fahrich nicht mehr nach Kluczysk. Ich habe Angst! Einmal schon hat ermir verboten, Menuchim zu lassen, und wenn seine Krankheit Jahredauern sollte. Was soll ich ihm sagen, Mirjam? Soll ich ihm sagen, daßwir deinetwegen wegfahren müssen, weil du, weil du —”

„Weil ich mich mit Kosaken abgebe”, ergänzte Mirjam, ohne sich zurühren. Und sie fuhr fort: „Sag ihm, was du willst, es soll mich garnichts angehen. In Amerika werde ich noch eher tun, was ich will. Weildu einen Mendel Singer geheiratet hast, muß ich nicht auch einen heiraten. Hast du denn einen besseren Mann für mich, was? Hast du eineMitgift für deine Tochter?”

Mirjam erhob ihre Stimme nicht, auch ihre Fragen klangen nicht wieFragen, es war, als spräche sie gleichgültige Dinge, als gäbe sie Auskunft über die Preise des Grünzeugs und der Eier. Sie hat recht, dachteDeborah. Hilf, guter Gott, sie hat recht.

Alle guten Geister rief Deborah zu Hilfe. Denn sie fühlte, daß sie ihrerTochter recht geben mußte, sie selbst sprach aus ihrer Tochter. Deborah begann, ebenso vor sich selbst Angst zu haben, wie sie noch voreiner kurzen Weile vor Mirjam Angst gehabt hatte. Bedrohliche Dingeereigneten sich. Der Gesang der Soldaten klang unaufhörlich herüber.Noch ragte ein kleiner Streifen der roten Sonne über das Violett.

„Ich muß fort”, sagte Mirjam, löste sich von der Mauer, an der siegelehnt hatte, leicht wie ein weißer Schmetterling flatterte sie vom Bürgersteig, ging mit raschen, koketten Füßen die Straßenmitte entlang,hinaus in die Richtung, in der die Kaserne lag, dem rufenden Gesangder Kosaken entgegen.

Fünfzig Schritte vor der Kaserne, in der Mitte des kleinen Pfades zwischen dem großen Wald und dem Getreide Sameschkins, erwartete sieIwan.

„Wir fahren nach Amerika”, sagte Mirjam.

„Wirst mich nicht vergessen”, mahnte Iwan. „Wirst immer um dieseStunde, beim Untergang der Sonne, an mich denken und nicht an dieandern. Und vielleicht, wenn Gott hilft, komme ich dir nach, wirst mirschreiben. Pawel wird mir deine Briefe vorlesen, schreib nicht zuvielgeheime Dinge von uns beiden, sonst muß ich mich schämen.” Erküßte Mirjam, stark und viele Male, seine Küsse knatterten wieSchüsse durch den Abend. Ein Teufelsmädel, dachte er, nun fährt siehin, nach Amerika, ich muß mir eine andere suchen. So schön wie dieist keine mehr, noch vier Jahre muß ich dienen. Er war groß, bärenstark und schüchtern. Seine riesigen Hände zitterten, wenn er einMädchen anfassen sollte. Auch war er in der Liebe nicht heimisch, alleshatte ihm Mirjam beigebracht, auf was für Gedanken war sie nichtschon gekommen!

Sie umarmten sich, wie gestern und vorgestern, mitten im Feld, eingebettet zwischen den Früchten der Erde, umgeben und überwölbt vondem schweren Korn. Willig legten sich die Ähren hin, wenn Mirjamund Iwan niedersanken, noch ehe sie niedersanken, schienen sich dieÄhren zu legen. Heute war ihre Liebe heftiger, kürzer und gleichsamerschreckt. Es war, als müßte Mirjam schon morgen nach Amerika.Der Abschied zitterte schon in ihrer Liebe. Während sie ineinanderwuchsen, waren sie sich schon fern, durch den Ozean voneinandergetrennt. Wie gut, dachte Mirjam, daß nicht er fährt, daß nicht ichzurückbleibe. Sie lagen lange matt, hilflos, stumm, wie Schwerverwundete. Tausend Gedanken schwankten durch ihre Hirne. Sie merktennicht den Regen, der endlich gekommen war. Er hatte sachte und tückisch begonnen, es dauerte lange, bis seine Tropfen schwer genug waren, das dichte, goldene Gehege der Ähren zu durchbrechen. Plötzlichwaren sie den strömenden Wassern preisgegeben. Sie erwachten, begannen zu laufen. Der Regen verwirrte sie, verwandelte die Welt vollends, nahm ihnen den Sinn für die Zeit. Sie dachten, es sei schon spät,sie lauschten, ob sie die Glocken vom Turm hören würden, aber nurder Regen rauschte, immer dichter, immer dichter, alle andern Stimmen der Nacht waren unheimlich verstummt. Sie küßten sich auf dienassen Gesichter, drückten sich die Hände, Wasser war zwischen ihnen, keins von beiden konnte den Körper des andern fühlen. Hastignahmen sie Abschied, ihre Wege trennten sich, schon war Iwan in Regen eingehüllt und unsichtbar. Nie mehr werde ich ihn sehen! dachteMirjam, während sie nach Hause lief. Die Ernte kommt. Morgen werden die Bauern erschrecken, weil ein Regen mehrere bringt.

Sie kam nach Hause, wartete eine Weile unter dem Dachvorsprung, alswäre es möglich, in einer kurzen Minute trocken zu werden. Sie entschloß sich, ins Zimmer zu treten. Finster war es, alle schliefen schon.Sie legte sich leise, naß, wie sie war, sie ließ ihre Kleider am Körpertrocknen und rührte sich nicht mehr. Draußen rauschte der Regen.

Alle wußten schon, daß Mendel nach Amerika ging, ein Schüler nachdem andern blieb vom Unterricht weg. Jetzt waren es nur noch fünfKnaben, auch sie kamen nicht zu regelmäßigen Zeiten. Die Papierehatte Kapturak noch nicht gebracht, die Schiffskarte hatte Sam nochnicht geschickt. Aber schon begann das Haus Mendel Singer zu zerfallen. Wie morsch muß es doch gewesen sein, dachte Mendel. Es istmorsch gewesen, und man hat es nicht gewußt. Wer nicht achtgebenkann, gleicht einem Tauben und ist schlimmer daran als ein Tauber so steht es irgendwo geschrieben. Hier war mein Großvater Lehrer;hier war mein Vater Lehrer, hier war ich ein Lehrer. Jetzt fahre ichnach Amerika. Meinen Sohn Jonas haben die Kosaken genommen,Mirjam wollen sie mir nehmen. Menuchim — was wird mit Menuchim?Noch am Abend dieses Tages begab er sich zu der Familie Billes. Eswar eine frohe Familie, es schien Mendel Singer, daß sie unverdient vielGlück hatte; alle Töchter waren verheiratet, bis auf die jüngste, der ereben sein Haus anbieten wollte, alle drei Söhne waren dem Militärentgangen und in die Welt gefahren, der eine nach Hamburg, der andere nach Kalifornien, der dritte nach Paris. Es war eine fröhliche Familie, Gottes Hand ruhte über ihr, sie lag wohl gebettet in Gottes breiter Hand. Der alte Billes war immer heiter. Alle seine Söhne hatteMendel Singer unterrichtet. Der alte Billes war ein Schüler des altenSinger gewesen. Weil sie einander schon so lange kannten, glaubteMendel, ein kleines Anrecht an dem Glück der Fremden zu haben.Der Familie Billes — sie lebten nicht im Überfluß — gefiel der VorschlagMendel Singers. Gut! — das junge Paar wird das Haus übernehmen undMenuchim dazu. „Er macht gar keine Arbeit”, sagte Mendel Singer.,,Es geht ihm auch von Jahr zu Jahr besser. Bald wird er mit GottesHilfe ganz gesund sein. Dann wird mein älterer Sohn Schemarjah herüberkommen, oder er wird jemanden schicken und Menuchim nachAmerika bringen.”

„Und was hört Ihr von Jonas?”, fragte der alte Billes. Mendel hatteschon lange nichts von seinem Kosaken gehört, wie er ihn im Stillennannte — nicht ohne Verachtung, aber auch nicht ohne Stolz. Dennochantwortete er: „Lauter Gutes! Er hat lesen und schreiben gelernt, under ist befördert worden. Wenn er kein Jude wäre, wer weiß, vielleichtwäre er schon Offizier!” Es war Mendel unmöglich, im Angesicht dieser glücklichen Familie mit dem schweren Übergewicht seines großenUnglücks auf dem Rücken dazustehen. Deshalb streckte er den Rückenund log ein bißchen Freude vor.

Es wurde ausgemacht, daß Mendel Singer sein Haus vor einfachenZeugen der Familie Billes zur Benutzung übergeben würde, nicht vordem Amt, denn das kostete Geld. Drei, vier anständige Juden als Zeugen genügten. Inzwischen bekam Mendel einen Vorschuß von dreißigRubeln, weil seine Schüler nicht mehr kamen und das Geld zu Hauseausging.

Eine Woche später rollte noch einmal Kapturak in seinem leichten Wägelchen durch das Städtchen. Alles war da: das Geld, die Schiffskarte,die Pässe, das Visum, das Kopfgeld für jeden und sogar das Honorarfür Kapturak.

„Ein pünktlicher Zahler”, sagte Kapturak. „Euer Sohn Schemarjah, genannt Sam, ist ein pünktlicher Zahler. Ein Gentleman, sagt man drüben ...”

Bis zur Grenze sollte Kapturak die Familie Singer begleiten. In vierWochen ging der Dampfer „Neptun” von Bremen nach New York.Die Familie Billes kam Inventur aufnehmen. Das Bettzeug, sechs Kissen, sechs Leintücher, sechs rot-blau karierte Bezüge nahm Deborahmit, man ließ die Strohsäcke zurück und das spärliche Bettzeug fürMenuchim.

Obwohl Deborah nicht viel zu packen hatte und obwohl sie alleStücke ihres Besitzes im Kopfe behielt, blieb sie doch unaufhörlich inTätigkeit. Sie packte ein, sie packte wieder aus. Sie zählte das Geschirrund zählte noch einmal. Zwei Teller zerbrach Menuchim. Er schienüberhaupt seine stupide Ruhe allmählich zu verlieren. Er rief seineMutter öfter als bisher, das einzige Wort, das er seit Jahren aussprechen konnte, wiederholte er, auch wenn die Mutter nicht in seinerNähe war, ein dutzendmal. Er war ein Idiot, dieser Menuchim! EinIdiot! Wie leicht sagt man das! Aber wer kann sagen, was für einenSturm von Ängsten und Sorgen die Seele Menuchims in diesen Tagenauszuhalten hatte, die Seele Menuchims, die Gott verborgen hatte indem undurchdringlichen Gewände der Blödheit! Ja, er ängstigte sich,der Krüppel Menuchim. Er kroch manchmal aus seinem Winkel selbständig bis vor die Tür, hockte an der Schwelle, in der Sonne wie einkranker Hund und blinzelte die Passanten an, von denen er nur dieStiefel zu sehen schien und die Hosen, die Strümpfe und die Röcke.Manchmal griff er unvermutet nach der Schürze seiner Mutter undknurrte. Deborah nahm ihn auf den Arm, obwohl er schon ein ansehnliches Gewicht hatte. Dennoch wiegte sie ihn im Arm und sang zwei,drei abgerissene Strophen eines Kinderliedes, das sie selbst schon ganzvergessen hatte und das in ihrem Gedächtnis wieder zu erwachen begann, sobald sie den unglücklichen Sohn in den Armen fühlte. Dannließ sie ihn wieder niederhocken und ging an die Arbeit, die seit Tagenlediglich aus Packen und Zählen bestand. Plötzlich gab sie es wiederauf. Sie blieb eine Weile stehen, mit nachdenklichen Augen, die denenMenuchims nicht unähnlich waren; so ohne Leben waren sie, so hilflosin einer unbekannten Ferne nach den Gedanken suchend, die das Gehirn zu liefern sich weigerte. Ihr törichter Blick fiel auf den Sack, indem die Polster eingenäht werden sollten. Vielleicht, fiel es ihr ein,konnte man Menuchim in einen Sack nähen? Gleich darauf erzittertesie bei der Vorstellung, daß die Zollrevisoren mit langen, scharfenSpießen die Säcke der Passagiere durchstechen würden. Und sie begann, wieder auszupacken, und der Entschluß durchzuckte sie zu bleiben, wie der Rabbi von Kluczysk gesagt hatte: „Verlaß ihn nicht, alswenn er ein gesundes Kind wäre!” Die Kraft, die zum Glauben gehörte, brachte sie nicht mehr auf, und allmählich verließen sie auch dieKräfte, deren der Mensch bedarf, um die Verzweiflung auszuhalten.

Es war, als hätten sie, Deborah und Mendel, nicht freiwillig den Entschluß gefaßt, nach Amerika zu gehen, sondern als wäre Amerika übersie gekommen, über sie hergefallen, mit Schemarjah, Mac und Kapturak. Nun, da sie es bemerkten, war es zu spät. Sie konnten sich nichtmehr vor Amerika retten. Die Papiere kamen zu ihnen, die Schiffskarten, die Kopfgelder. „Wie ist es”, fragte Deborah einmal, „wenn Menuchim plötzlich gesund wird, heute oder morgen?” Mendel wiegteeine Weile den Kopf. Dann sagte er: „Wenn Menuchim gesund wird,nehmen wir ihn mit!” Und sie ergaben sich beide schweigend derHoffnung, daß Menuchim morgen oder übermorgen gesund von seinem Lager aufstehen würde, mit heilen Gliedern und einer vollkommenen Sprache.

Am Sonntag sollen sie fahren. Heute ist Donnerstag. Zum letzten Malsteht Deborah vor ihrem Herd, die Mahlzeit für den Sabbat zu richten,das weiße Mohnbrot und die geflochtenen Semmeln. Offen brennt dasFeuer, zischt und knistert, und der Rauch erfüllt die Stube wie an jedem Donnerstag seit dreißig Jahren. Es regnet draußen. Der Regendrängt den Rauch aus dem Schornstein zurück, der alte gezackte, vertraute Fleck im Kalk des Plafonds zeigt sich wieder in seiner feuchtenFrische. Seit zehn Jahren hätte das Loch in den Schindeln des Dachesausgebessert werden sollen, die Familie Billes wird es schon machen.Gepackt steht der große, eisenbeschlagene, braune Koffer, mit seinersoliden Eisenstange vor dem Schlitz und mit zwei funkelnden, neuen,eisernen Schlössern. Manchmal kriecht Menuchim an sie heran undläßt sie baumeln. Dann gibt’s ein unbarmherziges Klappern, dieSchlösser schlagen gegen die eisernen Reifen und zittern lange undwollen sich nicht beruhigen. Und das Feuer knistert, und der Raucherfüllt die Stube.

Am Sabbat-Abend nahm Mendel Singer Abschied von seinen Nachbarn. Man trank den gelblich-grünen Schnaps, den einer selbst gebrannt und mit trockenen Schwämmen durchsetzt hat. Also schmecktder Schnaps nicht nur scharf, sondern auch bitter. Der Abschied dauert länger als eine Stunde. Alle wünschen Mendel Glück. Manche betrachten ihn zweifelnd, manche beneiden ihn. Alle aber sagen ihm, daßAmerika ein herrliches Land ist. Ein Jude kann sich nichts Bessereswünschen, als nach Amerika zu gelangen.

In dieser Nacht verließ Deborah das Bett und ging, die Hand sorgsamgewölbt um eine Kerze, zum Lager Menuchims. Er lag auf dem Rücken, sein schwerer Kopf lehnte an der zusammengerollten, grauenDecke, seine Lider standen halb offen, man sah das Weiße seiner Augen. Bei jedem Atemzug zitterte sein Körper, seine schlafenden Fingerbewegten sich unaufhörlich. Er hielt die Hände an der Brust. Sein Angesicht war im Schlaf noch fahler und schlaffer als am Tag. Offen standen die bläulichen Lippen, mit weißem, perlendem Schaum in denMundwinkeln.

Deborah löschte das Licht. Sie hockte ein paar Sekunden neben demSohn, erhob sich und schlich wieder ins Bett. Nichts wird aus ihm dachte sie — nichts wird aus ihm. Sie schlief nicht mehr ein.

Am Sonntag, um acht Uhr morgens, kommt ein Bote Kapturaks. Es istder Mann mit der blauen Mütze, der einmal Schemarjah über dieGrenze gebracht hat. Auch heute bleibt der Mann mit der blauenMütze an der Tür stehen, lehnt es ab, Tee zu trinken, hilft dann wortlos den Koffer hinausrollen und auf den Wagen stellen. Ein bequemerWagen, vier Menschen haben Platz. Die Füße liegen im weichen Heu,der Wagen duftet wie das ganze spätsommerliche Land. Die Rückender Pferde glänzen, gebürstet und blank, braune, gewölbte Spiegel. Einbreites Joch mit vielen silbernen Glöckchen überspannt ihre schlankenund hochmütigen Nacken. Obwohl es heller Tag ist, sieht man dieFunken sprühen, die sie mit ihren Hufen aus dem Schotter schlagen.

Noch einmal hält Deborah Menuchim auf dem Arm. Die Familie Billes ist schon da, umzingelt den Wagen und hört nicht auf zu reden.Mendel Singer sitzt auf dem Kutschbock, und Mirjam lehnt ihrenRücken gegen den des Vaters. Nur Deborah steht noch vor der Tür,den Krüppel Menuchim in den Armen.

Plötzlich läßt sie von ihm. Sie setzt ihn sachte auf die Schwelle, wieman eine Leiche in einen Sarg legt, steht auf, reckt sich, läßt ihre Tränen fließen, über das nackte Gesicht nackte Tränen. Sie ist entschlossen. Ihr Sohn bleibt. Sie wird nach Amerika fahren. Es ist kein Wundergeschehen.

Weinend steigt sie in den Wagen. Sie sieht nicht die Gesichter derMenschen, deren Hände sie drückt. Zwei große Meere voll Tränensind ihre beiden Augen. Die Pferdehufe hört sie klappern. Sie fährt.Sie schreit auf, sie weiß nicht, daß sie schreit, es schreit aus ihr, dasHerz hat einen Mund und schreit. Der Wagen hält, sie springt aus ihm,leichtfüßig wie eine Junge. Menuchim sitzt noch auf der Schwelle. Siefällt vor Menuchim nieder. „Mama, Mama!”, lallt Menuchim. Sie bleibtliegen.

Die Familie Billes hebt Deborah hoch. Sie schreit, sie wehrt sich, siebleibt schließlich still. Man trägt sie wieder zum Wagen und bettet sieauf das Heu. Der Wagen rollt sehr schnell nach Dubno.

Sechs Stunden später saßen sie in der Eisenbahn, im langsamen Personenzug, zusammen mit vielen unbekannten Menschen. Der Zug fuhrsachte durch das Land, die Wiesen und die Felder, auf denen man erntete, die Bauern und Bäuerinnen, die Hütten und Herden grüßten denZug. Das sanfte Lied der Räder schläferte die Passagiere ein. Deborahhatte noch kein Wort gesprochen. Sie schlummerte. Die Räder der Eisenbahn wiederholten unaufhörlich, unaufhörlich: Verlaß ihn nicht!Verlaß ihn nicht! Verlaß ihn nicht!

Mendel Singer betete. Er betete auswendig und mechanisch, er dachtenicht an die Bedeutung der Worte, ihr Klang allein genügte, Gott verstand, was sie bedeuteten. Also betäubte Mendel seine große Angst vordem Wasser, auf das er in einigen Tagen gelangen sollte. Manchmalwarf er einen gedankenlosen Blick auf Mirjam. Sie saß ihm gegenüber,an der Seite des Mannes mit der blauen Mütze. Mendel sah nicht, wiesie sich an den Mann schmiegte. Der sprach nicht zu ihr, er wartete aufdie kurze Viertelstunde zwischen dem Anbruch der Dämmerung unddem Augenblick, in dem der Schaffner die winzige Gasflamme entzünden würde. Von dieser Viertelstunde und später von der Nacht, in derdie Gasflammen wieder ausgelöscht wurden, versprach sich der Mannmit der blauen Mütze allerhand Wonnen.

Am nächsten Morgen nahm er von den alten Singers einen gleichgültigen Abschied, nur Mirjam drückte er die Hand in stummer Herzlichkeit. Sie waren an der Grenze. Die Revisoren nahmen die Pässe ab. Alsman Mendels Namen ausrief, erzitterte er. Ohne Grund. Alles war inOrdnung. Sie passierten.

Sie stiegen in einen neuen Zug, sahen andere Stationen, hörten neueGlockensignale, sahen neue Uniformen. Sie fuhren drei Tage und stiegen zweimal um. Am Nachmittag des dritten Tages kamen sie in Bremen an. Ein Mann von der Schiffahrtsgesellschaft brüllte: „MendelSinger!” Die Familie Singer meldete sich. Nicht weniger als neun Familien erwartete der Beamte. Er stellte sie in einer Reihe auf, zählte siedreimal, verlas ihre Namen und gab jedem eine Nummer. Da standensie nun und wußten nichts mit den Blechmarken anzufangen. Der Beamte ging fort. Er hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber dieneun Familien, fünfundzwanzig Menschen, rührten sich nicht. Siestanden in einer Reihe auf dem Bahnsteig, die Blechmarken in denHänden, die Bündel vor den Füßen. An der äußersten Ecke links, weiler sich so spät gemeldet hatte, stand Mendel Singer.

Er hatte während der ganzen Fahrt mit Frau und Tochter kaum einWort gesprochen. Beide Frauen waren auch stumm gewesen. Jetztaber schien Deborah die Schweigsamkeit nicht mehr ertragen zu können. „Warum rührst du dich nicht?”, fragte Deborah. „Niemand rührtsich”, erwiderte Mendel. „Warum fragst du nicht die Leute?” „Niemand fragt.” „Worauf warten wir?” „Ich weiß nicht, worauf wir warten.” „Glaubst du, ich kann mich auf den Koffer setzen? ” „Setz dichauf den Koffer.”

In dem Augenblick aber, in dem Deborah ihre Röcke gespreizt hatte,um sich niederzulassen, erschien der Beamte von der Schiffahrtsgesellschaft und verkündete auf Russisch, Polnisch, Deutsch und Jiddisch, daßer alle neun Familien jetzt in den Hafen zu geleiten gedenke; daß er siein einer Baracke für die Nacht unterbringe; und daß morgen, um sieben Uhr früh, die „Neptun” die Anker lichten werde.

In der Baracke lagerten sie, in Bremerhaven, die Blechmarken krampfhaft in den geballten Fäusten, auch während des Schlafs. Vom Schnarchen der fünfundzwanzig und von den Bewegungen, die jeder auf demharten Lager vollführte, erzitterten die Balken, und die kleinen, gelben, elektrischen Birnen schaukelten leise. Es war verboten worden,Tee zu kochen. Mit trockenem Gaumen waren sie schlafen gegangen.Nur Mirjam hatte ein polnischer Friseur rote Bonbons angeboten. Miteiner großen, klebrigen Kugel im Mund schlief Mirjam ein.

Um fünf Uhr morgens erwachte Mendel. Er stieg mühsam aus demhölzernen Behälter, in dem er geschlafen hatte, suchte die Wasserleitung, ging hinaus, um zu sehen, wo der Osten liege. Dann kehrte erzurück, stellte sich in eine Ecke und betete. Er flüsterte vor sich hin,aber während er flüsterte, packte ihn der laute Schmerz, krallte sich insein Herz und riß daran so heftig, daß Mendel mitten im Flüstern lautaufstöhnte. Ein paar Schläfer erwachten, sahen hinunter und lächeltenüber den Juden, der in der Ecke hüpfte und wackelte, seinen Oberkörper vor-- und rückwärts wiegte und Gott zu Ehren einen kümmerlichen Tanz auf führte.

Mendel war noch nicht fertig, da riß der Beamte die Tür auf. Ein Seewind hatte ihn in die Baracke geweht. „Aufstehen!”, rief er ein paarmalund in allen Sprachen dieser Welt.

Es war noch früh, als sie das Schiff erreichten. Man erlaubte ihnen, einpaar Blicke in die Speisesäle der ersten und zweiten Klasse zu werfen,ehe man sie ins Zwischendeck hineinschob. Mendel Singer rührte sichnicht. Er stand auf der höchsten Stufe einer schmalen, eisernen Leiter,im Rücken den Hafen, das Land, den Kontinent, die Heimat, die Vergangenheit. Zu seiner Linken strahlte die Sonne. Blau war der Himmel. Weiß war das Schiff. Grün war das Wasser. Ein Matrose kam undbefahl Mendel Singer, die Treppe zu verlassen. Er begütigte den Matrosen mit einer Handbewegung. Er war ganz ruhig und ohne Furcht.Er warf einen flüchtigen Blick auf das Meer und trank Trost aus derUnendlichkeit des bewegten Wassers. Ewig war es. Mendel erkannte,daß Gott selbst es geschaffen hatte. Er hatte es ausgeschüttet aus seinerunerschöpflichen, geheimen Quelle. Nun schaukelte es zwischen denfesten Ländern. Tief auf seinem Grunde ringelte sich Leviathan, derheilige Fisch, den am Tage des Gerichts die Frommen und Gerechtenspeisen werden. „Neptun” hieß das Schiff, auf dem Mendel stand. Eswar ein großes Schiff. Aber mit dem Leviathan verglichen und mit demMeer, dem Himmel und der Weisheit des Ewigen, war es ein winzigesSchiff. Nein, Mendel fühlte keine Angst. Er beruhigte den Matrosen,er, ein kleiner, schwarzer Jude auf einem riesengroßen Schiff und vordem ewigen Ozean, er drehte sich noch einmal im Halbkreis und murmelte den Segen, der zu sprechen ist beim Anblick des Meeres. Er drehtesich im Halbkreis und verstreute die einzelnen Worte des Segens überdie grünen Wogen: „Gelobt seist Du, Ewiger, unser Herr, der Du dieMeere geschaffen hast und durch sie trennest die Kontinente!”

In diesem Augenblick erdröhnten die Sirenen. Die Maschinen begannenzu poltern. Und die Luft und das Schiff und die Menschen erzitterten.Nur der Himmel blieb still und blau, blau und still.

IX

Den vierzehnten Abend der Seereise erleuchteten die großen, feurigenKugeln, die von den Leuchtschiffen abgeschossen wurden. „Jetzt erscheint”, sagte ein Jude, der schon zweimal diese Fahrt mitgemachthatte, zu Mendel Singer, „die Freiheitsstatue. Sie ist hunderteinundfünfzig Fuß hoch, im Innern hohl, man kann sie besteigen. Um den Kopfträgt sie eine Strahlenkrone. In der Rechten hält sie eine Fackel. Und dasschönste ist, daß diese Fackel in der Nacht brennt und dennoch niemalsganz verbrennen kann. Denn sie ist nur elektrisch beleuchtet. SolcheKunststücke macht man in Amerika.”

Am Vormittag des fünfzehnten Tages wurden sie ausgeladen. Deborah,Mirjam und Mendel standen enge nebeneinander, denn sie fürchteten,sich zu verlieren.

Es kamen Männer in Uniformen, sie erschienen Mendel ein wenig gefährlich, obwohl sie keine Säbel hatten. Einige trugen blütenweiße Gewänder und sahen halb wie Gendarmen aus und halb wie Engel. Dassind die Kosaken Amerikas, dachte Mendel Singer, und er betrachteteseine Tochter Mirjam.

Sie wurden aufgerufen, nach dem Alphabet, jeder kam an sein Gepäck,man durchstach es nicht mit spitzen Lanzen. Vielleicht hätte man Menuchim mitnehmen können, dachte Deborah.

Auf einmal stand Schemarjah vor ihnen.

Alle drei erschraken auf die gleiche Weise.

Sie sahen gleichzeitig ihr altes Häuschen wieder, den alten Schemarjahund den neuen Schemarjah, genannt Sam.

Sie sahen Schemarjah und Sam zugleich, als wenn Sam über einen Schemarjah gestülpt worden wäre, ein durchsichtiger Sam.

Es war zwar Schemarjah, aber es war Sam.

Es waren zwei. Der eine trug eine schwarze Mütze, ein schwarzes Gewand und hohe Stiefel, und die ersten flaumigen, schwarzen Härchensprossen aus den Poren seiner Wangen.

Der zweite trug einen hellgrauen Rock, eine schneeweiße Mütze wieder Kapitän, breite, gelbe Hosen, ein leuchtendes Hemd aus grünerSeide, und sein Angesicht war glatt wie ein nobler Grabstein.

Der zweite war beinahe Mac.

Der erste sprach mit seiner alten Stimme — sie hörten nur die Stimme,nicht die Worte.

Der zweite schlug mit einer starken Hand seinem Vater auf die Schulter und sagte, und jetzt erst hörten sie die Worte: „Hallo, old chap!” und verstanden nichts.

Der erste war Schemarjah. Der zweite aber war Sam.

Zuerst küßte Sam den Vater, dann die Mutter, dann Mirjam. Alle dreirochen an Sam Rasierseife, die nach Schneeglöckchen duftete und auchein wenig wie Karbol. Er erinnerte sie an einen Garten und gleichzeitigan ein Spital.

Im Stillen wiederholten sie sich ein paarmal, daß Sam Schemarjah war.Dann erst freuten sie sich.

„Alle andern”, sagte Sam, „kommen in die Quarantäne. Ihr nicht! Machat es gerichtet. Er hat zwei Vettern, die sind hier bedienstet.”

Eine halbe Stunde später erschien Mac.

Er sah noch genauso aus wie damals, als er im Städtchen erschienenwar. Breit, laut, in einer unverständlichen Sprache polternd und dieTaschen schon geschwollen von süßem Backwerk, das er sofort zuverteilen und selbst zu essen begann. Eine knallrote Krawatte flattertewie eine Fahne über seiner Brust.

„Ihr müßt doch in die Quarantäne”, sagte Mac. Denn er hatte übertrieben. Seine Vettern waren zwar in dieser Gegend bedienstet, aber nurbei der Zollrevision. „Aber ich werde euch begleiten. Habt nur keineAngst!”

Sie brauchten in der Tat keine Angst zu haben. Mac schrie allen Beamten zu, daß Mirjam seine Braut sei und Mendel und Deborah seineSchwiegereltern.

Jeden Nachmittag um drei Uhr kam Mac an das Gitter des Lagers. Erstreckte seine Hand durch die Drähte, obwohl es verboten war, undbegrüßte alle. Nach vier Tagen gelang es ihm, die Familie Singer zubefreien. Auf welche Weise es ihm gelungen war, verriet er nicht.Denn es gehörte zu Macs Eigenschaften, daß er mit großem EiferDinge erzählte, die er erfunden hatte; und daß er Dinge verschwieg,die sich wirklich zugetragen hatten.

Er bestand darauf, daß sie ganz ausführlich, auf einem Leiterwagenseiner Firma, Amerika betrachteten, ehe sie sich nach Hause begaben.Man verlud Mendel Singer, Deborah und Mirjam und führte sie spazieren.

Es war ein heller und heißer Tag. Mendel und Deborah saßen in derFahrtrichtung, ihnen gegenüber Mirjam, Mac und Sam. Der schwereWagen ratterte über die Straßen mit einer wütenden Wucht, wie esMendel Singer schien, als wäre es seine Absicht, Stein und Asphalt fürewige Zeiten zu zertrümmern und die Fundamente der Häuser zu erschüttern. Der lederne Sitz brannte unter Mendels Körper wie ein heißer Ofen. Obwohl sie sich im düsteren Schatten der hohen Mauernhielten, glühte die Hitze wie graues, schmelzendes Blei durch die alteMütze aus schwarzem Seidenrips auf den Schädel Mendels, drang insein Gehirn und verlötete es dicht, mit feuchter, klebriger, schmerzlicher Glut. Seit seiner Ankunft hatte er kaum geschlafen, wenig gegessen und fast gar nichts getrunken. Er trug heimatliche Galoschen ausGummi an den schweren Stiefeln, und seine Füße brannten wie ineinem offenen Feuer. Krampfhaft zwischen die Knie geklemmt hatte erseinen Regenschirm, dessen hölzerner Griff heiß war und nicht anzufassen, als wäre er aus rotem Eisen. Vor den Augen Mendels wehte eindicht gewebter Schleier aus Ruß, Staub und Hitze. Er dachte an dieWüste, durch die seine Ahnen vierzig Jahre gewandert waren. Aber siewaren wenigstens zu Fuß gegangen, sagte er sich. Die wahnsinnigeEile, in der sie jetzt dahinrasten, weckte zwar einen Wind, aber es warein heißer Wind, der feurige Atem der Hölle. Statt zu kühlen, glühteer. Der Wind war kein Wind, er bestand aus Lärm und Geschrei, eswar ein wehender Lärm. Er setzte sich zusammen aus einem schrillenKlingeln von hundert unsichtbaren Glocken, aus dem gefährlichen,metallenen Dröhnen der Bahnen, aus dem tutenden Rufen unzähligerTrompeten, aus dem flehentlichen Kreischen der Schienen an den Kurven der Streets, aus dem Gebrüll Macs, der durch einen übermächtigenTrichter seinen Passagieren Amerika erläuterte, aus dem Gemurmelder Menschen ringsum, aus dem schallenden Gelächter eines fremdenMitreisenden hinter Mendels Rücken, aus den unaufhörlichen Reden,die Sam in des Vaters Angesicht warf, Reden, die Mendel nicht verstand, zu denen er aber fortwährend nickte, ein furchtsames und zugleich freundliches Lächeln um die Lippen, wie eine schmerzendeKlammer aus Eisen. Selbst wenn er den Mut gehabt hätte, ernst zubleiben, wie es seiner Situation entsprach, er hätte das Lächeln nichtablegen können. Er hatte nicht die Kraft, eine Miene zu verändern. DieMuskeln seines Angesichts waren erstarrt. Er hätte lieber geweint wieein kleines Kind. Er roch den scharfen Teer aus dem schmelzendenAsphalt, den trockenen und spröden Staub in der Luft, den ranzigenund fetten Gestank aus Kanälen und Käsehandlungen, den beizendenGeruch von Zwiebeln, den süßlichen Benzinrauch der Autos, den fauligen Sumpfgeruch aus Fischhallen, die Maiglöckchen und das Chloroform von den Wangen seines Sohnes. Alle Gerüche vermengten sichim heißen Brodem, der ihm entgegenschlug, mit dem Lärm, der seineOhren erfüllte und seinen Schädel sprengen wollte. Bald wußte ernicht mehr, was zu hören, zu sehen, zu riechen war. Er lächelte immernoch und nickte mit dem Kopfe. Amerika drang auf ihn ein, Amerikazerbrach ihn, Amerika zerschmetterte ihn. Nach einigen Minutenwurde er ohnmächtig.

Er erwachte in einem Lunch-Room, in den man ihn in der Eile gebracht hatte, um ihn zu laben. In einem runden, von hundert kleinenGlühbirnen umkränzten Spiegel erblickte er seinen weißen Bart undseine knochige Nase und glaubte im ersten Augenblick, Bart und Nasegehörten einem andern. Erst an seinen Angehörigen, die ihn umringten, erkannte er sich selbst wieder. Ein bißchen schämte er sich. Eröffnete mit einiger Mühe die Lippen und bat seinen Sohn um Entschuldigung. Mac ergriff seine Hand und schüttelte sie, als gratulierteer Mendel Singer zu einem gelungenen Kunststück oder zu einer gewonnenen Wette. Um den Mund des Alten legte sich wieder die eiserne Klammer des Lächelns, und die unbekannte Gewalt bewegtewieder seinen Kopf, so daß es aussah, als ob Mendel nickte. Mirjamsah er. Sie hatte wirre, schwarze Haare unter dem gelben Schal, etwasRuß auf den blassen Wangen und einen langen Strohhalm zwischenden Zähnen. Deborah hockte breit, stumm, mit geblähten Nasenflügeln und auf und ab ebbenden Brüsten auf einem runden Sessel ohneLehne. Es sah aus, als müßte sie bald herunterfallen.

Was gehen mich diese Leute an? dachte Mendel. Was geht mich ganzAmerika an? Mein Sohn, meine Frau, meine Tochter, dieser Mac? Binich noch Mendel Singer? Ist das noch meine Familie? Bin ich nochMendel Singer? Wo ist mein Sohn Menuchim? Es war ihm, als wäre eraus sich selbst herausgestoßen worden, von sich selbst getrennt, würdeer fortan leben müssen. Es war ihm, als hätte er sich selbst in Zuchnowzurückgelassen, in der Nähe Menuchims. Und während es um seineLippen lächelte und während es seinen Kopf schüttelte, begann seinHerz, langsam zu vereisen, es pochte wie ein metallener Schlegel gegenkaltes Glas. Schon war er einsam, Mendel Singer: Schon war er inAmerika...

Zweiter Teil

X

Ein paar hundert Jahre früher war ein Ahne Mendel Singers wahrscheinlich aus Spanien nach Wolynien gekommen. Er hatte ein glücklicheres, ein gewöhnlicheres, jedenfalls ein weniger beachtetes Schicksal als sein Nachfahre, und wir wissen infolgedessen nicht, ob er vieleJahre oder wenige gebraucht hat, um in dem fremden Land heimischzu werden. Von Mendel Singer aber wissen wir, daß er nach einigenMonaten in New York zu Hause war.

Ja, er war beinahe heimisch in Amerika! Er wußte bereits, daß old chapauf Amerikanisch Vater hieß und old fool Mutter, oder umgekehrt. Erkannte ein paar Geschäftsleute aus der Bowery, mit denen sein Sohnverkehrte, die Essex Street, in der er wohnte, und die Houston Street,in der das Kaufhaus seines Sohnes lag, seines Sohnes Sam. Er wußte,daß Sam bereits ein American boy war, daß man good bye sagte, howdo you do und please, wenn man ein feiner Mann war, daß ein Kaufmann von der Grand Street Respekt verlangen konnte und manchmalam River wohnen durfte, an jenem River, nach dem es auch Schemarjah gelüstete. Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God’s own countryhieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New Yorkeigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem. Das Beten dagegen nannte man Service und die Wohltätigkeitebenso. Sams kleiner Sohn, zur Welt gekommen knapp eine Wochenach der Ankunft des Großvaters, heißt nicht anders denn MacLincolnund wird in einigen Jahren, husch, geht die Zeit in Amerika, ein Collegeboy. My dear boy nennt den Kleinen heute die Schwiegertochter. Vegaheißt sie immer noch, merkwürdigerweise. Blond ist sie und sanft, mitblauen Augen, die Mendel Singer mehr Güte als Klugheit verraten.Mag sie dumm sein! Frauen brauchen keinen Verstand, Gott helfe ihr,amen! Zwischen zwölf und zwei muß man Lunch essen und zwischensechs und acht ein Dinner. Dieser Zeiten achtet Mendel nicht. Er ißtum drei Uhr nachmittags und um zehn Uhr abends, wie zu Hause,obwohl eigentlich zu Hause Tag ist, wenn er sich zum Nachtmahlsetzt, oder auch früher Morgen, wer kann es wissen. All right heißteinverstanden, und statt ja! sagt man yes! Will man einem etwas Guteswünschen, so wünscht man ihm nicht Glück und Gesundheit, sondernprosperity. In der nächsten Zukunft schon gedenkt Sam, eine neueWohnung zu mieten, am River, mit einem parlour. Ein Grammophonbesitzt er schon, Mirjam leiht es manchmal bei der Schwägerin aus,und er trägt es in getreuen Armen durch die Straßen wie ein krankesKind. Das Grammophon kann viele Walzer spielen, aber auch KolNidre. Sam wäscht sich zweimal am Tag, den Anzug, den er manchmalam Abend trägt, nennt er Dreß. Deborah war schon zehnmal im Kinound dreimal im Theater. Sie hat ein seidenes, dunkelgraues Kleid. Samhat es ihr geschenkt. Eine große, goldene Kette trägt sie um den Hals,sie erinnert an eines der Lustweiber, von denen manchmal die heiligenSchriften erzählen. Mirjam ist Verkäuferin in Sams Laden. Sie kommtnach Mitternacht heim und geht um sieben Uhr morgens weg. Sie sagtGuten Abend, Vater! Guten Morgen, Vater! und weiter nichts. Hierund da hört Mendel Singer aus Gesprächen, die an seinen Ohren vorüberrinnen, wie ein Fluß vorbeirinnt an den Füßen eines alten Mannes,der am Ufer steht, daß Mac mit Mirjam spazierengeht, tanzen geht,baden geht, turnen geht. Er weiß, Mendel Singer, daß Mac kein Judeist, die Kosaken sind auch keine Juden, so weit ist es noch nicht, Gottwird helfen, man wird sehen. Deborah und Mirjam leben gut miteinander. Friede ist im Haus. Mutter und Tochter flüstern miteinander,oft, lange nach Mitternacht, Mendel tut, als ob er schliefe. Er kann esleicht. Er schläft in der Küche, Frau und Tochter schlafen im einzigenWohnraum. Paläste bewohnt man auch in Amerika nicht. Man wohntim ersten Stock! Ein Glücksfall. Wie leicht hätte man auch im zweiten,im dritten, im vierten wohnen können! Die Treppe ist schief undschmutzig, immer finster. Mit Streichhölzern beleuchtet man auch amTage die Stufen. Es riecht warm, feucht und klebrig nach Katzen. AberMäusegift und Glassplitter, in Sauerteig zerrieben, muß man immernoch, jeden Abend, in die Ecken legen. Deborah scheuert jede Wocheden Fußboden, aber so safrangelb wie zu Hause wird er niemals.Woran liegt das? Ist Deborah zu schwach? Ist sie zu faul? Ist sie zu alt?Alle Bretter quietschen, wenn Mendel durch die Stube geht. Unmöglich zu erkennen, wo Deborah jetzt das Geld verbirgt. Zehn Dollar inder Woche gibt Sam. Dennoch ist Deborah aufgebracht. Sie ist einWeib, manchmal reitet sie der Teufel. Sie hat eine gute, sanfte Schwiegertochter, Deborah aber behauptet, Vega treibe Luxus. Wenn Mendelderlei Reden hört, sagt er: „Schweig, Deborah! Sei zufrieden mit denKindern! Bist du noch immer nicht alt genug, um zu schweigen? Hastdu mir nicht mehr vorzuwerfen, daß ich zu wenig verdiene, und quältes dich, daß du mit mir nicht streiten kannst? Schemarjah hat uns hierhergebracht, damit wir alt werden und sterben in seiner Nähe. SeineFrau ehrt uns beide, wie es sich gehört. Was willst du noch, Deborah?”Sie wußte nicht genau, was ihr fehlte. Vielleicht hatte sie gehofft, inAmerika eine ganz fremde Welt zu finden, in der es möglich gewesenwäre, das alte Leben und Menuchim sofort zu vergessen. Aber diesesAmerika war keine neue Welt. Es gab mehr Juden hier als in Kluczysk,es war eigentlich ein größeres Kluczysk. Hatte man den weiten Wegüber das große Wasser nehmen müssen, um wieder nach Kluczysk zukommen, das man in der Fuhre Sameschkins hätte erreichen können?Die Fenster gingen in einen finsteren Lichthof, in dem Katzen, Rattenund Kinder sich balgten, um drei Uhr nachmittags, auch im Frühling,mußte man die Petroleumlampe anzünden, nicht einmal elektrischesLicht gab es, ein eigenes Grammophon hatte man auch noch nicht.Licht und Sonne hatte Deborah wenigstens zu Hause gehabt. Gewiß!Sie ging dann und wann mit der Schwiegertochter ins Kino, zweimalwar sie schon in der Untergrundbahn gefahren, Mirjam war ein noblesFräulein, mit Hut und Seidenstrümpfen. Brav war sie geworden. Geldverdiente sie auch. Mac gab sich mit ihr ab, besser Mac als die Kosaken. Er war der beste Freund Schemarjahs. Man verstand zwar keinWort von seinen unaufhörlichen Reden, aber man würde sich darangewöhnen. Er war geschickter als zehn Juden und hatte noch gewißden Vorteil, keine Mitgift zu verlangen. Schließlich war es doch eineandere Welt. Ein amerikanischer Mac war kein russischer Mac. Mitdem Geld kam Deborah auch hier nicht aus. Das Leben verteuerte sichzusehends, vom Sparen konnte sie nicht lassen, das gewohnte Dielenbrett verdeckte bereits achtzehnundeinhalb Dollar, die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln gefroren, die Suppen wässrig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts.

Nein, sie wußte nicht genau, was ihr fehlte, Menuchim fehlte ihr. Oft,im Schlaf, im Wachen, beim Einkaufen, im Kino, beim Aufräumen,beim Backen hörte sie ihn rufen. Mama! Mama! rief er. Das einzigeWort, das er sprechen gelernt hatte, mußte er jetzt schon vergessenhaben. Fremde Kinder hörte sie Mama rufen, die Mütter meldetensich, keine einzige Mutter ließ freiwillig von ihrem Kinde. Man hättenicht nach Amerika fahren dürfen. Aber man konnte ja immer nochheimkehren!

„Mendel”, sagte sie manchmal, „sollen wir nicht umkehren, Menuchimsehen?”

„Und das Geld und der Weg und wovon leben? Glaubst du, daß Schemarjah so viel geben kann? Er ist ein guter Sohn, aber er ist nichtVanderbilt. Es war vielleicht Bestimmung. Bleiben wir vorläufig! Menuchim werden wir hier wiedersehen, wenn er gesund werden sollte.”Dennoch heftete sich der Gedanke an die Abreise in Mendel Singer festund verließ ihn niemals. Einmal, als er seinen Sohn im Geschäft besuchte (im Kontor saß er, hinter der gläsernen Tür, und sah die Kundenkommen und gehen und segnete im Stillen jeden Eintretenden), sagte erzu Schemarjah: „Von Menuchim hört man noch immer nichts. Im letzten Brief von Billes war kein Wort über ihn. Was glaubst du, wenn ichhinüberführe, ihn anzusehen?” Schemarjah, genannt Sam, war ein american boy, er sagte: „Vater, es ist unpraktisch. Wenn es möglich wäre,Menuchim hierherzubringen, hier würde er sofort gesund. Die Medizinin Amerika ist die beste in der Welt, grad hab’ ich’s in der Zeitunggelesen. Man heilt solche Krankheiten mit Einspritzungen, einfach mitEinspritzungen! Da man ihn aber nicht hierherbringen kann, den armenMenuchim, wozu die Geldausgabe? Ich will nicht sagen, daß es ganzunmöglich ist! Aber gerade jetzt, wo ich und Mac ein ganz großesGeschäft vorbereiten und das Geld knapp ist, wollen wir nicht davonreden! Warte noch ein paar Wochen! Im Vertrauen gesagt: Ich und Mac,wir spekulieren jetzt in Bauplätzen. Jetzt haben wir ein altes Haus in derDelancy Street abreißen lassen. Ich sage dir, Vater, das Abreißen ist fastso teuer wie das Aufbauen. Aber man soll nicht klagen! Es geht aufwärts! Wenn ich daran denke, wie wir mit Versicherungen angefangenhaben! Treppauf, treppab! Und jetzt haben wir dies Geschäft, man kannschon sagen: dieses Warenhaus! Jetzt kommen die Versicherungsagenten zu mir. Ich seh' sie mir an, denke mir: Ich kenn’ das Geschäft, undwerfe sie hinaus, eigenhändig. Alle werfe ich hinaus!”

Mendel Singer begriff nicht ganz, weshalb Sam die Agenten hinauswarfund weshalb er sich darüber so freute. Sam fühlte es und sagte: „Willstdu mit mir ein breakfast nehmen, Vater?” Er tat, als ob er vergessenhätte, daß der Vater nur zu Hause aß, er schuf sich gerne eine Gelegenheit, den Abstand zu betonen, der ihn von den Sitten seiner Heimattrennte, er schlug sich auf die Stirn, als ob er Mac wäre, und sagte:,,Ach so! Ich habe vergessen! Aber eine Banane wirst du essen, Vater!”Und er ließ dem Vater eine Banane bringen.

„Apropos Mirjam”, fing er wieder an, mitten im Essen, „sie machtsich. Sie ist das schönste Girl hier im Geschäft. Wäre sie bei einemFremden, man hätte ihr längst eine Stellung als Modell angeboten.Aber ich möchte nicht, daß meine Schwester ihre Figur für fremdeKleider hergibt. Und Mac will es auch nicht!” Er wartete, ob der Vateretwas über Mac sagen würde. Aber Mendel Singer schwieg. Er warnicht argwöhnisch. Er hatte den letzten Satz kaum gehört. Er ergabsich der innigen Bewunderung seiner Kinder, insbesondere Schemarjahs. Wie klug er war, wie schnell er dachte, wie fließend sprach erEnglisch, wie konnte er auf Klingelknöpfe drücken, Laufjungen anschnauzen, er war ein Boss.

Er ging in die Abteilung für Hemdblusen und Krawatten, um seineTochter zu sehen. „Guten Tag, Vater!”, rief sie, mitten im Bedienen.Respekt erwies sie ihm, zu Hause war es anders gewesen. Sie liebte ihnwahrscheinlich nicht, aber es stand auch nicht geschrieben: Liebe Vater und Mutter! sondern: Ehre Vater und Mutter! Er nickte ihr zu undentfernte sich wieder. Er ging nach Hause. Er war getrost, er ginglangsam in der Mitte der Straße, grüßte die Nachbarn, freute sich anden Kindern. Er trug immer noch seine Mütze aus schwarzem Seidenrips und den halblangen Kaftan und die hohen Stiefel. Aber die Schößeseines Rocks pochten nicht mehr mit hastigem Flügelschlag an die rohledernen Schäfte. Denn Mendel Singer hatte in Amerika, wo alles eilte,erst gelernt, langsam zu wandern.

Also wanderte er durch die Zeit dem Greisenalter entgegen, vom Morgengebet zum Abendgebet, vom Frühstück zum Nachtmahl, vom Erwachen zum Schlaf. Am Nachmittag, um die Stunde, in der zu Hauseseine Schüler gekommen waren, legte er sich auf das Roßhaarsofa,schlief eine Stunde und träumte von Menuchim. Dann las er ein bißchen in der Zeitung. Dann ging er in den Laden der Familie Skowronnek, in dem Grammophonapparate, Platten, Notenhefte und Gesangstexte gehandelt, gespielt und gesungen wurden. Dort versammeltensich alle älteren Leute des Viertels. Sie sprachen über Politik und erzählten Anekdoten aus der Heimat. Manchmal, wenn es spät geworden war, gingen sie in die Wohnstube der Skowronneks und betetensehr schnell ein Abendgebet.

Auf dem Heimweg, den Mendel ein wenig auszudehnen suchte, ergaber sich der Vorstellung, daß ihn zu Hause ein Brief erwartete. Im Briefstand klar und ausdrücklich, daß erstens: Menuchim ganz gesund undvernünftig geworden war; zweitens: daß Jonas wegen eines geringfügigen Gebrechens den Dienst verlassen hatte und nach Amerika kommen wollte. Mendel Singer wußte, daß dieser Brief noch nicht gekommen war. Aber er versuchte gleichsam, dem Brief eine günstige Gelegenheit zu geben, auf daß er Lust bekomme einzutreffen. Und miteinem leisen Herzklopfen zog er den Klingelknopf. In dem Augenblick, in dem er Deborah erblickt, ist es vorbei. Noch war der Briefnicht da. Es wird ein Abend sein wie jeder andere.

An einem Tage, an dem er einen Umweg machte, um nach Hause zugelangen, sah er an der Ecke der Gasse einen halbwüchsigen Jungen,der ihm aus der Ferne bekannt erschien. Der Junge lehnte in einemHaustor und weinte. Mendel hörte ein dünnes Wimmern, es drang, soleise es auch war, bis zu Mendel, auf die gegenüberliegende Seite derStraße. Wohlvertraut war Mendel dieser Laut. Er blieb stehen. Er beschloß, zu dem Knaben zu treten, ihn auszufragen, ihn zu trösten. Ersetzte sich in Gang. Plötzlich, das Wimmern wurde lauter, stockteMendel in der Straßenmitte. Im Schatten des Abends und des Haustors, in dem der Junge kauerte, schien er Menuchims Umriß und Haltung zu bekommen. Ja, so, vor der Schwelle seines Hauses in Zuchnow, hatte Menuchim gekauert und gewimmert. Mendel machte nochein paar Schritte. Da huschte der Knabe ins Haus. Mendel trat bis zurTür. Da hatte der finstere Hausflur den Jungen schon aufgenommen.Noch langsamer als zuvor ging Mendel heim.

Nicht Deborah kam an die Tür, als er schellte, sondern sein Sohn Sam.Mendel blieb einen Augenblick an der Schwelle. Obwohl er auf nichtsanderes als auf eine überraschende Freude vorbereitet war, ergriff ihndoch die Angst, es könnte ein Unglück geschehen sein, ja, dermaßenwar sein Herz an Unglück gewöhnt, daß er immer noch erschrak,selbst nach einer langen Vorbereitung auf das Glück. Was kann einemMann wie mir, dachte er, überraschend Fröhliches widerfahren? AllesPlötzliche ist böse, und das Gute schleicht langsam.

Die Stimme Schemarjahs aber beruhigte ihn bald. „Komm nur!”, sagteSam. Er zog den Vater an der Hand ins Zimmer. Deborah hatte zweiLampen angezündet. Seine Schwiegertochter Vega, Mirjam und Macsaßen um den Tisch. Das ganze Haus kam Mendel verwandelt vor. Diezwei Lampen — sie waren von der gleichen Art — sahen aus wieZwillinge, und sie beleuchteten weniger das Zimmer als sich selbstgegenseitig. Es war, als ob sie sich zulachten, eine Lampe der andern, und das erheiterte Mendel besonders. „Setz dich, Vater!”, sagteSam. Er war nicht neugierig, Mendel, er fürchtete schon, es werdejetzt eine von den amerikanischen Geschichten kommen, die alleWelt veranlaßten, fröhlich zu sein, und an denen er keine Freudefinden konnte. Was wird schon geschehen sein? dachte er. Sie werden mir ein Grammophon geschenkt haben. Oder sie haben beschlossen, Hochzeitstag zu feiern. Er setzte sich sehr umständlich.Alle schwiegen. Dann sagte Sam — und es war, als entzündete er diedritte Lampe im Zimmer: „Vater, wir haben fünfzehntausend Dollarauf einen Schlag verdient.”

Mendel erhob sich und reichte allen Anwesenden die Hand. Zuletztgelangte er zu Mac. Ihm sagte Mendel: „Ich danke Ihnen.” Samübersetzte sofort die drei Worte ins Englische. Mac erhob sich nunebenfalls und umarmte Mendel. Dann begann er zu sprechen. Erhörte nicht mehr auf. An diesem Abend sprach außer Mac kein anderer mehr. Deborah rechnete die Summe in Rubel um und wurdenicht fertig. Vega dachte an neue Möbel in der neuen Wohnung, besonders an ein Klavier. Ihr Sohn sollte Klavierstunden nehmen.Mendel dachte an einen Abstecher nach Hause. Mirjam hörte nurMac reden und bemühte sich, möglichst alles zu verstehen. Da sieseine Sprache nicht ganz verstand, meinte sie, Mac spreche zu klug,um verstanden zu werden. Sam überlegte, ob er das ganze Geld insein Kaufhaus stecken sollte. Nur Mac dachte wenig, machte sichkeine Sorgen, schmiedete keine Pläne. Er sprach, was ihm einfiel.

Am nächsten Tag fuhren sie nach Atlantic City. „Eine schöne Natur!”, sagte Deborah. Mendel sah nur das Wasser. Und er erinnertesich an jene wilde Nacht daheim, in der er mit Sameschkin im Straßengraben gelegen hatte. Und er hörte das Zirpen der Grillen unddas Quaken der Frösche. „Bei uns zu Hause”, sagte er plötzlich,,,ist die Erde so weit wie in Amerika das Wasser.” Er hatte es garnicht sagen wollen. „Hörst du, was der Vater sagt?”, meinte Deborah. „Er wird alt!” Ja, ja, ich werde alt, dachte Mendel.

Als sie nach Hause kamen, lag im Türspalt ein dicker, geschwollenerBrief, den der Postbote nicht hatte durchstecken können. „Siehstdu”, sagte Mendel und bückte sich, „dieser Brief ist ein guter Brief.Das Glück hat angefangen. Ein Glück bringt das andere, gelobt seiGott. Er helfe uns weiter.”

Es war ein Brief von der Familie Billes. Und es war in der Tat ein guterBrief. Er enthielt die Nachricht, daß Menuchim plötzlich zu reden angefangen hatte.

„Der Doktor Soltysiuk hat ihn gesehen”, schrieb die Familie Billes. „Erkonnte es nicht glauben. Man will Menuchim nach Petersburg schicken, die großen Doktoren wollen sich den Kopf über ihn zerbrechen.Eines Tages, es war Donnerstagnachmittag, er war allein zu Haus, undes brannte im Ofen wie jeden Donnerstag, fiel ein brennendes Scheitheraus, und jetzt ist der ganze Fußboden verbrannt, und die Wändemuß man tünchen. Es kostet ein schönes Stück Geld. Menuchim liefauf die Straße, er kann auch schon ganz gut laufen, und schrie: „Esbrennt!” Und seit damals spricht er ein paar Worte.

Schade nur, daß es eine Woche war nach Jonas’ Abreise. Denn EuerJonas war hier, auf Urlaub, er ist wirklich schon ein großer Soldat, under hat gar nicht gewußt, daß Ihr in Amerika seid. Auch er schreibtEuch hier, auf der anderen Seite.”

Mendel wendete das Blatt um und las:

„Lieber Vater, liebe Mutter, lieber Bruder und liebe Schwester!

Ihr seid also in Amerika, es hat mich getroffen wie ein Blitz. Ich binzwar selbst schuldig, denn ich habe Euch niemals oder, ich erinneremich, nur einmal geschrieben, dennoch, wie gesagt, es hat mich getroffen wie ein Blitz. Macht Euch nichts daraus. Es geht mir sehr gut. Allesind gut zu mir, und ich bin gut zu allen. Besonders gut bin ich zu denPferden. Ich kann reiten wie der beste Kosak und im Galopp mit denZähnen ein Taschentuch vom Boden aufheben. Solche Sachen liebe ichund das Militär auch. Ich werde bleiben, auch wenn ich ausgedienthabe. Man ist versorgt, man hat zu essen, alles befiehlt man von oben,was nötig ist, man braucht nicht selbst zu denken. Ich weiß nicht, obich es so schreibe, daß Ihr es ganz genau versteht. Vielleicht könnt Ihrdas gar nicht verstehen. Im Stall ist es sehr warm, und ich liebe diePferde. Sollte einmal einer von Euch herüberkommen, so könnt Ihrmich sehen. Mein Kapitän hat gesagt, wenn ich ein so guter Soldatbleibe, kann ich ein Gesuch machen an den Zaren, das heißt an Seinehochwohlgeborene Majestät, damit meinem Bruder die Desertationvergeben und vergessen wird. Das wäre meine größte Freude, Schemarjah in diesem Leben noch zu sehen, wir sind ja zusammen aufgewachsen.

Sameschkin läßt Euch grüßen, es geht ihm gut.

Man sagt hier manchmal, daß ein Krieg kommen wird. Sollte er wirklich kommen, so müßt Ihr darauf vorbereitet sein, daß ich sterbe, sowie ich darauf vorbereitet bin, denn ich bin ein Soldat.

Für diesen Fall umarme ich Euch ein für allemal und für immer. Aberseid nicht traurig, vielleicht bleibe ich am Leben.

Euer Sohn Jonas”

Mendel Singer legte die Brille ab, sah, daß Deborah weinte, und ergriffnach langen Jahren zum erste Mal wieder ihre beiden Hände. Er zogihre Hände vom verweinten Angesicht und sagte beinahe feierlich:,,Nun, Deborah, der Herr hat uns geholfen. Nimm den Schal, geh hinunter, und bring eine Flasche Met.”

Sie saßen am Tisch und tranken den Met aus Teegläsern, sahen sich anund dachten das gleiche. „Der Rabbi hat recht”, sagte Deborah. Deutlich diktierte ihr die Erinnerung die Worte, die lange in ihr geschlafenhatten: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig,die Bitternis milde und die Krankheit stark.”

„Das hast du mir nie gesagt”, meinte Mendel.

„Ich hatte es vergessen.”

„Mit Jonas hätte man auch nach Kluczysk fahren müssen. Die Pferdeliebt er mehr als uns.”

„Er ist noch jung”, tröstete Deborah. „Vielleicht ist es gut, daß er diePferde liebt.” Und weil sie keine Gelegenheit, boshaft zu sein, vorübergehen ließ, sagte sie noch: „Von dir hat er die Liebe zu den Pferdennicht.”

„Nein”, sagte Mendel und lächelte friedfertig.

Er begann, an eine Heimkehr zu denken. Jetzt konnte man vielleichtbald Menuchim nach Amerika bringen. Er zündete eine Kerze an,löschte die Lampe aus und sagte: „Geh schlafen, Deborah! Wenn Mirjam nach Hause kommt, werde ich ihr den Brief zeigen. Ich bleibeheute wach.”

Er holte aus dem Koffer sein altes Gebetbuch, heimisch war es in seiner Hand, er schlug mit einem Griff die Psalmen auf und sang einennach dem andern. Es sang aus ihm. Er hatte die Gnade erfahren unddie Freude.

Auch über ihm wölbte sich Gottes breite, weite, gütige Hand. Von ihrbeschirmt und ihr zu Ehren sang er einen Psalm nach dem andern. DieKerze flackerte in dem leisen, aber eifrigen Wind, den Mendels schaukelnder Oberkörper entfachte. Mit den Füßen schlug er den Takt zuden Versen der Psalmen. Sein Herz jubelte, und sein Körper mußtetanzen.

XI

Da verließen zum ersten Mal die Sorgen das Haus Mendel Singers. Vertraut waren sie ihm gewesen, wie verhaßte Geschwister. Neunundfünfzig Jahre wurde er jetzt alt. Seit achtundfünfzig Jahren kannte ersie. Die Sorgen verließen ihn, der Tod näherte sich ihm. Sein Bart warweiß, sein Auge war schwach. Der Rücken krümmte sich, und dieHände zitterten. Der Schlaf war leicht, und die Nacht war lang. DieZufriedenheit trug er wie ein fremdes, geborgtes Kleid. Sein Sohnübersiedelte in die Gegend der Reichen, Mendel blieb in seiner Gasse,in seiner Wohnung, bei den blauen Petroleumlampen, in der Nachbarschaft der Armen, der Katzen und der Mäuse. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Wenige beachteten ihn. Manche bemerkten ihn gar nicht. Ein paar alte Freunde besuchte er tagsüber: Menkes, den Obsthändler, Skowronnek, die Musikalienhandlung, Rottenberg, den Bibelschreiber, Groschel, den Schuster. Einmal in der Woche kamen seine drei Kinder, sein Enkel undMac. Er hatte ihnen gar nichts zu sagen. Sie erzählten Geschichten ausdem Theater, aus der Gesellschaft und aus der Politik. Er hörte zu undschlief ein. Wenn Deborah ihn weckte, schlug er die Augen auf. „Ichhabe nicht geschlafen!”, versicherte er. Mac lachte. Sam lächelte. Mirjam flüsterte mit Deborah. Mendel blieb eine Weile wach und nicktewieder ein. Er träumte sofort: Begebenheiten aus der Heimat undDinge, von denen er in Amerika nur gehört hatte, Theater, Akrobatenund Tänzerinnen in Gold und Rot, den Präsidenten der VereinigtenStaaten, das Weiße Haus, den Milliardär Vanderbilt und immer wiederMenuchim. Der kleine Krüppel mischte sich zwischen das Rot undGold der Sängerinnen, und vor dem bleichen Strahlen des WeißenHauses haftete er als ein armer, grauer Fleck. Dies und jenes mit wachen Augen anzuschauen, war Mendel zu alt. Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York dieStadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikanerwaren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeitkostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugendder halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage,Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit,Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen desHimmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegenwie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehen wie Propheten,im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu denSternen Wolkenkratzer bauen. Die Welt wird sehr schön sein, dachteMendel, glücklich mein Enkel! Er wird alles erleben! Dennoch mischtesich in seine Bewunderung für die Zukunft ein Heimweh nach Rußland, und es beruhigte ihn, zu wissen, daß er noch vor den Triumphender Lebendigen ein Toter sein würde. Er wußte nicht, warum. Es beruhigte ihn. Er war bereits zu alt für das Neue und zu schwach fürTriumphe. Er hatte nur eine Hoffnung noch: Menuchim zu sehen. Samoder Mac würde hinüberfahren, ihn holen. Vielleicht fuhr auch Deborah.

Es war Sommer. Das Ungeziefer in der Wohnung Mendel Singers vermehrte sich unaufhaltsam, obwohl die kleinen Messingräder an denFüßen der Betten Tag und Nacht in Näpfchen voll Petroleum standenund obwohl Deborah mit einer zarten Hühnerfeder, in Terpentin getaucht, alle Ritzen der Möbel bestrich. Die Wanzen zogen in langen,geordneten Reihen die Wände hinunter, den Plafond entlang, wartetenin blutlüsterner Tücke auf den Anbruch der Finsternis und fielen aufdie Lager der Schlafenden. Die Flöhe sprangen aus den schwarzenSparren zwischen den Brettern der Diele, in die Kleider, auf die Kissen, auf die Decken. Die Nächte waren heiß und schwer. Durch dieoffenen Fenster kam von Zeit zu Zeit das ferne Dröhnen unbekannterZüge, die kurzen, regelmäßigen Donner einer meilenweiten, geschäftigen Welt und der trübe Dunst aus nachbarlichen Häusern, Misthaufenund offenen Kanälen. Die Katzen lärmten, die herrenlosen Hundeheulten, Säuglinge schrien durch die Nacht, und über dem Kopf Mendel Singers schlurften die Schritte der Schlaflosen, dröhnte das Niesender Erkälteten, miauten die Ermatteten in qualvollem Gähnen. MendelSinger entzündete die Kerze in der grünen Flasche neben dem Bett undging ans Fenster. Da sah er den rötlichen Widerschein der lebendigenamerikanischen Nacht, die sich irgendwo abspielte, und den regelmäßigen, silbernen Schatten eines Scheinwerfers, der verzweifelt amnächtlichen Himmel Gott zu suchen schien. Ja, und ein paar Sterne sahMendel ebenfalls, ein paar kümmerliche Sterne, zerhackte Sternbilder.Mendel erinnerte sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefeBläue des weitgespannten Himmels, die sanftgewölbte Sichel des Mondes, das finstere Rauschen der Föhren im Wald, an die Stimmen derGrillen und Frösche. Es kam ihm vor, daß es leicht wäre, jetzt, so wieer ging und stand, das Haus zu verlassen und zu Fuß weiterzuwandern, die ganze Nacht, so lange, bis er wieder unter dem freien Himmel war und die Frösche vernahm und die Grillen und das WimmernMenuchims. Hier in Amerika gesellte es sich zu den vielen Stimmen, indenen die Heimat sang und redete, zum Zirpen der Grillen und zumQuaken der Frösche. Dazwischen lag der Ozean, dachte Mendel. Manmußte ein Schiff besteigen, noch einmal ein Schiff, noch einmal zwanzig Tage und Nächte fahren. Dann war er zu Hause bei Menuchim.

Die Kinder redeten ihm zu, endlich das Viertel zu verlassen. Er hatteAngst. Er wollte nicht übermütig werden. Jetzt, wo alles gutzugehenbegann, durfte man nicht Gottes Zorn hervorrufen. Wann war es ihmje besser gegangen? Wozu in andere Gegenden ziehen? Was hatte mandavon? Die paar Jahre, die er noch zu leben gedachte, konnte er inGemeinschaft mit dem Ungeziefer verbringen.

Er wandte sich um. Da schlief Deborah. Früher hatte sie hier im Zimmer mit Mirjam geschlafen. Jetzt wohnte Mirjam bei ihrem Bruder.Oder bei Mac, dachte Mendel, hurtig und verstohlen. Deborah schliefruhig, halb aufgedeckt, ein breites Lächeln über dem breiten Angesicht. Was geht sie mich an? dachte Mendel. Wozu leben wir nochzusammen? Unsere Lust ist vorbei, unsere Kinder sind groß und versorgt, was soll ich bei ihr? Essen, was sie gekocht hat! Es steht geschrieben, daß es nicht gut ist, daß der Mensch allein sei. Also lebenwir zusammen. Sehr lange schon lebten sie zusammen, jetzt handeltees sich darum, wer früher sterben würde. Wahrscheinlich ich, dachteMendel. Sie ist gesund und hat wenig Sorgen. Immer noch verbirgt sieGeld unter irgendeinem Dielenbrett. Sie weiß nicht, daß es Sünde ist.Mag sie es verbergen!

Die Kerze im Flaschenhals ist zu Ende gebrannt. Die Nacht ist vergangen. Die ersten Geräusche des Morgens hört man schon, noch ehe mandie Sonne sieht. Man öffnet irgendwo kreischende Türen, man hörtpolternde Schritte im Stiegenhaus, der Himmel ist fahlgrau, und vonder Erde steigt ein gelblicher Dunst auf, Staub und Schwefel aus denKanälen. Deborah erwacht, seufzt und sagt: ,,Es wird regnen! Es stinktaus dem Kanal, mach die Fenster zu!”

So beginnen die sommerlichen Tage. Am Nachmittag kann Mendelnicht zu Hause schlafen. Er geht auf den Spielplatz der Kinder. Erfreut sich am Gesang der seltenen Amseln, sitzt lange auf einer Bank,zieht mit dem Regenschirm verworrene Striche in den Sand. Das Geräusch des Wassers, das ein langer Gummischlauch über den kleinenRasen stäubt, kühlt Mendel Singers Angesicht, er glaubt, das Wasserzu fühlen, und er schläft ein. Er träumt vom Theater, von Akrobatenin Rot und Gold, vom Weißen Haus, vom Präsidenten der VereinigtenStaaten, vom Milliardär Vanderbilt und von Menuchim.

Eines Tages kommt Mac. Er sagt (Mirjam begleitet ihn und übersetztes), daß er Ende Juli oder im August nach Rußland fahren wird, Menuchim holen.

Mendel ahnt, warum Mac fahren will. Er möchte wahrscheinlich Mirjam heiraten. Er tut alles mögliche für die Familie Singer.

Wenn ich stürbe, denkt Mendel, würde Mac Mirjam heiraten. Beidewarten auf meinen Tod. Ich habe Zeit. Ich warte auf Menuchim.

Es ist Juni, ein heißer und besonders langer Monat. Wann wird endlichder Juli kommen?

Ende Juli bestellt Mac eine Schiffskarte. Man schreibt an die FamilieBilles. Mendel geht in den Laden der Skowronneks, um den Freundenzu erzählen, daß sein jüngster Sohn ebenfalls nach Amerika kommt.Im Laden der Familie Skowronnek sind viel mehr Leute versammeltals sonst, an andern Tagen. Jeder hat ein Zeitungspapier in der Hand.In Europa ist der Krieg ausgebrochen.

Mac wird nicht mehr nach Rußland fahren. Menuchim wird nicht nachAmerika kommen. Der Krieg ist aus gebrochen.

Hatten die Sorgen nicht soeben erst Mendel Singer verlassen? Sie gingen, und der Krieg brach aus.

Jonas war im Krieg und Menuchim in Rußland.

Zweimal in der Woche am Abend kamen Sam und Mirjam, Vega undMac Mendel Singer besuchen. Und sie bemühten sich, dem Alten Jonas' sichern Untergang und Menuchims gefährdetes Leben zu verbergen. Es war, als glaubten sie, sie könnten Mendels nach Europa gerichteten Blick auf ihre eigene glückliche Leistung und ihre eigene Sicherheit lenken. Sie stellten sich gleichsam zwischen Mendel Singer undden Krieg. Und während er ihren Reden zuzuhören schien, ihren Vermutungen recht gab, daß Jonas in einer Kanzlei beschäftigt sei undMenuchim seiner besonderen Krankheit wegen gesichert in einem Petersburger Spital, sah er seinen Sohn Jonas mit dem Pferd stürzen undin einem jener Stacheldrähte hängenbleiben, die von den Kriegsberichterstattern so anschaulich beschrieben wurden. Und sein Häuschen in Zuchnow brannte — Menuchim lag im Winkel und wurde verbrannt. Gelegentlich getraute er sich, einen kleinen Satz zu sagen. „Voreinem Jahr, als der Brief kam”, sagte Mendel, „hätte ich selbst zuMenuchim fahren müssen.”

Niemand wußte darauf etwas zu erwidern. Ein paarmal schon hatteMendel diesen Satz gesprochen, und stets war das gleiche Schweigeneingebrochen. Es war, als löschte der Alte mit diesem einen Satz dasLicht im Zimmer aus, finster wurde es, und keiner sah mehr, wohinmit dem Finger zu deuten. Und nachdem sie lange geschwiegen hatten,erhoben sie sich und gingen.

Mendel Singer aber schloß die Tür hinter ihnen, schickte Deborahschlafen, entzündete eine Kerze und begann, einen Psalm nach demandern zu singen. In guten Stunden sang er sie und in bösen. Er sangsie, wenn er dem Himmel dankte und wenn er ihn fürchtete. Mendelsschaukelnde Bewegungen waren immer die gleichen. Und nur an seiner Stimme hätte ein aufmerksamer Lauscher vielleicht erkannt, obMendel, der Gerechte, dankbar war oder ausgefüllt von Ängsten.

In diesen Nächten schüttelte ihn die Furcht wie der Wind einen schwachen Baum. Und die Sorge lieh ihm ihre Stimme, mit einer fremdenStimme sang er die Psalmen. Er war fertig. Er schlug das Buch zu, hobes an die Lippen, küßte es und drückte die Flamme aus. Aber er wurdenicht ruhig. Zu wenig, zu wenig --- sagte er sich — habe ich getan.Manchmal erschrak er über die Erkenntnis, daß sein einziges Mittel,das Singen der Psalmen, ohnmächtig sein könnte in dem großen Sturm,in dem Jonas und Menuchim untergingen. Die Kanonen, dachte er,sind laut, die Flammen sind gewaltig, meine Kinder verbrennen, meineSchuld ist es, meine Schuld! Und ich singe Psalmen. Es ist nicht genug!Es ist nicht genug!

XII

Alle Menschen, die an den politischen Nachmittagen Skowronneks gewettet hatten, daß Amerika neutral bleiben würde, verloren die Wette.Es war Herbst. Um sieben Uhr morgens erwachte Mendel Singer. Umacht Uhr stand er schon in der Straße vor dem Haus. Der Schnee warnoch weiß und hart wie zu Hause in Zuchnow. Aber hier zerrann erbald. In Amerika hielt er sich nicht länger als eine Nacht. In der Frühschon zerkneteten ihn die hurtigen Füße der Zeitungsjungen. MendelSinger wartete, bis einer von ihnen vorbeikam. Er kaufte eine Zeitungund ging wieder ins Haus. Die blaue Petroleumlampe brannte. Sie erleuchtete den Morgen, der finster war wie die Nacht. Mendel Singerentfaltete die Zeitung, sie war fett, klebrig und naß, sie roch wie dieLampe. Er las die Berichte vom Kriegsschauplatz zweimal, dreimal,viermal. Er nahm zur Kenntnis, daß fünfzehntausend Deutsche aufeinmal in Gefangenschaft geraten waren und daß die Russen ihre Offensive in der Bukowina wiederaufgenommen hatten.

Das allein genügte ihm nicht. Er legte die Brille ab, putzte sie, zog siewieder an und las die Kriegsberichte noch einmal. Seine Augen durchsiebten die Zeilen. Fielen da nicht einmal die Namen Sam Singer, Menuchim, Jonas heraus?

„Was ist Neues in der Zeitung?”, fragte Deborah heute wie jeden Morgen. „Gar nichts!”, erwiderte Mendel. „Die Russen siegen, und dieDeutschen werden gefangen.”

Es wurde still. Im Spirituskocher siedete der Tee. Es sang beinahe wieder Samowar zu Hause. Nur der Tee schmeckte anders, ranzig war er,amerikanischer Tee, obwohl die Päckchen in chinesisches Papier gehüllt waren. „Nicht einmal einen Tee kann man trinken!”, sagte Mendel und wunderte sich selbst, daß er von solchen Kleinigkeiten sprach.Er wollte vielleicht etwas anderes sagen? Es gab so viel Wichtiges inder Welt, und Mendel beklagte sich über den Tee. Die Russen siegten,und die Deutschen wurden gefangen. Nur von Sam hörte man garnichts und nichts von Menuchim.

Vor zwei Wochen hatte Mendel geschrieben. Auch das Rote Kreuzhatte mitgeteilt, daß Jonas verschollen sei. Er ist wahrscheinlich tot,dachte im Stillen Deborah. Mendel dachte das gleiche. Aber sie sprachen lange über die Bedeutung des Wortes „verschollen”, und alsschlösse es die Möglichkeit des Todes vollkommen aus, kamen sie immer wieder überein, daß „verschollen” nur gefangengenommen heißenkonnte, desertiert oder in der Gefangenschaft verwundet.

Warum aber schrieb Sam schon so lange nicht? Nun, er war auf einemlängeren Marsch begriffen, oder gerade in einer „Umgruppierung”, ineiner jener Umgruppierungen, deren Wesen und Bedeutung am Nachmittag bei Skowronnek genauer erläutert wurden.

Man kann es nicht laut sagen, dachte Mendel, Sam hätte nicht gehensollen.

Er sagte den zweiten Teil des Satzes dennoch laut, Deborah hörte es.,,Das verstehst du nicht, Mendel”, sagte Deborah. Alle Argumente fürdie Teilnahme Sams am amerikanischen Krieg hatte Deborah von ihrerTochter Mirjam bezogen. „Amerika ist nicht Rußland. Amerika ist einVaterland. Jeder anständige Mensch ist verpflichtet, für das Vaterlandin den Krieg zu gehen. Mac ist gegangen, Sam hat nicht bleiben können.Außerdem ist er, Gott sei Dank! beim Regimentsstab. Dort fällt mannicht. Denn wenn man zulassen sollte, daß alle hohen Offiziere fallen,würde man gar nicht siegen. Und Sam ist, Gott sei Dank! neben denhohen Offizieren.”

„Einen Sohn hab' ich dem Zaren gegeben, es wäre genug gewesen!”

„Der Zar ist was anderes, und Amerika ist etwas anderes!”

Mendel debattierte nicht weiter. Alles hatte er schon gehört. Er erinnerte sich noch an den Tag, an dem beide fortgegangen waren, Macund Sam. Beide hatten ein amerikanisches Lied gesungen, in der Mitteder Gasse. Am Abend hatte man bei Skowronnek gesagt, Sam sei, unberufen, ein schöner Soldat.

Vielleicht war Amerika ein Vaterland, der Krieg eine Pflicht, die Feigheit eine Schande, ausgeschlossen der Tod beim Regimentsstab! Dennoch, dachte Mendel, bin ich der Vater, ich hätte ein Wort sagen müssen. Bleib, Sam! hätte ich sagen müssen. Lange Jahre habe ich gewartet,um einen kleinen Zipfel vom Glück zu sehen. Nun ist Jonas bei denSoldaten, wer weiß, was mit Menuchim geschehen wird, du hast eineFrau, ein Kind und ein Geschäft. Bleib, Sam! Vielleicht wäre er geblieben.

Mendel stellte sich, wie es seine Gewohnheit war, ans Fenster, denRücken der Stube zugekehrt. Er sah geradeaus auf das zerbrocheneund mit braunem Pappendeckel vernagelte Fenster der Lemmels gegenüber im ersten Stock. Unten war der Laden des jüdischen Selchersmit dem hebräischen Schild, weiße, schmutzige Buchstaben auf blaßblauem Grund. Auch der Sohn der Lemmels war in den Krieg gegangen. Die ganze Familie Lemmel besuchte die Abendschule und lernteEnglisch. Am Abend gingen sie mit Heften in die Schule wie kleineKinder. Wahrscheinlich war es richtig. Vielleicht sollten auch Mendelund Deborah in die Schule gehen. Amerika war ein Vaterland.

Es schneite noch ein wenig, langsame, faule und feuchte Flocken. DieJuden, aufgespannte, schwarze Regenschirme schwankten über ihrenKöpfen, begannen schon, auf und ab zu promenieren. Immer mehrkamen, sie gingen in der Mitte der Gasse, die letzten weißen Schneereste zerschmolzen unter ihren Füßen, es war, als müßten sie hier imInteresse der Behörden so lange auf und ab gehen, bis der Schnee vollends vernichtet war. Den Himmel konnte Mendel von seinem Fensteraus nicht erblicken. Aber er wußte, daß es ein finsterer Himmel war.In allen Fenstern gegenüber sah er den gelblich roten Widerschein vonLampen. Finster war der Himmel. Finster war es in allen Stuben.

Bald öffnete sich hier und dort ein Fenster, die Büsten der Nachbarinnen wurden sichtbar, man hängte rote und weiße Bettbezüge undnackte, gelbliche, gehäutete Polster an die Fenster. Auf einmal war dieganze Gasse heiter und bunt. Die Nachbarinnen riefen einander lauteGrüße zu. Aus dem Innern der Stuben drangen Tellergeklapper undKindergeschrei. Man hätte glauben können, es sei Friede, wenn nichtvom Laden der Skowronneks her die Kriegsmärsche aus den Grammophonen durch die Gasse gerasselt hätten.

Wann ist Sonntag? dachte Mendel. Früher hatte er von einem Samstagzum andern gelebt, jetzt lebte er von einem Sonntag zum nächsten.Am Sonntag kam Besuch, Mirjam, Vega und der Enkel. Sie brachtenBriefe von Sam oder wenigstens Neuigkeiten allgemeiner Natur. Alleswußten sie, alle Zeitungen lasen sie. Gemeinsam leiteten sie jetzt dasGeschäft. Es ging immer gut, sie waren tüchtig, sie sammelten Geldund warteten auf die Rückkehr Sams.

Mirjam brachte manchmal Herrn Glück mit, den ersten Direktor. Sieging mit Glück tanzen, sie ging mit Glück baden. Ein neuer Kosak!dachte Mendel. Aber er sagte nichts.

„Ich kann nicht in den Krieg, leider!”, seufzte Mister Glück. „Ich habeeinen schweren Herzklappenfehler, das einzige, was ich von meinemseligen Vater geerbt habe.” Mendel betrachtete die rosigen WangenGlücks, seine kleinen, braunen Augen und den koketten, flaumigenSchnurrbart, den er entgegen der Mode trug und mit dem er oft spielte.Er saß zwischen Mirjam und Vega. Einmal, als Mendel mitten imGespräch vom Tisch aufstand, glaubte er zu bemerken, daß derHerr Glück die rechte Hand in Vegas Schoß hielt und die linke aufMirjams Schenkel. Mendel ging hinaus auf die Straße, er ging vordem Hause auf und ab und wartete, bis die Gäste weggegangen waren.

„Du benimmst dich wie ein russischer Jude”, sagte Deborah, als erzurückkehrte.

„Ich bin ein russischer Jude”, erwiderte Mendel.

Eines Tages, es war ein Wochentag, Anfang Februar, Mendel undDeborah saßen beim Mittagessen, trat Mirjam ein.

„Guten Tag, Mutter!”, sagte sie und „Guten Tag, Vater!” und bliebstehen.

Deborah legte den Löffel aus der Hand und rückte den Teller weg.Mendel sah beide Frauen an. Er wußte, daß etwas Außerordentliches geschehen war. Mirjam kam an einem Wochentag, zu einerZeit, in der sie im Geschäft hätte sein müssen. Sein Herz schluglaut. Er war dennoch ruhig. Er glaubte, sich an diese Szene erinnernzu können. Sie hatte sich schon einmal zugetragen. Da stand Mirjamim schwarzen Regenmantel und war stumm. Da saß Deborah, denTeller hatte sie weit von sich geschoben, er steht fast in der Mittedes Tisches, draußen schneit es, weich, faul und flockig. Die Lampebrennt gelblich, ihr Licht ist fett wie ihr Geruch. Sie kämpft gegenden dunklen Tag, der schwächlich und fahl ist, aber mächtig genug,um mit seinem hellen Grau das ganze Zimmer zu bestreichen. Andieses Licht erinnert sich Mendel Singer genau. Er hat diese Szenegeträumt. Er weiß auch, was jetzt folgen wird. Alles weiß Mendelschon, als läge es längst zurück und als hätte sich der Schmerzschon vor Jahren in eine Trauer verwandelt. Mendel ist ganz ruhig.

Es ist ein paar Sekunden still. Mirjam spricht nicht, als hoffte sie,der Vater oder die Mutter würden sie durch eine Frage von derPflicht befreien, die Botschaft auszurichten. Sie steht und schweigt.Keins von den dreien rührt sich.

Mendel steht auf und sagt: „Ein Unglück ist geschehen!”

Mirjam sagt: „Mac ist zurückgekommen. Er hat Sams Uhr gebrachtund die letzten Grüße.”

Deborah sitzt, als ob nichts geschehen wäre, ruhig auf dem Sessel.Ihre Augen sind trocken und leer wie zwei dunkle Stückchen Glas.Sie sitzt dem Fenster gegenüber, und es sieht aus, als zählte sie dieSchneeflocken.

Es ist still, man hört das harte Ticken der Uhr.

Plötzlich beginnt Deborah, sich ganz langsam, mit schleichenden Fingern, die Haare zu raufen. Sie zieht eine Haarflechte nach der andernüber das Gesicht, das bleich ist und ohne Regung wie aufgequollenerGips. Dann reißt sie eine Strähne nach der andern aus, fast in demselbenTempo, in dem draußen die Schneeflocken niederfallen. Schon zeigensich zwei, drei weiße Inseln inmitten des Haars, ein paar talergroßeFlecken der nackten Kopfhaut und ganz winzige Tröpfchen roten Blutes. Niemand rührt sich. Die Uhr tickt, der Schnee fällt, und Deborahreißt sich die Haare aus.

Mirjam sinkt in die Knie, vergräbt den Kopf im Schoß Deborahs undrührt sich nicht mehr. In Deborahs Angesicht ändert sich kein Zug. Ihrebeiden Hände zupfen abwechselnd an den Haaren. Ihre Hände sehenaus wie bleiche, fleischige, fünffüßige Tiere, die sich von Haaren nähren.Mendel steht, die Arme über der Lehne des Sessels verschränkt.

Deborah beginnt zu singen. Sie singt mit einer tiefen, männlichenStimme, die so klingt, als wäre ein unsichtbarer Sänger im Zimmer. Diefremde Stimme singt ein altes jüdisches Lied ohne Worte, ein schwarzesWiegenlied für tote Kinder.

Mirjam erhebt sich, rückt den Hut zurecht, geht zur Tür und läßt Macein treten.

Er ist in der Montur größer als im Zivil. Er hat in beiden Händen, die ervor sich herträgt wie Teller, die Uhr, die Brieftasche und ein Portemonnaie Sams.

Diese Gegenstände legt Mac langsam auf den Tisch, gerade vor Deborah. Er sieht eine Weile zu, wie sie sich die Haare ausreißt, dann geht erzu Mendel, legt dem Alten seine großen Hände auf die Schultern undweint lautlos. Seine Tränen rinnen, ein dichter Regen, über die Uniform.

Es ist still, Deborahs Gesang hat aufgehört, die Uhr tickt, der Abendsinkt plötzlich über die Welt, die Lampe leuchtet nicht mehr gelb, sondern weiß, hinter den Fensterscheiben ist die Welt schwarz, man kannkeine Flocken mehr sehen.

Auf einmal kommt ein grölender Laut aus Deborahs Brust. Er klingtwie der Rest jener Melodie, die sie vorher gesungen hat, ein gesprengter,geborstener Ton.

Dann fällt Deborah vom Sessel. Sie liegt, eine gekrümmte, weicheMasse, auf dem Boden.

Mac stößt die Tür auf, läßt sie offen, es wird kalt in der Stube.

Er kommt zurück, ein Doktor begleitet ihn, ein kleiner, flinker, grauhaariger Mann.

Mirjam steht dem Vater gegenüber.

Mac und der Doktor tragen Deborah auf das Bett.

Der Doktor sitzt am Bettrand und sagt: „Sie ist tot.”

Auch Menuchim ist gestorben, allein, unter Fremden, denkt MendelSinger.

XIII

Sieben runde Tage saß Mendel Singer auf einem Schemel neben demKleiderschrank und schaute auf das Fenster, an dessen Scheibe zumZeichen der Trauer ein weißes Stückchen Leinwand hing und in demTag und Nacht eine der beiden blauen Lampen brannte. Sieben rundeTage rollten nacheinander ab, wie große, schwarze, langsame Reifen,ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die Trauer. Der Reihe nachkamen die Nachbarn: Menkes, Skowronnek, Rottenberg und Groschel, brachten harte Eier und Eierbeugel für Mendel Singer, rundeSpeisen, ohne Anfang und ohne Ende, rund wie die sieben Tage derTrauer.

Mendel sprach wenig mit seinen Besuchern. Er bemerkte kaum, daßsie kamen und gingen. Tag und Nacht stand seine Tür offen, mit zurückgeschobenem, zwecklosem Riegel. Wer kommen wollte, kam, wergehen wollte, ging. Der und jener versuchte, ein Gespräch anzufangen.Aber Mendel Singer wich ihm aus. Er sprach, während die andern lebendige Dinge erzählten, mit seiner toten Frau. „Du hast es gut, Deborah!”, sagte er zu ihr. „Es ist nur schade, daß du keinen Sohn hinterlassen hast, ich selbst muß das Totengebet sagen, ich werde aber baldsterben, und niemand wird uns beweinen. Wie zwei kleine Stäubchenwurden wir verweht. Wie zwei kleine Fünkchen sind wir erloschen.Ich habe Kinder gezeugt, dein Schoß hat sie geboren, der Tod hat siegenommen. Voller Not und ohne Sinn war dein Leben. In jungen Jahren habe ich dein Fleisch genossen, in späten Jahren habe ich es verschmäht. Vielleicht war das unsere Sünde. Weil nicht die Wärme derLiebe in uns war, sondern zwischen uns der Frost der Gewohnheit,starb alles rings um uns, verkümmerte alles und wurde verdorben. Duhast es gut, Deborah. Der Herr hat Mitleid mit dir gehabt. Du bist eineTote und begraben. Mit mir hat Er kein Mitleid. Denn ich bin einToter und lebe. Er ist der Herr, Er weiß, was Er tut. Wenn du kannst,bete für mich, daß man mich auslösche aus dem Buch der Lebendigen.Sieh, Deborah, die Nachbarn kommen zu mir, um mich zu trösten.Aber obwohl es viele sind und sie alle ihre Köpfe anstrengen, finden siedoch keinen Trost für meine Lage. Noch schlägt mein Herz, nochschauen meine Augen, noch bewegen sich meine Glieder, noch gehenmeine Füße. Ich esse und trinke, bete und atme. Aber mein Blutstockt, meine Hände sind welk, mein Herz ist leer. Ich bin nicht Mendel Singer mehr, ich bin der Rest von Mendel Singer. Amerika hat unsgetötet. Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Wasbei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod.Der Sohn, der bei uns Schemarjah hieß, hat hier Sam geheißen. InAmerika bist du begraben, Deborah, auch mich, Mendel Singer, wirdman in Amerika begraben.”

Am Morgen des achten Tages, als Mendel von seiner Trauer aufstand,kam seine Schwiegertochter Vega, in Begleitung des Mister Glück.

„Mister Singer”, sagte Mister Glück, „unten ist der Wagen. Sie müssensofort mit uns kommen, mit Mirjam ist etwas passiert.”

„Gut”, erwiderte Mendel gleichgültig — als hätte man ihm mitgeteilt,daß man sein Zimmer tapezieren müsse. „Gut, gebt mir meinen Mantel.”

Mendel kroch mit schwachen Armen in den Mantel und ging die Stiegen hinunter. Mister Glück drängte ihn in den Wagen. Sie fuhren undsprachen kein Wort. Mendel fragte nicht, was mit Mirjam geschehensei. Wahrscheinlich ist sie auch tot, dachte er ruhig. Mac hat sie ausEifersucht getötet.

Zum ersten Mal betrat er die Wohnung seines toten Sohnes. Man schobihn in ein Zimmer. Da lag Mirjam in einem breiten, weißen Bett. IhreHaare flossen lose, in einer funkelnden, blauen Schwärze, über dieweißen Kissen. Ihr Angesicht glühte rot, und ihre schwarzen Augenhatten breite, runde, rote Ränder; umkreist von Ringen aus Brand waren Mirjams Augen. Eine Krankenschwester saß neben ihr, Mac standin einer Ecke, groß und ohne sich zu rühren, wie ein Möbelstück.

„Da ist Mendel Singer”, rief Mirjam. Sie streckte eine Hand gegen denVater aus und begann zu lachen. Ihr Lachen dauerte ein paar Minuten.Es klang wie das Klingeln der hellen, ununterbrochenen Signale aufBahnhöfen und als schlüge man mit tausend Klöppeln aus Messing auftausend dünne Kristallgläser. Plötzlich brach das Lachen ab. Eine Sekunde war es still. Dann begann Mirjam zu schluchzen. Sie schob dieDecke zurück, ihre nackten Beine zappelten, ihre Füße schlugen inschneller Regelmäßigkeit auf das weiche Lager, immer schneller, immer regelmäßiger, während ihre geballten Fäuste im gleichen Rhythmus durch die Luft schwangen. Die Krankenschwester hielt Mirjammit Gewalt fest. Sie wurde ruhiger. „Guten Tag, Mendel Singer!”, sagteMirjam. „Du bist mein Vater, ich kann es dir erzählen. Ich liebe Mac,der da steht, aber ich habe ihn betrogen. Mit Mister Glück habe ichgeschlafen, ja, mit Mister Glück! Glück ist mein Glück, Mac ist meinMac. Mendel Singer gefällt mir auch, und wenn du willst —” Da hieltdie Krankenschwester Mirjam die Hand vor den Mund, und Mirjamverstummte.

Mendel Singer stand noch immer an der Tür, Mac stand immer noch inder Ecke. Beide Männer sahen einander fortwährend an. Da sie sichnicht mit Worten verständigen konnten, redeten sie mit den Augen.,,Sie ist verrückt”, sagten Mendel Singers Augen zu denen Macs. „Siehat ohne Männer nicht leben können, sie ist verrückt.”

Vega trat ein und sagte: „Wir haben den Arzt kommen lassen. JedenAugenblick muß er dasein. Seit gestern spricht Mirjam wirr. Sie warmit Mac spazierengegangen, und als sie zurückkam, begann sie, sich so unverständlich zu benehmen. Jeden Augenblick muß der Arzt dasein.”Der Doktor kam. Es war ein Deutscher, er konnte sich mit Mendelverstehen. „Wir werden sie in die Anstalt bringen”, sagte der Doktor.,,Ihre Tochter muß leider in eine Anstalt. Warten Sie einen Moment,ich werde sie betäuben.”

Mac stand noch immer im Zimmer. „Wollen Sie sie festhalten?”, fragteder Doktor. Mac hielt mit seinen großen Händen Mirjam fest. DerDoktor stieß ihr eine Spritze in den Schenkel. „Bald wird sie ruhigsein!”, sagte er.

Der Krankenwagen kam, zwei Träger mit einer Bahre traten ins Zimmer. Mirjam schlief. Man band sie auf die Bahre. Mendel, Mac undVega fuhren hinter dem Krankenwagen.

„Das hast du nicht erlebt”, sprach Mendel zu seiner Frau Deborah,während sie fuhren. „Ich erlebe es noch, aber ich habe es gewußt. Seitjenem Abend, an dem ich Mirjam mit dem Kosaken im Felde sah, habeich es gewußt. Der Teufel ist in sie gefahren. Bete für uns, Deborah,daß er sie wieder verlasse.”

Nun saß Mendel im Wartezimmer der Anstalt, umgeben von andernWartenden, vor kleinen Tischchen, auf denen Vasen voll gelber, sommerlicher Blumen standen, und dünnen Gestellen, beladen mit buntenillustrierten Zeitschriften. Aber keiner von den Wartenden roch an denBlumen, keiner der Wartenden blätterte in den Zeitschriften. Zuerstglaubte Mendel, alle Menschen, die hier mit ihm saßen, wären verrücktund er selbst ein Verrückter wie alle. Dann sah er durch die breite Türaus spiegelndem Glas, die diesen Warteraum von dem weißgetünchtenKorridor trennte, wie draußen Menschen in blaugestreiften Kittelnpaarweise vorbeigeführt wurden. Zuerst Frauen, dann Männer, undmanchmal warf einer von den Kranken sein wildes, verkniffenes, zerrissenes, böses Gesicht durch die Scheibe der Tür in den Wartesaal.Alle Wartenden erschauerten, nur Mendel blieb ruhig. Ja, es erschienihm merkwürdig, daß nicht auch die Wartenden blaugestreifte Kitteltrugen und er selbst auch nicht.

Er saß in einem breiten, ledernen Lehnstuhl, die Mütze aus schwarzemSeidenrips hatte er über die Knie gestülpt, sein Regenschirm lehnte, eintreuer Gefährte, neben dem Sessel. Mendel blickte abwechselnd auf dieMenschen, die gläserne Tür, die Zeitschriften, die Verrückten, diedraußen immer noch vorbeizogen — man führte sie zum Bad-, und aufdie goldenen Blumen in den Vasen. Es waren gelbe Schlüsselblumen,Mendel erinnerte sich, daß er sie daheim auf den grünen Wiesen oftgesehen hatte. Die Blumen kamen aus der Heimat. Er gedachte ihrergern. Diese Wiesen hatte es dort gegeben und diese Blumen! DerFriede war dort heimisch gewesen, die Jugend war dort heimisch gewesen und die vertraute Armut. Im Sommer war der Himmel ganzblau gewesen, die Sonne ganz heiß, das Getreide ganz gelb, die Fliegenhatten grün geschillert und warme Liedchen gesummt, und hoch unterden blauen Himmeln hatten die Lerchen getrillert, ohne Aufhören.Mendel Singer vergaß, während er die Schlüsselblumen ansah, daß Deborah gestorben, Sam gefallen, Mirjam verrückt und Jonas verschollenwar. Es war, als hätte er soeben erst die Heimat verloren und in ihrMenuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, dennächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben, dachte Mendel, garnichts wäre geschehen! Jonas hat recht gehabt, Jonas, das dümmstemeiner Kinder! Die Pferde hat er geliebt, den Schnaps hat er geliebt,die Mädchen hat er geliebt, jetzt ist er verschollen! Jonas, ich werdedich nie mehr Wiedersehen, ich werde dir nicht sagen können, daß durecht hattest, ein Kosak zu werden. „Was geht ihr nur immer in derWelt herum?”, hatte Sameschkin gesagt. „Der Teufel schickt euch!” Erwar ein Bauer, Sameschkin, ein kluger Bauer. Mendel hatte nicht fahren wollen. Deborah, Mirjam, Schemarjah — sie hatten fahren wollen,in der Welt herumfahren. Man hätte bleiben sollen, die Pferde lieben,Schnaps trinken, in den Wiesen schlafen, Mirjam mit Kosaken gehenlassen und Menuchim lieben.

Bin ich verrückt geworden, dachte Mendel weiter, daß ich so denke?Denkt ein alter Jude solche Sachen? Gott hat meine Gedanken verwirrt, der Teufel denkt aus mir, wie er aus meiner Tochter Mirjamredet.

Der Doktor kam, zog Mendel in eine Ecke und sagte leise: „Fassen Siesich, Ihre Tochter ist sehr krank. Es gibt jetzt viele solcher Fälle, derKrieg, verstehen Sie, und das Unglück in der Welt, es ist eine schlimmeZeit. Die Medizin weiß noch nicht, wie man die Krankheit heilt. EinerIhrer Söhne ist Epileptiker, wie ich höre, entschuldigen Sie, so was istin der Familie. Wir Ärzte nennen das degenerative Psychose. Es kannsich geben. Es kann sich aber auch als eine Krankheit erweisen, die wirÄrzte Dementia nennen, Dementia praecox, aber sogar die Namensind unsicher. Das ist einer von den seltenen Fällen, die wir nicht heilen können. Sie sind doch ein frommer Mann, Mister Singer? Der liebeGott kann helfen. Beten Sie nur fleißig zum lieben Gott. Übrigens,wollen Sie noch einmal Ihre Tochter sehen? Kommen Sie!”

Ein Schlüsselbund rasselte, eine Tür fiel mit hartem Knall zu, undMendel ging durch einen langen Korridor, vorbei an weißen Türen mitschwarzen Nummern, wie an vertikal aufgestellten Särgen. Noch einmal rasselte der Schlüsselbund der Wärterin, und einer der Särge wardaufgetan, drin lag Mirjam und schlief, Mac und Vega standen nebenihr.

„Jetzt müssen wir gehen”, sagte der Doktor.

„Führt mich direkt nach Hause in meine Gasse”, befahl Mendel.

Seine Stimme klang so hart, daß alle erschraken. Sie sahen ihn an. SeinAussehen schien sich nicht verändert zu haben, dennoch war es ein anderer Mendel. Genau wie in Zuchnow und wie die ganze Zeit in Amerika war er angezogen. In hohen Stiefeln, im halblangen Kaftan, in derMütze aus schwarzem Seidenrips. Was also hatte ihn so verändert?Warum erschien er allen größer und stattlicher? Warum ging so einweißer und furchtbarer Glanz von seinem Angesicht aus? Fast schiener den großen Mac zu überragen. Seine Majestät, der Schmerz, dachteder Doktor, ist in den alten Juden gefahren.

„Einmal”, begann Mendel im Wagen, „hat mir Sam gesagt, daß dieMedizin in Amerika die beste der Welt ist. Jetzt kann sie nicht helfen.Gott kann helfen! sagt der Doktor. Sag, Vega, hast du schon gesehen,daß Gott einem Mendel Singer geholfen hätte? Gott kann helfen!”

„Du wirst jetzt bei uns wohnen”, sagte Vega schluchzend.

„Ich werde nicht bei euch wohnen, mein Kind”, antwortete Mendel,,,du wirst einen Mann nehmen, du sollst nicht ohne Mann sein, deinKind soll nicht ohne Vater sein. Ich bin ein alter Jude, Vega, baldwerde ich sterben. Hör zu, Vega! Mac war Schemarjahs Freund, Mirjam hat er geliebt, ich weiß, er ist kein Jude, aber ihn sollst du heiraten,nicht den Mister Glück! Hörst du, Vega? Wundert es dich, daß ich sorede, Vega? Wundere dich nicht, ich bin nicht verrückt. Alt bin ichgeworden, ein paar Welten habe ich zugrunde gehen sehen, endlich binich klug geworden. Alle die Jahre war ich ein törichter Lehrer. Nunweiß ich, was ich sage.”

Sie kamen an, sie luden Mendel ab, führten ihn ins Zimmer, Mac undVega standen noch eine Weile und wußten nicht, was tun.

Mendel setzte sich auf den Schemel neben den Schrank und sagte zuVega: „Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Jetzt geht, meine Kinder.”

Sie verließen ihn. Mendel trat ans Fenster und sah zu, wie sie in denWagen stiegen. Es schien ihm, daß er sie segnen müsse, wie Kinder, dieeinen sehr schweren oder einen sehr glücklichen Weg antreten. Ichwerde sie nie mehr sehen, dachte er dann, ich werde sie auch nichtsegnen. Mein Segen könnte ihnen zum Fluch werden, ihre Begegnungmit mir ein Nachteil. Er fühlte sich leicht, ja, leichter als jemals in allseinen Jahren. Er hatte alle Beziehungen gelöst. Es fiel ihm ein, daß erschon seit Jahren einsam war. Einsam war er seit dem Augenblick gewesen, an dem die Lust zwischen seinem Weib und ihm aufgehörthatte. Allein war er, allein. Frau und Kinder waren um ihn gewesenund hatten ihn verhindert, seinen Schmerz zu tragen. Wie unnützePflaster, die nicht heilen, waren sie auf seinen Wunden gelegen undhatten sie nur verdeckt. Jetzt, endlich, genoß er sein Weh mitTriumph. Es galt, nur noch eine Beziehung zu kündigen. Er machte sichan die Arbeit.

Er ging in die Küche, raffte Zeitungspapier und Kienspäne zusammenund machte ein Feuer auf der offenen Herdplatte. Als das Feuer eineansehnliche Höhe und Weite erreichte, ging Mendel mit starken Schritten zum Schrank und entnahm ihm das rotsamtene Säckchen, in demseine Gebetriemen lagen, sein Gebetmantel und seine Gebetbücher. Erstellte sich vor, wie diese Gegenstände brennen würden. Die Flammenwerden den gelblich getönten Stoff des Mantels aus reiner Schafwolleergreifen und mit spitzen, bläulichen, gefräßigen Zungen vernichten.Der glitzernde Rand aus silbernen Fäden wird langsam verkohlen, inkleinen, rotglühenden Spiralen. Das Feuer wird die Blätter der Büchersachte zusammenrollen, in silbergraue Asche verwandeln, und dieschwarzen Buchstaben für ein paar Augenblicke blutig färben. Die ledernen Ecken der Einbände werden emporgerollt, stellen sich auf wieseltsame Ohren, mit denen die Bücher zuhören, was ihnen Mendel inden heißen Tod nachruft. Ein schreckliches Lied ruft er ihnen nach.,,Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer!”, ruft er, und mit den Stiefelnstampft er den Takt dazu, daß die Dielenbretter dröhnen und die Töpfean der Wand zu klappern beginnen. „Er hat keinen Sohn, er hat keineTochter, er hat kein Weib, er hat keine Heimat, er hat kein Geld. Gottsagt: Ich habe Mendel Singer gestraft. Wofür straft er, Gott? Warumnicht Lemmel, den Fleischer? Warum straft er nicht Skowronnek?Warum straft er nicht Menkes? Nur Mendel straft er! Mendel hat denTod, Mendel hat den Wahnsinn, Mendel hat den Hunger, alle GabenGottes hat Mendel. Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer!”

So stand Mendel vor dem offenen Feuer und brüllte und stampfte mitden Füßen. Er hielt das rotsamtene Säckchen in den Armen, aber er warfes nicht hinein. Ein paarmal hob er es in die Höhe, aber seine Armeließen es wieder sinken. Sein Herz war böse auf Gott, aber in seinenMuskeln wohnte noch die Furcht vor Gott. Fünfzig Jahre, Tag für Tag,hatten diese Hände den Gebetmantel ausgebreitet und wieder zusammengefaltet, die Gebetriemen aufgerollt und um den Kopf geschlungenund um den linken Arm, dieses Gebetbuch aufgeschlagen, um und umgeblättert und wieder zugeklappt. Nun weigerten sich die Hände, Mendels Zorn zu gehorchen. Nur der Mund, der so oft gebetet hatte, weigerte sich nicht. Nur die Füße, die oft zu Ehren Gottes beim Hallelujagehüpft hatten, stampften den Takt zu Mendels Zorngesang.

Da die Nachbarn Mendel also schreien und poltern hörten und da sieden graublauen Rauch durch die Ritzen und Spalten seiner Tür in denTreppenflur dringen sahen, klopften sie bei Singer an und riefen, daßer ihnen öffne. Er aber hörte sie nicht. Seine Augen erfüllte der Dunstdes Feuers, und in seinen Ohren dröhnte sein großer, schmerzlicherJubel. Schon waren die Nachbarn bereit, die Polizei zu holen, als einervon ihnen sagte: „Rufen wir doch seine Freunde! Sie sitzen bei Skowronnek. Vielleicht bringen sie den Armen wieder zur Vernunft.”

Als die Freunde kamen, beruhigte sich Mendel wirklich. Er schob denRiegel zurück und ließ sie eintreten, der Reihe nach, wie sie immergewohnt waren, in Mendels Stube zu treten, Menkes, Skowronnek,Rottenberg und Groschel. Sie zwangen Mendel, sich aufs Bett zu setzen, setzten sich selbst neben ihn und vor ihn hin, und Menkes sagte:,,Was ist mit dir, Mendel? Warum machst du Feuer, warum willst dudas Haus anzünden?”

„Ich will mehr verbrennen als nur ein Haus und mehr als einen Menschen. Ihr werdet staunen, wenn ich euch sage, was ich wirklich zuverbrennen im Sinn hatte. Ihr werdet staunen und sagen: Auch Mendelist verrückt, wie seine Tochter. Aber ich versichere euch: Ich bin nichtverrückt. Ich war verrückt. Mehr als sechzig Jahre war ich verrückt,heute bin ich es nicht.”

„Also sag uns, was du verbrennen willst!”

„Gott will ich verbrennen.”

Allen vier Zuhörern entrang sich gleichzeitig ein Schrei. Sie warennicht alle fromm und gottesfürchtig, wie Mendel immer gewesen war.Alle vier lebten schon lange genug in Amerika, sie arbeiteten am Sabbat, ihr Sinn stand nach Geld, und der Staub der Welt lag schon dicht,hoch und grau auf ihrem alten Glauben. Viele Bräuche hatten sie vergessen, gegen manche Gesetze hatten sie verstoßen, mit ihren Köpfenund Gliedern hatten sie gesündigt. Aber Gott wohnte noch in ihrenHerzen. Und als Mendel Gott lästerte, war es ihnen, als hätte er mitscharfen Fingern an ihre nackten Herzen gegriffen.

„Lästere nicht, Mendel”, sagte nach einem längeren Schweigen Skowronnek. „Du weißt besser als ich, denn du hast viel mehr gelernt, daßGottes Schläge einen verborgenen Sinn haben. Wir wissen nicht, wofürwir gestraft werden.”

„Ich aber weiß es, Skowronnek”, erwiderte Mendel. „Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit unsum. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinenFingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur dieSchwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reiztseine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer,grausamer Isprawnik. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sienur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einzigesGebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozeß. Und gehst du redlich mit ihm um,so lauert er auf die Bestechung. In ganz Rußland gibt es keinen böserenIsprawnik!”

„Erinnere dich, Mendel”, begann Rottenberg, „erinnere dich an Hiob.Ihm ist ähnliches geschehen wie dir. Er saß auf der nackten Erde,Asche auf dem Haupt, und seine Wunden taten ihm so weh, daß ersich wie ein Tier auf dem Boden wälzte. Auch er lästerte Gott. Unddoch war es nur eine Prüfung gewesen. Was wissen wir, Mendel, wasoben vorgeht? Vielleicht kam der Böse vor Gott und sagte wie damals:Man muß einen Gerechten verführen. Und der Herr sagte: Versuch esnur mit Mendel, meinem Knecht.”

„Und da siehst du auch”, fiel Groschel ein, „daß dein Vorwurf ungerecht ist. Denn Hiob war kein Schwacher, als Gott ihn zu prüfen begann, sondern ein Mächtiger. Und auch du warst kein Schwacher,Mendel! Dein Sohn hatte ein Kaufhaus, ein Warenhaus, er wurde reicher von Jahr zu Jahr. Dein Sohn Menuchim wurde beinahe gesund,und fast wäre er auch nach Amerika gekommen. Du warst gesund,dein Weib war gesund, deine Tochter war schön, und bald hättest dueinen Mann für sie gefunden!”

„Warum zerreißt du mir das Herz, Groschel?”, entgegnete Mendel.,,Warum zählst du mir auf, was alles gewesen ist, jetzt, da nichts mehrist? Meine Wunden sind noch nicht vernarbt, und schon reißt du sieauf.”

„Er hat recht”, sagten die übrigen drei wie aus einem Munde.

Und Rottenberg begann: „Dein Herz ist zerrissen, Mendel, ich weißes. Weil wir aber über alles mit dir sprechen dürfen und weil du weißt,daß wir deine Schmerzen tragen, als wären wir deine Brüder, wirst duuns da zürnen, wenn ich dich bitte, an Menuchim zu denken? Vielleicht, lieber Mendel, hast du Gottes Pläne zu stören versucht, weil duMenuchim zurückgelassen hast? Ein kranker Sohn war dir beschieden,und ihr habt getan, als wäre es ein böser Sohn.”

Es wurde still. Lange antwortete Mendel gar nichts. Als er wieder zureden anfing, war es, als hätte er Rottenbergs Worte nicht gehört; denner wandte sich an Groschel und sagte:

„Und was willst du mit dem Beispiel Hiobs? Habt ihr schon wirklicheWunder gesehen mit euren Augen? Wunder, wie sie am Schluß von«Hiob» berichtet werden? Soll mein Sohn Schemarjah aus dem Massengrab in Frankreich auferstehen? Soll mein Sohn Jonas aus seiner Verschollenheit lebendig werden? Soll meine Tochter Mirjam plötzlich gesund aus der Irrenanstalt heimkehren? Und wenn sie heimkehrt, wirdsie da noch einen Mann finden und ruhig weiterleben können wie eine,die niemals verrückt gewesen ist? Soll mein Weib Deborah sich ausdem Grab erheben, noch ist es feucht? Soll mein Sohn Menuchim mitten im Krieg aus Rußland hierherkommen, gesetzt den Fall, daß ernoch lebt? Denn es ist nicht richtig”, und hier wandte sich Mendelwieder Rottenberg zu, „daß ich Menuchim böswillig zurückgelassenhabe und um ihn zu strafen. Aus andern Gründen, meiner Tochterwegen, die angefangen hatte, sich mit Kosaken abzugeben — mit Kosaken! -, mußten wir fort. Und warum war Menuchim krank? Schonseine Krankheit war ein Zeichen, daß Gott mir zürnt — und der ersteder Schläge, die ich nicht verdient habe.”

„Obwohl Gott alles kann”, begann der Bedächtigste von allen, Menkes, „so ist doch anzunehmen, daß er die ganz großen Wunder nichtmehr tut, weil die Welt ihrer nicht mehr wert ist. Und wollte Gottsogar bei dir eine Ausnahme machen, so stünden dem die Sünden derandern entgegen. Denn die andern sind nicht würdig, ein Wunder beieinem Gerechten zu sehen, und deshalb mußte Lot auswandern, undSodom und Gomorra gingen zugrunde und sahen nicht das Wunder anLot. Heute aber ist die Welt überall bewohnt — und selbst, wenn duauswanderst, werden die Zeitungen berichten, was mit dir geschehenist. Also muß Gott heutzutage nur mäßige Wunder vollbringen. Abersie sind groß genug, gelobt sei sein Name! Deine Frau Deborah kannnicht lebendig werden, dein Sohn Schemarjah kann nicht lebendigwerden. Aber Menuchim lebt wahrscheinlich, und nach dem Kriegkannst du ihn sehen. Dein Sohn Jonas ist vielleicht in Kriegsgefangenschaft, und nach dem Krieg kannst du ihn sehen. Deine Tochter kanngesund werden, die Verwirrung wird von ihr genommen werden,schöner kann sie sein als zuvor, und einen Mann wird sie bekommen,und sie wird dir Enkel gebären. Und einen Enkel hast du, den SohnSchemarjahs. Nimm deine Liebe zusammen, die du bis jetzt für alleKinder hattest, für diesen einen Enkel! Und du wirst getröstet werden.”

„Zwischen mir und meinem Enkel”, erwiderte Mendel, „ist das Bandzerrissen, denn Schemarjah ist tot, mein Sohn und der Vater meinesEnkels. Meine Schwiegertochter Vega wird einen andern Mann heiraten, mein Enkel wird einen neuen Vater haben, dessen Vater ich nichtbin. Das Haus meines Sohnes ist nicht mein Haus. Ich habe dort nichtszu suchen. Meine Anwesenheit bringt Unglück, und meine Liebe ziehtden Fluch herab wie ein einsamer Baum im flachen Felde den Blitz.Was aber Mirjam betrifft, so hat mir der Doktor selbst gesagt, daß dieMedizin ihre Krankheit nicht heilen kann. Jonas ist wahrscheinlich gestorben, und Menuchim war krank, auch wenn es ihm besser ging. Mitten in Rußland, in einem so gefährlichen Krieg, wird er bestimmt zugrunde gegangen sein. Nein, meine Freunde! Ich bin allein, und ichwill allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehaßt. Alle Jahre hab’ ich ihn gefürchtet, jetzt kann er mir nichts mehrmachen. Alle Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Erkann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werdeleben, leben, leben.”

„Aber seine Macht”, wandte Groschel ein, „ist in dieser Welt und inder andern. Wehe dir, Mendel, wenn du tot bist!”

Da lachte Mendel aus voller Brust und sagte: „Ich habe keine Angstvor der Hölle, meine Haut ist schon verbrannt, meine Glieder sindschon gelähmt, und die bösen Geister sind meine Freunde. Alle Qualen der Hölle habe ich schon gelitten. Gütiger als Gott ist der Teufel.Da er nicht so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein. Ich habekeine Angst, meine Freunde!”

Da verstummten die Freunde. Aber sie wollten Mendel nicht alleinlassen, und also blieben sie schweigend sitzen. Groschel, der jüngste,ging hinunter, die Frauen der andern und seine eigene zu verständigen,daß die Männer heute abend nicht nach Hause kommen würden. Erholte noch fünf Juden in Mendel Singers Wohnung, damit sie zehnseien und das Abendgebet sagen können. Sie begannen zu beten. AberMendel Singer beteiligte sich nicht am Gebet. Er saß auf dem Bett undrührte sich nicht. Selbst das Totengebet sagte er nicht — und Menkessagte es für ihn. Die fremden fünf Männer verließen das Haus. Aberdie vier Freunde blieben die ganze Nacht. Eine der beiden blauenLampen brannte noch mit dem letzten Dochtrest und dem letztenTropfen Öl auf dem flachen Grunde. Es war still. Der und jener schliefauf seinem Sitz ein, schnarchte und erwachte, von seinen eigenen Geräuschen gestört, und nickte wieder ein.

Nur Mendel schlief nicht. Die Augen weit offen, sah er auf das Fenster, hinter dem die dichte Schwärze der Nacht endlich schütter zuwerden begann, dann grau, dann weißlich. Sechs Schläge erklangen ausdem Innern der Uhr. Da erwachten die Freunde, einer nach dem andern. Und ohne daß sie sich verabredet hätten, ergriffen sie Mendel beiden Armen und führten ihn hinunter. Sie brachten ihn in die Hinterstube der Skowronneks und betteten ihn auf ein Sofa.

Hier schlief er ein.

XIV

Seit diesem Morgen blieb Mendel Singer bei den Skowronneks. SeineFreunde verkauften die kümmerliche Einrichtung. Sie ließen nur dasBettzeug zurück und den rotsamtenen Sack mit den Gebetsutensilien,die Mendel beinahe verbrannt hätte. Den Sack rührte Mendel nichtmehr an. In der Hinterstube der Skowronneks hing er grau und verstaubt an einem mächtigen Nagel. Mendel Singer betete nicht mehr.Wohl wurde er manchmal gebraucht, wenn ein zehnter Mann fehlte,um die vorgeschriebene Zahl der Betenden vollzählig zu machen.Dann ließ er sich seine Anwesenheit bezahlen. Manchmal lieh er auchdem und jenem seine Gebetriemen aus, gegen ein kleines Entgelt. Manerzählte sich von ihm, daß er oft in das italienische Viertel hinüberging,um Schweinefleisch zu essen und Gott zu ärgern. Die Menschen, inderen Mitte er lebte, nahmen für Mendel Partei in dem Kampf, den ergegen den Himmel führte. Obwohl sie gläubig waren, mußten sie demJuden recht geben. Zu hart war Jehovah mit ihm umgegangen.

Noch war Krieg in der Welt. Außer Sam, Mendels Sohn, lebten alleAngehörigen des Viertels, die ins Feld gegangen waren. Der jungeLemmel war Offizier geworden und hatte glücklicherweise die linkeHand verloren. Er kam in Urlaub und war der Held des Viertels. AllenJuden verlieh er die Heimatberechtigung in Amerika. Er blieb nurnoch in der Etappe, um frischen Truppen den letzten Schliff zu geben.So groß auch der Unterschied zwischen dem jungen Lemmel und demalten Singer war, die Juden des Viertels stellten beide in eine gewisseNachbarschaft. Es war, als glaubten die Juden, daß Mendel und Lemmel das ganze Ausmaß des Unglücks, das allen zugedacht gewesen,untereinander aufgeteilt hätten. Und mehr als nur eine linke Handhatte Mendel verloren! Kämpfte Lemmel gegen die Deutschen, sokämpfte Mendel gegen überirdische Gewalten. Und obwohl sie überzeugt waren, daß der Alte nicht mehr über seinen ganzen Verstand zuverfügen imstande war, konnten die Juden doch nicht umhin, Bewunderung in ihr Mitleid zu mischen und die Andacht vor der Heiligkeitdes Wahns. Ohne Zweifel ein Auserkorener war Mendel Singer. Alserbarmungswürdiger Zeuge für die grausame Gewalt Jehovahs lebte erin der Mitte der andern, deren mühseligen Wochentag kein Schreckenstörte. Lange Jahre hatte er wie sie alle seine Tage gelebt, von wenigenbeachtet, von manchen gar nicht bemerkt. Eines Tages ward er ausgezeichnet in einer fürchterlichen Weise. Es gab keinen mehr, der ihnnicht kannte. Den größten Teil des Tages hielt er sich in der Gasse auf.Es war, als gehörte es zu seinem Fluch, nicht nur ein Unheil sonderBeispiel zu leiden, sondern auch das Zeichen des Leids wie ein Bannerzu tragen. Und wie ein Wächter seiner eigenen Schmerzen ging er aufund ab in der Mitte der Gasse, von allen gegrüßt, von manchen mitkleinen Münzen beschenkt, von vielen angesprochen. Für die Almosendankte er nicht, die Grüße erwiderte er kaum, und Fragen beantwortete er mit Ja oder Nein. Früh am Morgen erhob er sich. In die Hinterstube der Skowronneks kam kein Licht, sie hatte keine Fenster. Erfühlte nur den Morgen durch die Läden, einen weiten Weg hatte derMorgen, ehe er zu Mendel Singer gelangte. Regten sich die ersten Geräusche in den Straßen, begann Singer den Tag. Im Spirituskocher siedete der Tee. Er trank ihn zu einem Brot und einem harten Ei. Er warfeinen schüchternen, aber bösen Blick auf den Sack mit den heiligenGegenständen an der Wand, im dunkelblauen Schatten sah das Säckchen aus wie ein noch dunklerer Auswuchs des Schattens. Ich betenicht! sagte sich Mendel. Aber es tat ihm weh, daß er nicht betete. SeinZorn schmerzte ihn und die Machtlosigkeit dieses Zorns. ObwohlMendel mit Gott böse war, herrschte Gott noch über die Welt. DerHaß konnte ihn ebenso wenig fassen wie die Frömmigkeit.

Erfüllt von solchen und ähnlichen Überlegungen, begann Mendel seinen Tag. Früher, er erinnerte sich, war sein Erwachen leicht gewesen,die frohe Erwartung des Gebetes hatte ihn geweckt und die Lust, diebewußte Nähe zu Gott zu erneuern. Aus der wohligen Wärme desSchlafes war er eingetreten in den noch heimlicheren, noch trauterenGlanz des Gebets wie in einen prächtigen und doch gewohnten Saal, indem der mächtige und dennoch lächelnde Vater wohnte. „Guten Morgen, Vater!”, hatte Mendel Singer gesagt — und geglaubt, eine Antwortzu hören. Ein Trug war es gewesen. Der Saal war prächtig und kalt,der Vater war mächtig und böse. Keine andern Laute kamen über seineLippen als Donner.

Mendel Singer sperrte den Laden auf, legte die Notenblätter, die Gesangstexte, die Grammophonplatten in das schmale Schaufenster undzog mit einer langen Stange den eisernen Rolladen hoch. Dann nahmer einen Mund voll Wasser, besprengte den Fußboden, ergriff den Besen und fegte den Schmutz des vergangenen Tages zusammen. Aufeiner kleinen Schaufel trug er die Papierschnitzel zum Herd undmachte ein Feuer und verbrannte sie. Dann ging er hinaus, kaufte einpaar Zeitungen und brachte sie einigen Nachbarn in die Häuser. Erbegegnete den Milchjungen und den frühen Bäckern, begrüßte sie undging wieder „ins Geschäft”. Bald kamen die Skowronneks. Sie schickten ihn dies und jenes besorgen. Den ganzen Tag hieß es: „Mendel,lauf hinaus und kauf einen Hering!”, „Mendel, die Rosinen sind nochnicht eingelegt!”, „Mendel, du hast die Wäsche vergessen!”, „Mendel,die Leiter ist zerbrochen!”, „In der Laterne fehlt eine Scheibe!” „Woist der Korkenzieher?” Und Mendel lief hinaus und kaufte einen Hering und legte die Rosinen ein und holte die Wäsche und richtete dieLeiter und trug die Laterne zum Glasermeister und fand den Korkenzieher. Die Nachbarinnen holten ihn manchmal, damit er die kleinenKinder bewachte, wenn ein Kino das Programm geändert hatte oderein neues Theater gekommen war. Und Mendel saß bei den fremdenKindern, und wie er einmal zu Hause mit einem leichten und zärtlichen Finger den Korb Menuchims ins Schaukeln gebracht hatte, soschaukelte er jetzt mit einer leichten und zärtlichen Fußspitze die Wiegen fremder Säuglinge, deren Namen er nicht wußte. Er sang dazu einaltes Lied, ein sehr altes Lied: „Sprich mir nach, Menuchim: «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde», sprich es mir nach, Menuchim!”Es war im Monat Elul, und die hohen Feiertage brachen an. Alle Judendes Viertels wollten ein provisorisches Bethaus in Skowronneks Hinterstube einrichten. (Denn in die Synagoge gingen sie nicht gern.),,Mendel, in deinem Zimmer wird man beten!”, sagte Skowronnek.,,Was sagst du dazu?” „Man soll beten!”, erwiderte Mendel. Und er sahzu, wie sich die Juden versammelten, die großen gelben Wachskerzenanzündeten, mit den überhängenden Dochtbüscheln. Er selbst half jedem Kaufmann die Rolläden herunterlassen und die Türen schließen.Er sah, wie sie alle die weißen Kittel überzogen, daß sie aussahen wieLeichen, die noch einmal auferstanden sind, um Gott zu loben. Siezogen die Schuhe aus und standen in Socken. Sie fielen in die Knie underhoben sich, die großen, goldgelben Wachskerzen und die blütenweißen aus Stearin bogen sich und tropften auf die Gebetmäntel heißeTränen, die im Nu verkrusteten. Die weißen Juden selbst bogen sichwie die Kerzen, und auch ihre Tränen fielen auf den Fußboden undvertrockneten. Aber Mendel Singer stand schwarz und stumm, in seinem Alltagsgewand, im Hintergrund, in der Nähe der Tür und bewegte sich nicht. Seine Lippen waren verschlossen und sein Herz einStein. Der Gesang des Kol Nidre erhob sich wie ein heißer Wind.Mendel Singers Lippen blieben verschlossen und sein Herz ein Stein.Schwarz und stumm, in seinem Alltagsgewand, hielt er sich im Hintergrund, in der Nähe der Tür. Niemand beachtete ihn. Die Juden bemühten sich, ihn nicht zu sehen. Ein Fremder war er unter ihnen. Derund jener dachte an ihn und betete für ihn. Mendel Singer aber standaufrecht an der Tür und war böse auf Gott. Sie beten alle, weil sie sichfürchten, dachte er. Ich aber fürchte mich nicht. Ich fürchte michnicht!

Nachdem alle gegangen waren, legte sich Mendel Singer auf sein hartesSofa. Es war noch warm von den Körpern der Beter. Vierzig Kerzenbrannten noch im Zimmer. Sie auszulöschen, wagte er nicht, sie ließenihn nicht einschlafen. So lag er wach, die ganze Nacht. Er dachte sichLästerungen sondergleichen aus. Er stellte sich vor, daß er jetzt hinausging, ins italienische Viertel, Schweinefleisch in einem Restaurantkaufte und zurückkehrte, um es hier, in der Gesellschaft der schweigsam brennenden Kerzen, zu verzehren. Wohl knüpfte er sein Taschentuch auf, wohl zählte er die Münzen, die er besaß, aber er verließ dasZimmer nicht und aß nichts. Er lag angekleidet mit großen, wachenAugen auf dem Sofa und murmelte: „Aus, aus, aus ist es mit MendelSinger! Er hat keinen Sohn, er hat keine Tochter, er hat kein Weib, erhat kein Geld, er hat kein Haus, er hat keinen Gott! Aus, aus, aus ist esmit Mendel Singer!” Die goldenen und die bläulichen Flammen derKerzen erzitterten leise. Die heißen, wächsernen Tränen tropften mitharten Schlägen auf die Leuchterplatten, auf den gelben Sand in denmessingenen Mörsern, auf das dunkelgrüne Glas der Flaschen. Derheiße Atem der Beter lebte noch im Zimmer. Auf den provisorischenStühlen, die man für sie aufgestellt hatte, lagen noch ihre weißen Gebetmäntel und warteten auf den Morgen und auf die Fortsetzung desGebets. Es roch nach Wachs und verkohlenden Dochten. Mendel verließ die Stube, öffnete den Laden, trat ins Freie. Es war eine klare,herbstliche Nacht. Kein Mensch zeigte sich. Mendel ging auf und abvor dem Laden. Die breiten, langsamen Schritte des Polizisten erklangen. Da kehrte Mendel in den Laden zurück. Immer noch ging er Uniformierten aus dem Weg.

Die Zeit der Feiertage war vorüber, der Herbst kam, der Regen sang.Mendel kaufte Heringe, fegte den Fußboden, holte die Wäsche, richtete die Leiter, suchte den Korkenzieher, legte die Rosinen ein, gingauf und ab durch die Mitte der Gasse. Für Almosen dankte er kaum,Grüße erwiderte er nicht, Fragen beantwortete er mit Ja oder Nein.Am Nachmittag, wenn sich die Leute versammelten, um Politik zureden und aus den Zeitungen vorzulesen, legte sich Mendel auf dasSofa und schlief. Die Reden der andern weckten ihn nicht. Der Kriegging ihn gar nichts an. Die neuesten Platten sangen ihn in den Schlaf.Er erwachte erst, wenn es still geworden war und alle verschwanden.Dann sprach er noch eine Weile mit dem alten Skowronnek.

„Deine Schwiegertochter heiratet”, sagte Skowronnek einmal.

„Ganz recht!”, erwiderte Mendel.

„Aber sie heiratet Mac!”

„Das hab’ ich ihr geraten!”

„Das Geschäft geht gut!”

„Es ist nicht mein Geschäft.”

„Mac hat uns wissen lassen, daß er dir Geld geben will!”

„Ich will kein Geld!”

„Gute Nacht, Mendel!”

„Gute Nacht, Skowronnek!”

Die schrecklichen Neuigkeiten flammten auf in den Zeitungen, dieMendel jeden Morgen zu kaufen pflegte. Sie flammten auf, er vernahmwider Willen ihren fernen Widerschein, er wollte nichts von ihnen wissen. Über Rußland regierte kein Zar mehr. Gut, mochte der Zar nichtmehr regieren. Von Jonas und Menuchim wußten sie jedenfalls nichtszu melden, die Zeitungen. Man wettete bei Skowronnek, daß der Kriegin einem Monat zu Ende sein würde. Gut, mochte der Krieg zu Endegehen. Schemarjah kehrte nicht zurück. Die Leitung der Irrenanstaltschrieb, daß Mirjams Zustand sich nicht gebessert habe. Vega schickteden Brief ein, Skowronnek las ihn Mendel vor. „Gut”, sagte Mendel,,,Mirjam wird nicht mehr gesund werden!”

Sein alter, schwarzer Kaftan schimmerte grün an den Schultern, undwie eine winzige Zeichnung der Wirbelsäule wurde, den ganzen Rücken entlang, die Naht sichtbar. Mendels Gestalt wurde kleiner undkleiner. Die Schöße seines Rockes wurden länger und länger und berührten, wenn Mendel ging, nicht mehr die Schäfte der Stiefel, sondernfast schon die Knöchel. Der Bart, der früher nur die Brust bedeckthatte, reichte bis zu den letzten Knöpfen des Kaftans. Der Schirm derMütze aus schwarzem, nunmehr grünlichem Rips war weich unddehnbar geworden und hing schlaff über Mendel Singers Augen, einemLappen nicht unähnlich. In den Taschen trug Mendel Singer viele Sachen; Päckchen, um die man ihn geschickt hatte, Zeitungen, verschiedene Werkzeuge, mit denen er die schadhaften Gegenstände bei Skowronneks reparierte, Knäuel bunter Bindfäden, Packpapier und Brot.Diese Gewichte beugten den Rücken Mendels noch tiefer, und weil dierechte Tasche gewöhnlich schwerer war als die linke, zog sie auch dierechte Schulter des Alten hinunter. Also ging er schief und gekrümmtdurch die Gasse, ein baufälliger Mensch, die Knie geknickt und mitschlurfenden Sohlen. Die Neuigkeiten der Welt und die Wochentageund Feste der andern rollten an ihm vorbei wie Wagen zu einem alten,abseitigen Haus.

Eines Tages war der Krieg wirklich zu Ende. Das Viertel war leer.Die Menschen waren fortgegangen, die Friedensfeiern zu sehen unddie Heimkehr der Regimenter. Viele hatten Mendel aufgetragen, aufdie Häuser zu achten. Er ging von einer Wohnung zur andern,prüfte die Klinken und Schlösser und kehrte heim in den Laden.Aus einer unermeßlichen Ferne glaubte er das festliche Gedröhn derfreudigen Welt zu hören, das Knallen der Feuerwerke und das Gelächter Zehntausender Menschen. Ein kleiner, stiller Friede kamüber ihn. Seine Finger kraulten den Bart, seine Lippen verzogen sichzu einem Lächeln, ja, sogar ein winziges Kichern kam in kurzenStößen aus seiner Kehle. „Mendel wird sich auch ein Fest machen”,flüsterte er, und zum ersten Mal ging er an einen der braunen Grammophonkästen. Er hatte schon gesehen, wie man das Instrumentaufdrehte. „Eine Platte, eine Platte!”, sagte er. Heute Vormittag warein heimgekehrter Soldat dagewesen und hatte ein halbes DutzendPlatten gebracht, neue Lieder aus Europa. Mendel packte die obersteaus, legte sie behutsam auf das Instrument, dachte eine Weile nach,um sich genau an die Hantierung zu erinnern, und setzte endlich dieNadel auf. Es räusperte sich der Apparat. Dann erklang das Lied. Eswar Abend, Mendel stand im Finstern neben dem Grammophon undlauschte. Jeden Tag hatte er hier Lieder gehört, lustige und traurige,langsame und hurtige, dunkle und helle. Aber niemals war ein Liedwie dieses hier gewesen. Es rann wie ein kleines Wässerchen undmurmelte sachte, wurde groß wie das Meer und rauschte. Die ganzeWelt höre ich jetzt, dachte Mendel. Wie ist es möglich, daß die ganzeWelt auf so einer kleinen Platte eingraviert ist? Als sich eine kleine,silberne Flöte einmischte und von nun an die samtenen Geigen nichtmehr verließ und wie ein getreuer, schmaler Saum umrandete, begannMendel zum ersten Mal seit langer Zeit zu weinen. Da war das Liedzu Ende. Er drehte es noch einmal auf und zum dritten Mal. Er sanges schließlich mit seiner heiseren Stimme nach und trommelte mit zagen Fingern auf das Gestell des Kastens.

So traf ihn der heimkehrende Skowronnek. Er stellte das Grammophon ab und sagte: „Mendel, zünde die Lampe an! Was spielst duhier?” Mendel zündete die Lampe an. „Sieh nach, Skowronnek, wiedas Liedchen heißt.” „Das sind die neuen Platten”, sagte Skowronnek.,,Heute habe ich sie gekauft. Das Lied heißt” — Skowronnek zog dieBrille an, hielt die Platte unter die Lampe und las: „Das Lied heißt«Menuchims Lied».”

Mendel wurde plötzlich schwach. Er mußte sich setzen. Er starrte aufdie spiegelnde Platte in Skowronneks Händen.

„Ich weiß, woran du denkst”, sagte Skowronnek.

„Ja”, antwortete Mendel.

Skowronnek drehte noch einmal die Kurbel. „Ein schönes Lied”, sagteSkowronnek, legte den Kopf auf die linke Schulter und horchte. Allmählich füllte sich der Laden mit den verspäteten Nachbarn. Keinersprach. Alle hörten das Lied und wiegten im Takt die Köpfe.

Und sie hörten es sechzehn Mal, bis sie es auswendig konnten.

Mendel blieb allein im Laden. Er versperrte sorgfältig die Tür von innen, räumte das Schaufenster aus, begann sich auszuziehen. Jeden seiner Schritte begleitete das Lied. Während er einschlief, schien es ihm,daß sich die blaue und silberne Melodie mit dem kläglichen Wimmernverbinde, mit Menuchims, seines eigenen Menuchims, einzigem, längstnicht mehr gehörtem Lied.

XV

Länger wurden die Tage. Die Morgen enthielten schon so viel Helligkeit, daß sie sogar durch den geschlossenen Rolladen in das fensterloseHinterzimmer Mendels einbrechen konnten. Im April erwachte dieGasse eine gute Stunde früher. Mendel zündete den Spirituskocher an,stellte den Tee auf, füllte das kleine, blaue Waschbecken, tauchte seinGesicht in die Schüssel, trocknete sich mit einem Zipfel des Handtuchs, das an der Türklinke hing, öffnete den Rolladen, nahm einenMund voll Wasser, bespuckte sorgfältig die Diele und betrachtete dieverschlungenen Ornamente, die der helle, aus seinen Lippen gespritzteStrahl auf den Staub zeichnete. Schon zischte der Spirituskocher; nochhatte es nicht einmal sechs geschlagen. Mendel trat vor die Tür. Daöffneten sich die Fenster in der Gasse wie von selbst. Es war Frühling.Es war Frühling. Ostern bereitete man vor, in allen Häusern half Mendel. Den Hobel legte er an die hölzernen Tischplatten, um sie zu säubern von den profanen Nahrungsresten des ganzen Jahres. Die runden,zylinderförmigen Pakete, in denen das Osterbrot geschichtet lag inkarminrotem Papier, stellte er auf die weißen Fächer der Schaufenster,und die Weine aus Palästina befreite er von dem Spinngewebe, unterdem sie in den kühlen Kellern geruht hatten. Die Betten der Nachbarnnahm er auseinander und trug Stück um Stück in die Höfe, wo dielinde Aprilsonne das Ungeziefer hervorlockte und der Vernichtungdurch Benzin, Terpentin und Petroleum anheimgab. In rosa und himmelblaues Zierpapier schnitt er mit der Schere runde und winklige Löcher und Fransen und befestigte es mit Reißnägeln an den Küchengestellen, als kunstvollen Belag für das Geschirr. Die Fässer und Bottichefüllte er mit heißem Wasser, große, eiserne Kugeln hielt er an hölzernen Stangen ins Herdfeuer, bis sie glühten. Dann tauchte er die Kugelnin die Bottiche und Fässer, das Wasser zischte, gereinigt waren dieGefäße, wie die Vorschrift es befahl. In riesengroßen Mörsern zerstampfte er die Osterbrote zu Mehl, schüttete es in saubere Säcke undumschnürte sie mit blauen Bändchen. All das hatte er einmal im eigenen Hause gemacht. Langsamer als in Amerika war dort Frühling gekommen. Mendel erinnerte sich an den alternden, grauen Schnee, derdas hölzerne Pflaster des Bürgersteigs in Zuchnow um diese Jahreszeitsäumte, an die kristallenen Eiszapfen am Rande der Spundlöcher, andie plötzlichen, sanften Regen, die in den Dachrinnen sangen, dieganze Nacht, an die fernen Donner, die hinter dem Föhrenwald dahinrollten, an den weißen Reif, der jeden hellblauen Morgen zärtlich bedeckte, an Menuchim, den Mirjam in eine geräumige Tonne gesteckthatte, um ihn aus dem Wege zu räumen, und an die Hoffnung, daßendlich, endlich in diesem Jahre der Messias kommen werde. Er kamnicht. Er kommt nicht, dachte Mendel, er wird nicht kommen. Anderemochten ihn erwarten. Mendel wartete nicht.

Dennoch erschien Mendel seinen Freunden wie den Nachbarn in diesem Frühling verändert. Sie beobachteten manchmal, daß er ein Liedsummte, und sie erhaschten ein sanftes Lächeln unter seinem weißenBart.

„Er wird kindisch, er ist schon alt”, sagte Groschel.

„Er hat alles vergessen”, sagte Rottenberg.

„Es ist eine Freude vor dem Tod”, meinte Menkes.

Skowronnek, der ihn am besten kannte, schwieg. Nur einmal, aneinem Abend, vor dem Schlafengehen, sagte er zu seiner Frau: „Seitdem die neuen Platten gekommen sind, ist unser Mendel ein andererMensch. Ich ertappe ihn manchmal, wie er selbst ein Grammophonaufzieht. Was meinst du dazu?”

„Ich meine dazu”, erwiderte ungeduldig die Frau Skowronnek, „daßMendel alt und kindisch wird und bald gar nicht zu gebrauchen.” Siewar schon seit geraumer Zeit mit Mendel unzufrieden. Je älter erwurde, desto geringer wurde ihr Mitleid für ihn. Allmählich vergaß sieauch, daß Mendel ein wohlhabender Mann gewesen war, und ihr Mitgefühl, das sich von ihrem Respekt genährt hatte (denn ihr Herz warklein), starb dahin. Sie nannte ihn auch nicht mehr wie am AnfangMister Singer, sondern einfach Mendel wie bald alle Welt. Und hattesie ihm früher Aufträge mit jener gewissen Zurückhaltung erteilt, diebeweisen sollte, daß seine Folgsamkeit sie ehrte und beschämte zugleich, so fing sie jetzt an, ihn dermaßen ungeduldig zu befehligen, daßihre Unzufriedenheit mit seinem Gehorsam schon von vornhereinsichtbar wurde. Obwohl Mendel nicht schwerhörig war, erhob FrauSkowronnek die Stimme, um mit ihm zu sprechen, als fürchtete sie,mißverstanden zu werden, und als wollte sie durch ihr Schreien beweisen, daß Mendel ihre Befehle falsch ausführte, weil sie in ihrer gewohnten Stimmlage zu ihm gesprochen hatte. Ihr Schreien war eineVorsichtsmaßregel; das einzige, was Mendel kränkte. Denn er, dervom Himmel so erniedrigt war, machte sich wenig aus dem gutmütigen und leichtfertigen Spott der Menschen, und nur wenn man seineFähigkeit zu verstehen anzweifelte, war er beleidigt. „Mendel, sputetEuch”, so begann jeder Auftrag der Frau Skowronnek. Er machte sieungeduldig, er schien ihr zu langsam. „Schreien Sie nicht so”, erwiderte Mendel gelegentlich, „ich höre Sie schon.” „Aber Sie eilen sichnicht, Sie haben Zeit!” „Ich habe weniger Zeit als Sie, Frau Skowronnek, so wahr ich älter bin als Sie!” Frau Skowronnek, die den Nebensinn der Antwort und die Zurechtweisung nicht sofort begriff und sichverspottet wähnte, wandte sich sofort an den nächststehenden Menschen im Laden: „Nun, was sagen Sie dazu? Er wird alt! Unser Mendelwird alt!” Sie hätte ihm gerne noch ganz andere Eigenschaften nachgesagt, aber sie begnügte sich mit der Erwähnung des Alters, das sie fürein Laster hielt. Wenn Skowronnek derlei Reden hörte, sagte er zuseiner Frau: „Alt werden wir alle! Ich bin genauso alt wie Mendel und du wirst auch nicht jünger!” „Du kannst ja eine Junge heiraten”,sagte Frau Skowronnek. Sie war glücklich, daß sie endlich einen gebrauchsfertigen Anlaß zu einem ehelichen Zwist hatte. Und Mendel,der die Entwicklung dieser Streitigkeiten kannte und von vornhereinbegriff, daß sich der Zorn der Frau Skowronnek schließlich gegen ihren Mann und seinen Freund entladen würde, zitterte um seineFreundschaft.

Heute war Frau Skowronnek aus einem besonderen Grund gegen Mendel Singer eingenommen. „Stell dir vor”, sagte sie zu ihrem Mann, „seiteinigen Tagen ist mein Hackmesser verschwunden. Ich kann schwören, daß Mendel es genommen hat. Frage ich ihn aber, so weiß ernichts davon. Er wird alt und älter, er ist wie ein Kind!”

In der Tat hatte Mendel Singer das Hackmesser der Frau Skowronnekan sich genommen und versteckt. Er bereitete schon seit langem imgeheimen einen großen Plan vor, den letzten seines Lebens. EinesAbends glaubte er, ihn ausführen zu können. Er tat, als nickte er aufdem Sofa ein, während die Nachbarn sich bei Skowronnek unterhielten. In Wirklichkeit aber schlief Mendel keineswegs. Er lauerte undlauschte mit geschlossenen Lidern, bis sich der letzte entfernt hatte.Dann zog er unter dem Kopfpolster des Sofas das Hackmesser hervor,steckte es unter den Kaftan und huschte in die abendliche Gasse. DieLaternen waren noch nicht entzündet, aus manchen Fenstern drangschon gelbes Lampenlicht. Gegenüber dem Hause, in dem er mit Deborah gewohnt hatte, stellte sich Mendel Singer auf und spähte nachden Fenstern seiner früheren Wohnung. Dort lebte jetzt das jungeEhepaar Frisch, unten hatte es einen modernen Eiscreme-Salon eröffnet. Jetzt traten die jungen Leute aus dem Haus. Sie schlossen denSalon. Sie gingen ins Konzert. Sparsam waren sie, geizig konnte mansagen, fleißig, und Musik liebten sie. Der Vater des jungen Frisch hattein Kowno eine Hochzeitskapelle dirigiert. Heute konzertierte ein philharmonisches Orchester, eben aus Europa gekommen. Frisch sprachschon seit Tagen davon. Nun gingen sie. Sie sahen Mendel nicht. Erschlich sich hinüber, trat ins Haus, tastete sich das altgewohnte Geländer empor und zog alle Schlüssel aus der Tasche. Er bekam sie von denNachbarn, die ihm die Bewachung ihrer Wohnungen übertrugen,wenn sie ins Kino gingen. Ohne Mühe öffnete er die Tür. Er schob denRiegel vor, legte sich platt auf den Boden und begann, ein Dielenbrettnach dem andern zu beklopfen. Es dauerte sehr lange. Er wurde müde,gönnte sich ein kleine Pause und arbeitete dann weiter. Endlich töntees hohl, just an der Stelle, an der einmal das Bett Deborahs gestandenwar. Mendel entfernte den Schmutz aus den Fugen, lockerte das Brettmit dem Hackmesser an allen vier Rändern und stemmte es hoch. Erhatte sich nicht getäuscht, er fand, was er suchte. Er ergriff das starkverknotete Taschentuch, barg es im Kaftan, legte das Brett wieder hinund entfernte sich lautlos. Niemand war im Treppenflur, kein Menschhatte ihn gesehen. Früher als gewöhnlich sperrte er heute den Laden,ließ er die Rollbalken nieder. Er entzündete die große Hängelampe,den Rundbrenner, und setzte sich in ihren Lichtkegel. Er entknotetedas Taschentuch und zählte seinen Inhalt. Siebenundsechzig Dollar inMünzen und Papier hatte Deborah gespart. Es war viel, aber es genügte nicht und enttäuschte Mendel. Legte er seine eigenen Ersparnisse hinzu, die Almosen und kleinen Vergütungen für seine Arbeitenin den Häusern, so waren es genau sechsundneunzig Dollar. Sie reichten nicht. Also noch ein paar Monate! flüsterte Mendel. Ich habe Zeit.Ja, er hatte Zeit, ziemlich lange noch mußte er leben! Vor ihm lag dergroße Ozean. Noch einmal mußte er ihn überqueren. Das ganze großeMeer wartete auf Mendel. Ganz Zuchnow und Umgebung warten aufihn: die Kaserne, der Föhrenwald, die Frösche in den Sümpfen und dieGrillen auf den Feldern. Ist Menuchim tot, so liegt er auf dem kleinenFriedhof und wartet. Auch Mendel wird sich hinlegen. In SameschkinsGehöft wird er vorher eintreten, keine Angst mehr wird er vor denHunden haben, gebt ihm einen Wolf aus Zuchnow, und er fürchtetsich nicht. Ungeachtet der Käfer und der Würmer, der Laubfröscheund der Heuschrecken wird Mendel imstande sein, sich auf die nackteErde zu legen. Dröhnen werden die Kirchenglocken und ihn an daslauschende Licht in Menuchims törichten Augen erinnern. Mendelwird antworten; „Heimgekehrt bin ich, lieber Sameschkin, mögen andere durch die Welt wandern, meine Welten sind gestorben, zurückgekommen bin ich, um hier für ewig einzuschlafen!” Die blaue Nacht istüber das Land gespannt, die Sterne glänzen, die Frösche quaken, dieGrillen zirpen, und drüben, im finstern Wald, singt jemand das LiedMenuchims.

So schläft Mendel heute ein, in der Hand hält er das verknotete Taschentuch.

Am andern Morgen ging er in Skowronneks Wohnung, legte auf diekalte Herdplatte der Küche das Hackmesser und sagte: „Hier, FrauSkowronnek, das Hackmesser hat sich gefunden!”

Er wollte sich schnell wieder entfernen, aber die Frau Skowronnekbegann: „Gefunden hat es sich! Es war nicht schwer, Ihr habt es dochversteckt! Übrigens habt Ihr gestern fest geschlafen. Wir waren nocheinmal vor dem Laden und haben geklopft. Habt Ihr schon gehört?Der Frisch vom Eiscreme-Salon hat Euch etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ihr sollt sofort zu ihm hinübergehen.”

Mendel erschrak. Irgendjemand hatte ihn also gestern gesehen, vielleicht hatte ein anderer die Wohnung ausgeplündert, und man verdächtigte Mendel. Vielleicht auch waren es gar nicht Deborahs Ersparnisse, sondern die der Frau Frisch, und er hatte sie geraubt. Seine Kniezitterten. „Erlaubt mir, daß ich mich setze”, sagte er zu Frau Skowronnek. „Zwei Minuten könnt Ihr sitzen”, sagte sie, „dann muß ich kochen.” „Was für eine wichtige Sache ist es?”, forschte er. Aber er wußteschon im Voraus, daß ihm die Frau nichts verraten würde. Sie weidetesich an seiner Neugier und schwieg. Dann hielt sie die Zeit für gekommen, ihn wegzuschicken: „Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten! Geht nur zu Frisch!”, sagte sie.

Und Mendel ging und beschloß, nicht bei Frisch einzutreten. Eskonnte nur etwas Böses sein. Es würde von selbst früh genug kommen.Er wartete. Am Nachmittag aber kamen die Enkel Skowronneks zuBesuch. Frau Skowronnek schickte ihn um drei Portionen Erdbeercreme. Zage betrat Mendel den Laden. Mister Frisch war zum Glücknicht da. Seine Frau sagte: „Mein Mann hat Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, kommen Sie bestimmt am Nachmittag!”

Mendel tat, als ob er nicht gehört hätte. Sein Herz lief stürmisch, eswollte ihm entfliehen, mit beiden Händen hielt er es fest. Etwas Bösesdrohte ihm auf jeden Fall. Er wollte die Wahrheit sagen, Frisch würdeihm glauben. Glaubte man ihm nicht, so kam er ins Zuchthaus. Nun,es war auch nichts dabei. Im Zuchthaus wird er sterben. Nicht inZuchnow.

Er konnte die Gegend des Eiscreme-Salons nicht verlassen. Er ging aufund ab vor dem Laden. Er sah den jungen Frisch heimkehren. Erwollte noch warten, aber seine Füße hasteten von selbst in den Laden.Er öffnete die Tür, die eine schrille Glocke in Bewegung setzte, undfand nicht mehr die Kraft, die Tür zu schließen, so daß die Alarmklingel unaufhörlich lärmte und Mendel betäubt in ihrem gewaltsamenLärm gefangen blieb, gefesselt im Klingeln und unfähig, sich zu rühren. Mister Frisch selbst schloß die Tür. Und in der Stille, die jetzteinbrach, hörte Mendel den Mister Frisch seiner Frau sagen: „Schnellein Soda mit Himbeer für Mister Singer!”

Wie lange hatte man nicht mehr „Mister Singer” zu Mendel gesagt?Erst in diesem Augenblick empfand er, daß man ihm lange Zeit nur,,Mendel” gesagt hatte, um ihn zu kränken. Es ist ein böser Witz vonFrisch, dachte er. Das ganze Viertel weiß, daß dieser junge Mann geizig ist, er selbst weiß, daß ich das Himbeerwasser nicht bezahlenwerde. Ich werde es nicht trinken.

„Danke, danke”, sagte Mendel, „ich trinke nichts!”

„Sie werden uns keinen Korb geben”, sagte lächelnd die Frau.

„Mir werden Sie keinen Korb geben”, sagte der junge Frisch.

Er zog Mendel an eines der dünnbeinigen Tischchen aus Gußeisen unddrückte den Alten in einen breiten Korbsessel. Er selbst setzte sich aufeinen gewöhnlichen hölzernen Stuhl, rückte nahe an Mendel heranund begann:

„Gestern, Mister Singer, war ich, wie Sie wissen, beim Konzert.” Mendel setzte der Herzschlag aus. Er lehnte sich zurück und tat einenSchluck, um sich am Leben zu erhalten. „Nun”, fuhr Frisch fort, „ichhabe ja viel Musik gehört, aber so etwas ist noch nicht dagewesen!Zweiunddreißig Musikanten, verstehen Sie, und fast alle aus unsererGegend. Und sie spielten jüdische Melodien, verstehen Sie? Das Herzwird warm, ich habe geweint, das ganze Publikum hat geweint. Siespielten am Schluß «Menuchims Lied», Mister Singer, Sie kennen esvom Grammophon her. Ein schönes Lied, nicht wahr?”

Was will er nur? dachte Mendel. „Ja, ja, ein schönes Lied.”,,In der Pause gehe ich zu den Musikanten. Es ist voll. Alle drängensich zu den Musikanten. Der und jener findet einen Freund, und ichauch, Mister Singer, ich auch.”

Frisch machte eine Pause. Leute traten in den Laden, die Glockeschrillte.

„Ich finde”, sagte Mister Frisch, „aber trinken Sie nur, Mister Singer! Ich finde meinen leiblichen Vetter, den Berkovitsch aus Kowno. DenSohn meines Onkels. Und wir küssen uns. Und wir reden. Und plötzlich sagt Berkovitsch: «Kennst du hier einen alten Mann namens Mendel Singer!»”

Frisch wartete wieder. Aber Mendel Singer rührte sich nicht. Er nahmzur Kenntnis, daß ein gewisser Berkovitsch nach einem alten MendelSinger gefragt hatte.

„Ja”, sagte Frisch, „ich erwiderte ihm, daß ich einen Mendel Singer ausZuchnow kenne. «Das ist er», sagte Berkovitsch. «Unser Kapellmeisterist ein großer Komponist, noch jung und ein Genie, von ihm kommendie meisten Musikstücke, die wir spielen. Er heißt Alexej Kossak undist auch aus Zuchnow.»”

„Kossak?”, wiederholte Mendel. „Meine Frau ist eine geborene Kossak. Es ist ein Verwandter!”

„Ja”, sagte Frisch, „und es scheint, daß dieser Kossak Sie sucht. Er willIhnen wahrscheinlich etwas mitteilen. Und ich soll Sie fragen, ob Sie eshören wollen. Entweder Sie gehen zu ihm ins Hotel, oder ich schreibeBerkovitsch Ihre Adresse.”

Es wurde Mendel leicht und gleichzeitig schwer zumute. Er trank dasHimbeerwasser, lehnte sich zurück und sagte: „Ich danke Ihnen, Mister Frisch. Aber es ist nicht so wichtig. Dieser Kossak wird mir alletraurigen Sachen erzählen, die ich schon weiß. Und außerdem — ichwill Ihnen die Wahrheit sagen: Ich habe schon daran gedacht, mich mitIhnen zu beraten. Ihr Bruder hat doch eine Schiffskartenagentur? Ichwill nach Haus, nach Zuchnow. Es ist nicht mehr Rußland, die Welthat sich verändert. Was kostet eine Schiffskarte heute? Und was fürPapiere muß ich haben? Reden Sie mit Ihrem Bruder, aber sagen Sieniemandem etwas.”

„Ich werde mich erkundigen”, erwiderte Frisch. „Aber Sie haben bestimmt nicht soviel Geld. Und in Ihrem Alter! Vielleicht sagt Ihnendieser Kossak etwas! Vielleicht nimmt er Sie mit! Er bleibt nur kurzeZeit in New York! Soll ich dem Berkovitsch Ihre Adresse geben?Denn, wie ich Sie kenne, Sie gehen nicht ins Hotel!”

„Nein”, sagte Mendel, „ich werde nicht hingehen. Schreiben Sie ihm,wenn Sie wollen.”

Er erhob sich.

Frisch drückte ihn wieder in den Sessel. „Einen Moment”, sagte er,,,Mister Singer, ich habe das Programm mitgenommen. Da ist ein Bilddieses Kossak.” Und er zog aus der Brusttasche ein großes Programm,entfaltete es und hielt es Mendel vor die Augen.

„Ein schöner, junger Mann”, sagte Mendel. Er betrachtete die Photographie. Obwohl das Bild abgenutzt war, das Papier schmutzig unddas Porträt sich in hunderttausend winzige Moleküle aufzulösenschien, trat es lebendig aus dem Programm vor Mendels Augen. Erwollte es sofort zurückgeben, aber er behielt es und starrte darauf.Breit und weiß war die Stirn unter der Schwärze der Haare, wie einglatter, besonnter Stein. Die Augen waren groß und hell. Sie blicktenMendel Singer geradeaus an, er konnte sich nicht mehr von ihnen befreien. Sie machten ihn fröhlich und leicht, so glaubte Mendel. IhreKlugheit sah er leuchten. Alt waren sie und jung zugleich. Alles wußten sie, die Welt spiegelte sich in ihnen. Es war Mendel Singer, als ob erbeim Anblick dieser Augen selbst jünger würde, ein Jüngling wurde er,gar nichts wußte er. Alles mußte er von diesen Augen erfahren. Er hatsie schon gesehen, geträumt, als kleiner Junge. Vor Jahren, als er anfing,die Bibel zu lernen, waren es die Augen der Propheten. Männer, zudenen Gott selbst gesprochen hat, haben diese Augen. Alles wissen sie,nichts verraten sie, das Licht ist in ihnen.

Lange sah Mendel das Bild an. Dann sagte er: „Ich werde es nachHause mitnehmen, wenn Sie erlauben, Mister Frisch.” Und er faltetedas Papier zusammen und ging.

Er ging um die Ecke, entfaltete das Programm, sah es an und steckte eswieder ein. Eine lange Zeit schien ihm seit der Stunde vergangen zusein, in der er den Eiscreme-Salon betreten hatte. Die paar tausendJahre, die in den Augen Kossaks leuchteten, lagen dazwischen und dieJahre, vor denen Mendel noch so jung gewesen war, daß er sich dasAngesicht von Propheten hatte vorstellen können. Er wollte umkehren, nach dem Konzertsaal fragen, in dem die Kapelle spielte, und hineingehen. Aber er schämte sich. Er ging in den Laden der Skowronneks und erzählte, daß ihn ein Verwandter seiner Frau in Amerikasuche. Er habe Frisch die Erlaubnis gegeben, die Adresse mitzuteilen.,,Morgen abend wirst du bei uns essen wie alle Jahre”, sagte Skowronnek. Es war der erste Osterabend. Mendel nickte. Er wollte lieber inseinem Hinterzimmer bleiben, er kannte die schiefen Blicke der FrauSkowronnek und die berechnenden Hände, mit denen sie Mendel dieSuppe und den Fisch zuteilte. Es ist das letzte Mal, dachte er. Von heutein einem Jahr werde ich in Zuchnow sein: lebendig oder tot; lieber tot.Als erster der Gäste kam er am nächsten Abend, aber als letzter setzteer sich an den Tisch. Frühzeitig kam er, um die Frau Skowronneknicht zu kränken, spät nahm er seinen Platz ein, um zu zeigen, daß ersich für den Geringsten unter den Anwesenden hielt. Ringsum saßensie schon: die Hausfrau, beide Töchter Skowronneks mit ihren Männern und Kindern, ein fremder Reisender in Musikalien und Mendel.Er saß am Ende des Tisches, auf den man ein gehobeltes Brett gelegthatte, um ihn zu verlängern. Mendels Sorge galt nun nicht allein derErhaltung des Friedens, sondern auch dem Gleichgewicht zwischender Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung. Mendel hielt miteiner Hand das Brettende fest, weil man einen Teller oder eine Terrinedaraufstellen mußte. Sechs schneeweiße, dicke Kerzen brannten insechs silbernen Leuchtern auf dem schneeweißen Tischtuch, dessen gestärkter Glanz die sechs Flammen zurückstrahlte. Wie weiße und silberne Wächter von gleichem Wuchs standen die Kerzen vor Skowronnek, dem Hausherrn, der im weißen Kittel auf einem weißen Kissensaß, angelehnt an ein anderes Kissen, ein sündenreiner König aufeinem sündenreinen Thron. Wie lange war es her, daß Mendel in dergleichen Tracht, in gleicher Art den Tisch und das Fest regiert hatte?Heute saß er gebeugt und geschlagen, in seinem grün schillerndenRock am letzten Ende, der Geringste unter den Anwesenden, besorgtum die eigene Bescheidenheit und eine armselige Stütze der Feier. DieOsterbrote lagen verhüllt unter einer weißen Serviette, ein schneeigerHügel neben dem saftigen Grün der Kräuter, dem dunklen Rot derRüben und dem herben Gelb der Meerrettichwurzel. Die Bücher mitden Berichten von dem Auszug der Juden aus Ägypten lagen aufgeschlagen vor jedem Gast. Skowronnek begann, die Legende vorzusingen, und alle wiederholten seine Worte, erreichten ihn und sangen einträchtig im Chor diese behagliche, schmunzelnde Melodie, eine gesungene Aufzählung der einzelnen Wunder, die immer wieder zusammengerechnet wurden und immer wieder die gleichen Eigenschaften Gottes ergaben: die Größe, die Güte, die Barmherzigkeit, die Gnade fürIsrael und den Zorn gegen Pharao. Sogar der Reisende in Musikalien,der die Schrift nicht lesen konnte und die Gebräuche nicht verstand,konnte sich der Melodie nicht entziehen, die ihn mit jedem neuen Satzumwarb, einspann und umkoste, so daß er sie mitzusummen begann,ohne es zu wissen. Und selbst Mendel stimmte sie milde gegen denHimmel, der vor viertausend Jahren freigiebig heitere Wunder gespendet hatte, und es war, als würde durch die Liebe Gottes zum ganzenVolk Mendel mit seinem eigenen kleinen Schicksal beinahe ausgesöhnt. Noch sang er nicht mit, Mendel Singer, aber sein Oberkörperschaukelte vor und zurück, gewiegt vom Gesang der andern. Er hörtedie Enkelkinder Skowronneks mit hellen Stimmen singen und erinnerte sich der Stimmen seiner eigenen Kinder. Er sah noch den hilflosen Menuchim auf dem ungewohnten, erhöhten Stuhl am feierlichenTisch. Der Vater allein hatte während des Singens von Zeit zu Zeiteinen hurtigen Blick auf seinen jüngsten und ärmsten Sohn geworfen,das lauschende Licht in seinen törichten Augen gesehen und gefühlt,wie sich der Kleine vergeblich mühte, mitzuteilen, was in ihm klang,und zu singen, was er hörte. Es war der einzige Abend im Jahr, an demMenuchim einen neuen Rock trug wie seine Brüder und den weißenKragen des Hemdes mit den ziegelroten Ornamenten als festlichenRand um sein welkes Doppelkinn. Wenn Mendel ihm den Wein vorhielt, trank er mit gierigem Zug den halben Becher, keuchte und prustete und verzog sein Gesicht zu einem mißlungenen Versuch zu lachen oder zu weinen: Wer konnte es wissen?

Daran dachte Mendel, während er sich im Gesang der andern wiegte.Er sah, daß sie schon weit voraus waren, überschlug ein paar Seitenund bereitete sich vor, aufzustehen, die Ecke von den Tellern zu entlasten, damit sich kein Unfall ereignete, wenn er loslassen sollte. Dennder Zeitpunkt näherte sich, an dem man den roten Becher mit Weinfüllte und die Tür öffnete, um den Propheten Eliahu einzulassen.Schon wartete das dunkelrote Glas, die sechs Lichter spiegelten sich inseiner Wölbung. Frau Skowronnek hob den Kopf und sah Mendel an.Er stand auf, schlurfte zur Tür und öffnete sie. Skowronnek sangnun die Einladung an den Propheten. Mendel wartete, bis sie zuEnde war. Denn er wollte nicht den Weg zweimal machen. Dannschloß er die Tür, setzte sich wieder, stemmte die stützende Faustunter das Tischbrett, und der Gesang ging weiter.

Kaum eine Minute, nachdem Mendel sich gesetzt hatte, klopfte es.Alle hörten das Klopfen, aber alle dachten, es sei eine Täuschung.An diesem Abend saßen die Freunde zu Haus, leer waren die Gassen des Viertels. Um diese Stunde war kein Besuch möglich. Es wargewiß der Wind, der klopfte. „Mendel”, sagte Frau Skowronnek,,,Ihr habt die Tür nicht richtig geschlossen.” Da klopfte es noch einmal, deutlich und länger. Alle hielten ein. Der Geruch der Kerzen,der Genuß des Weins, das gelbe, ungewohnte Licht und die alteMelodie hatten die Erwachsenen und die Kinder so nah an die Erwartung eines Wunders gebracht, daß ihr Atem für einen Augenblick aussetzte und daß sie ratlos und blaß einander ansahen, alswollten sie sich fragen, ob der Prophet nicht wirklich Einlaß verlange. Also blieb es still, und niemand wagte, sich zu rühren. Endlich regte sich Mendel. Noch einmal schob er die Teller in die Mitte.Noch einmal schlurfte er zur Tür und öffnete. Da stand ein großgewachsener Fremder im halbdunklen Flur, wünschte guten Abendund fragte, ob er eintreten dürfe. Skowronnek erhob sich mit einigerMühe aus seinen Polstern. Er ging zur Tür, betrachtete den Fremden und sagte: „Please!” — wie er es in Amerika gelernt hatte. DerFremde trat ein. Er trug einen dunklen Mantel, hochgeschlagen warsein Kragen, den Hut behielt er auf dem Kopf, offenbar aus Andacht vor der Feier, in die er geraten war, und weil alle anwesendenMänner mit bedeckten Häuptern dasaßen.

Es ist ein feiner Mann, dachte Skowronnek. Und er knöpfte, ohneein Wort zu sagen, dem Fremden den Mantel auf. Der Mann verneigte sich und sagte: „Ich heiße Alexej Kossak. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bitte sehr um Entschuldigung. Man hat mir gesagt,daß sich ein gewisser Mendel Singer aus Zuchnow bei Ihnen aufhält.Ich möchte ihn sprechen.”

„Das bin ich”, sagte Mendel, trat nahe an den Gast und hob denKopf. Seine Stirn reichte bis zur Schulter des Fremden. „Herr Kossak”, fuhr Mendel fort, „ich habe schon von Ihnen gehört. Ein Verwandter sind Sie.”

„Legen Sie ab, und setzen Sie sich mit uns an den Tisch”, sagte Skowronnek.

Frau Skowronnek erhob sich. Alle rückten zusammen. Man machtedem Fremden Platz. Skowronneks Schwiegersohn stellte noch einenStuhl an den Tisch. Der Fremde hängte den Mantel an einen Nagel undsetzte sich Mendel gegenüber. Man stellte einen Becher Wein vor denGast. „Lassen Sie sich nicht aufhalten”, bat Kossak, „beten Sie weiter.”Sie fuhren fort. Still und schmal saß der Gast auf seinem Platz. Mendelbetrachtete ihn unaufhörlich. Unermüdlich sah Alexej Kossak aufMendel Singer. Also saßen sie einander gegenüber, umweht von demGesang der andern, aber von ihnen getrennt. Es war beiden angenehm, daß sie der andern wegen noch nicht miteinander sprechen konnten. Mendel suchte die Augen des Fremden.Schlug sie Kossak nieder, so war dem Alten, als müßte er den Gastbitten, sie offenzuhalten. In diesem Angesicht war Mendel Singer allesfremd, nur die Augen hinter den randlosen Gläsern waren ihm nahe.Zu ihnen schweifte immer wieder sein Blick wie in einer Heimkehr zuvertrauten, hinter Fenstern verborgenen Lichtern, aus der fremdenLandschaft des schmalen, blassen und jugendlichen Gesichts. Schmal,verschlossen und glatt waren die Lippen. Wenn ich sein Vater wäre,dachte Mendel, würde ich sagen: Lächle, Alexej. Leise zog er aus derTasche das Plakat, entfaltete es unter dem Tisch, um die andern nichtzu stören, und reichte es dem Fremden hinüber. Der nahm es undlächelte, schmal, zart und nur eine Sekunde lang.

Man unterbrach den Gesang, die Mahlzeit begann, einen Teller heißerSuppe schob Frau Skowronnek vor den Gast, und Herr Skowronnekbat ihn mitzuessen. Der Reisende in Musikalien begann ein Gesprächin Englisch mit Kossak, von dem Mendel gar nichts verstand. Dannerklärte der Reisende allen, daß Kossak ein junges Genie sei, nur nocheine Woche in New York bleibe und sich erlauben werde, den Anwesenden Freikarten zu dem Konzert seines Orchesters zu schicken. Andere Gespräche konnten nicht in Gang kommen. Man aß in wenigfestlicher Eile dem Ende der Feier zu, und jeden zweiten Bissen begleitete ein höfliches Wort des Fremden oder seiner Wirte. Mendel sprachnicht. Frau Skowronnek zu Gefallen aß er noch schneller als die andern, um keinen Anlaß zu Verzögerungen zu geben. Und alle begrüßten das Ende des Mahls und fuhren eifrig fort im Absingen der Wunder. Skowronnek schlug einen immer schnelleren Rhythmus an, dieFrauen konnten ihm nicht folgen. Als er aber zu den Psalmen kam,veränderte er die Stimme, das Tempo und die Melodie, und so betörend klangen die Worte, die er nunmehr sang, daß sogar Mendel amEnde jeder Strophe „Halleluja, Halleluja” wiederholte. Er schüttelteden Kopf, daß sein tiefer Bart über die aufgeschlagenen Blätter desBuches strich und ein zartes Rascheln hörbar wurde, als wollte sich derBart Mendels an dem Gebet beteiligen, da der Mund Mendels so sparsam feierte.

Nun waren sie bald fertig. Die Kerzen waren bis zur Hälfte abgebrannt, der Tisch war nicht mehr glatt und feierlich, Flecken und Speisereste sah man auf dem weißen Tischtuch, und Skowronneks Enkelgähnten schon. Man hielt am Ende des Buches. Skowronnek sagte miterhobener Stimme den überlieferten Wunsch: „Im nächsten Jahre inJerusalem!” Alle wiederholten es, klappten die Bücher zu und wandtensich zum Gast. An Mendel kam jetzt die Reihe, den Besucher zu fragen. Der Alte räusperte sich, lächelte und sagte: „Nun, Herr Alexej,was wollen Sie mir erzählen?”

Mit halblauter Stimme begann der Fremde: „Ihr hattet längst von mirNachricht gehabt, Herr Mendel Singer, wenn ich Eure Adresse gewußthätte. Aber nach dem Kriege wußte sie niemand mehr. Billes' Schwiegersohn, der Musikant, ist an Typhus gestorben, Euer Haus in Zuchnow stand leer, denn die Tochter Billes’ war zu ihren Eltern, die damals schon in Dubno wohnten, geflohen, und in Zuchnow, in EuremHaus, waren österreichische Soldaten. Nun, nach dem Kriege schriebich an meinen Manager hierher, aber der Mann war nicht geschicktgenug, er schrieb mir, daß Ihr nicht zu finden seid.”

„Schade um Billes’ Schwiegersohn!”, sagte Mendel, und er dachte dabeian Menuchim.

„Und nun”, fuhr Kossak fort, „habe ich eine angenehme Nachricht.”Mendel hob den Kopf. „Ich habe Euer Haus gekauft, vom alten Billes,vor Zeugen und auf Grund einer amtlichen Einschätzung. Und dasGeld will ich Euch auszahlen.”

„Wieviel macht es?”, fragte Mendel.

„Dreihundert Dollar!”, sagte Kossak.

Mendel griff sich an den Bart und kämmte ihn mit gespreizten, zitternden Fingern. „Ich danke Ihnen!”, sagte er.

„Und was Euren Sohn Jonas betrifft”, sprach Kossak weiter, „so ist erseit dem Jahre 1915 verschollen. Niemand konnte etwas über ihn sagen. Weder in Petersburg noch in Berlin, noch in Wien, noch imSchweizer Roten Kreuz. Ich habe überall angefragt und anfragen lassen. Aber vor zwei Monaten traf ich einen jungen Mann aus Moskau.Er kam eben als Flüchtling über die polnische Grenze, denn, wie Ihrwißt, gehört Zuchnow jetzt zu Polen. Und dieser junge Mann warJonas’ Regimentskamerad gewesen. Er sagte mir, daß er einmal durchZufall gehört hat, daß Jonas lebt und in der weißgardistischen Armeekämpft. Nun ist es wohl ganz schwer geworden, etwas über ihn zuerfahren. Aber Ihr dürft die Hoffnung immer noch nicht aufgeben.”Mendel wollte eben den Mund auftun, um nach Menuchim zu fragen.Aber sein Freund Skowronnek, der Mendels Frage vorausahnte, einetraurige Antwort für sicher hielt und bestrebt war, betrübliche Gespräche an diesem Abend zu vermeiden oder sie wenigstens, solang esging, zu verschieben, kam dem Alten zuvor und sagte: „Nun, HerrKossak, da wir das Vergnügen haben, einen so großen Mann wie Siebei uns zu sehen, machen Sie uns vielleicht noch die Freude, etwas ausIhrem Leben zu erzählen. Wie kommt es, daß Sie den Krieg, die Revolution und alle Gefahren überstanden haben?”

Der Fremde hatte offenbar diese Frage nicht erwartet, denn er antwortete nicht sofort. Er schlug die Augen nieder wie einer, der sich schämtoder nachdenken muß, und antwortete erst nach einer längeren Weile:,,Ich habe nichts Besonderes erlebt. Als Kind war ich lange krank,mein Vater war ein armer Lehrer, wie Herr Mendel Singer, mit dessenFrau ich ja verwandt bin. (Es ist jetzt nicht an der Zeit, die Verwandtschaft näher zu erläutern.) Kurz, meiner Krankheit wegen und weilwir arm waren, kam ich in eine große Stadt, in ein öffentliches medizinisches Institut. Man behandelte mich gut, ein Arzt hatte mich besonders gern, ich wurde gesund, und der Doktor behielt mich in seinemHaus. Dort”, hier senkte Kossak die Stimme und den Kopf, und eswar, als spräche er zum Tisch, so daß alle den Atem anhielten, um ihngenau zu hören, „dort setzte ich mich eines Tages an das Klavier undspielte aus dem Kopf eigene Lieder. Und die Frau des Doktors schriebdie Noten zu meinen Liedern. Der Krieg war mein Glück. Denn ichkam zur Militärmusik und wurde Dirigent einer Kapelle, blieb dieganze Zeit in Petersburg und spielte ein paarmal beim Zaren. MeineKapelle ging mit mir nach der Revolution ins Ausland. Ein paar fielenab, ein paar Neue kamen dazu, in London machten wir einen Kontraktmit einer Konzertagentur, und so ist mein Orchester entstanden.”

Alle lauschten immer noch, obwohl der Gast längst nichts mehr erzählte. Aber seine Worte schwebten noch im Zimmer, und an den undjenen schlugen sie erst jetzt. Kossak sprach den Jargon der Juden mangelhaft, er mischte halbe russische Sätze in seine Erzählung, und dieSkowronneks und Mendel begriffen sie nicht einzeln, sondern erst imganzen Zusammenhang. Die Schwiegersöhne Skowronneks, die alskleine Kinder nach Amerika gekommen waren, verstanden nur dieHälfte und ließen sich von ihren Frauen die Erzählung des Fremdenins Englische übersetzen. Der Reisende in Musikalien wiederholte daraufhin die Biographie Kossaks, um sie sich einzuprägen. Die Kerzenbrannten nur noch als kurze Stümpfe in den Leuchtern, es wurde dunkel im Zimmer, die Enkel schliefen mit schiefen Köpfchen auf denSesseln, aber niemand machte Anstalten zu gehen, ja, Frau Skowronnekholte sogar zwei ganze Kerzen, klebte sie auf die alten Stümpfe underöffnete so den Abend von neuem. Ihr alter Respekt vor Mendel Singer erwachte. Dieser Gast, der ein großer Mann war, beim Zaren gespielt hatte, einen merkwürdigen Ring am kleinen Finger trug und einePerle in der Krawatte, mit einem Anzug aus gutem europäischem Stoffbekleidet war — sie verstand sich darauf, denn ihr Vater war Tuchhändler gewesen —, dieser Gast konnte nicht mit Mendel in die Hinterstubedes Ladens gehen. Ja, sie sagte zur Überraschung ihres Mannes: „MisterSinger! Es ist gut, daß Sie heute zu uns gekommen sind. Sonst”, und siewandte sich an Kossak, „ist er so bescheiden und zartfühlend, daß eralle meine Einladungen ausschlägt. Er ist dennoch wie das älteste Kindin unserem Haus.” Skowronnek fiel ihr ins Wort: „Mach uns nocheinen Tee!” Und während sie aufstand, sagte er zu Kossak: „Wir allekennen Ihre Lieder schon lange, «Menuchims Lied» ist doch von Ihnen?” „Ja”, sagte Kossak. „Es ist von mir.” Es schien, daß ihm dieseFrage nicht angenehm war. Er sah schnell auf Mendel Singer undfragte: „Ihre Frau ist tot?” Mendel nickte. „Und soviel ich weiß, habenSie doch eine Tochter?” Statt Mendels erwiderte nun Skowronnek:,,Sie ist leider durch den Tod der Mutter und des Bruders Sam verwirrtgeworden und in der Anstalt.” Der Fremde ließ wieder den Kopf sinken. Mendel erhob sich und ging hinaus.

Er wollte nach Menuchim fragen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Erkannte ja die Antwort schon im Voraus. Er selbst versetzte sich an dieStelle des Gastes und antwortete sich: Menuchim ist schon lange tot.Er ist jämmerlich umgekommen. Er prägte sich diesen Satz ein,schmeckte im Voraus seine ganze Bitterkeit, um dann, wenn er wirklich erklingen sollte, ruhig bleiben zu können. Und da er noch eineschüchterne Hoffnung tief in seinem Herzen keimen fühlte, versuchteer, sie zu töten. Wenn Menuchim am Leben wäre, sagte er sich, sohätte es mir der Fremde sofort am Anfang erzählt. Nein! Menuchim istschon lange tot. Jetzt werde ich ihn fragen, damit diese dumme Hoffnung ein Ende nehme! Aber er fragte noch immer nicht. Er setzte sicheine Pause, und die geräuschvolle Tätigkeit der Frau Skowronnek, diein der Küche mit dem Teekocher hantierte, veranlaßte ihn, das Zimmerzu verlassen, um der Hausfrau zu helfen, wie er es gewohnt war.

Heute aber schickte sie ihn ins Zimmer zurück. Er besaß dreihundertDollar und einen vornehmen Verwandten. „Es schickt sich nicht fürEuch, Mister Mendel”, sagte sie. „Laßt Euren Gast nicht allein!” Siewar übrigens schon fertig. Mit den vollen Teegläsern auf dem breitenTablett betrat sie das Zimmer, gefolgt von Mendel. Der Tee dampfte.Mendel war endlich entschlossen, nach Menuchim zu fragen. AuchSkowronnek fühlte, daß die Frage nicht mehr aufzuschieben war. Erfragte lieber selbst, Mendel, sein Freund, sollte zu dem Weh, das ihmdie Antwort bereiten würde, nicht auch noch die Qual zu fragen aufsich nehmen müssen.

„Mein Freund Mendel hatte noch einen armen, kranken Sohn namensMenuchim. Was ist mit ihm geschehen?”

Wieder antwortete der Fremde nicht. Er stocherte mit dem Löffel aufdem Grunde des Glases herum, zerrieb den Zucker, und als wollte eraus dem Tee die Antwort ablesen, sah er auf das hellbraune Glas, undden Löffel immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger, dieschmale, braune Hand sachte bewegend, sagte er endlich, unerwartetlaut, wie mit einem plötzlichen Entschluß:

„Menuchim lebt!”

Es klingt nicht wie eine Antwort, es klingt wie ein Ruf. Unmittelbardarauf bricht ein Lachen aus Mendel Singers Brust. Alle erschreckenund sehen starr auf den Alten. Mendel sitzt zurückgelehnt auf demSessel, schüttelt sich und lacht. Sein Rücken ist so gebeugt, daß er dieLehne nicht ganz berühren kann. Zwischen der Lehne und Mendelsaltem Nacken (weiße Härchen kräuseln sich über dem schäbigen Kragen des Rocks) ist ein weiter Abstand. Mendels langer Bart bewegt sichheftig, flattert beinahe wie eine weiße Fahne und scheint ebenfalls zulachen. Aus Mendels Brust dröhnt und kichert es abwechselnd. Alleerschrecken, Skowronnek erhebt sich etwas schwerfällig aus denschwellenden Kissen und behindert durch den langen, weißen Kittel,geht um den ganzen Tisch, tritt zu Mendel, beugt sich zu ihm undnimmt mit beiden Händen Mendels beide Hände. Da verwandelt sichMendels Lachen in Weinen, er schluchzt, und die Tränen fließen ausden alten, halb verhüllten Augen in den wild wuchernden Bart, verlieren sich im wüsten Gestrüpp, andere bleiben lange und rund undvoll wie gläserne Tropfen in den Haaren hängen.

Endlich ist Mendel ruhig. Er sieht Kossak gerade an und wiederholt:,,Menuchim lebt?”

Der Fremde sieht Mendel ruhig an und sagt: „Menuchim lebt, er istgesund, es geht ihm sogar gut!”

Mendel faltet die Hände, er hebt sie, so hoch er kann, dem Plafondentgegen. Er möchte aufstehen. Er hat das Gefühl, daß er jetzt aufstehen müßte, gerade werden, wachsen, groß und größer werden, überdas Haus hinauf und mit den Händen den Himmel berühren. Erkann die gefalteten Hände nicht mehr lösen. Er blickt zu Skowronnek, und der alte Freund weiß, was er jetzt zu fragen hat, an MendelsStatt.

„Wo ist Menuchim jetzt?”, fragt Skowronnek.

Und langsam erwidert Alexej Kossak:

„Ich selbst bin Menuchim.”

Alle erheben sich plötzlich von den Sitzen, die Kinder, die schon geschlafen haben, erwachen und brechen in Weinen aus. Mendel selbststeht so heftig auf, daß hinter ihm sein Stuhl mit lautem Krach hinfällt. Er geht, er eilt, er hastet, er hüpft zu Kossak, dem einzigen, dersitzen geblieben ist. Es ist ein großer Aufruhr im Zimmer. Die Kerzen beginnen zu flackern, als würden sie plötzlich von einem Windangeweht. An den Wänden flattern die Schatten stehender Menschen,Mendel sinkt vor dem sitzenden Menuchim nieder, er sucht mit unruhigem Mund und wehendem Bart die Hände seines Sohnes, seineLippen küssen, wo sie hintreffen, die Knie, die Schenkel, die WesteMenuchims. Mendel steht wieder auf, hebt die Hände und beginnt,als wäre er plötzlich blind geworden, mit heftigen Fingern das Gesicht seines Sohnes abzutasten. Die stumpfen, alten Finger huschenüber die Haare Menuchims, die glatte, breite Stirn, die kalten Gläserder Brille, die schmalen, geschlossenen Lippen. Menuchim sitzt ruhigund rührt sich nicht. Alle Anwesenden umringen Menuchim undMendel, die Kinder weinen, die Kerzen flackern, die Schatten derWand ballen sich zu schweren Wolken zusammen. Niemand spricht.Endlich erklingt Menuchims Stimme: „Steh auf, Vater!”, sagt er, greiftMendel unter die Arme, hebt ihn hoch und setzt ihn auf den Schoß wieein Kind. Die andern entfernen sich wieder. Jetzt sitzt Mendel auf demSchoß seines Sohnes, lächelt in die Runde, jedem ins Angesicht. Erflüstert: „Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig,die Bitternis milde und die Krankheit stark.” Deborah hat es gesagt. Erhört noch ihre Stimme.

Skowronnek verläßt den Tisch, legt seinen Kittel ab, zieht seinen Mantel an und sagt: „Gleich komme ich wieder!” Wohin geht Skowronnek? Es ist noch nicht spät, kaum elf Uhr, die Freunde sitzen noch anden Tischen. Er geht von Haus zu Haus, zu Groschel, Menkes undRottenberg. Alle sind noch an den Tischen zu finden. „Ein Wunder istgeschehen! Kommt zu mir und seht es an!” Er führt alle drei zu Mendel.Unterwegs begegnen sie der Tochter Lemmels, die ihre Gäste begleitethat. Sie erzählen ihr von Mendel und Menuchim. Der junge Frisch, dermit seiner Frau noch ein bißchen spazierengeht, hört ebenfalls dieNeuigkeit. Also erfahren einige, was sich ereignet hat. Unten vor demHause Skowronneks steht als Beweis das Automobil, in dem Menuchim gekommen ist. Ein paar Leute öffnen die Fenster und sehen es.Menkes, Groschel, Skowronnek und Rottenberg treten ins Haus.Mendel geht ihnen entgegen und drückt ihnen stumm die Hände.

Menkes, der Bedächtigste von allen, nahm das Wort. „Mendel”, sagteer, „wir sind gekommen, dich in deinem Glück zu sehen, wie wir dichim Unglück gesehen haben. Erinnerst du dich, wie du geschlagen warst?Wir trösteten dich, aber wir wußten, daß es umsonst war. Nun erlebstdu ein Wunder am lebendigen Leibe. Wie wir damals mit dir traurigwaren, so sind wir heute mit dir fröhlich. Groß sind die Wunder, dieder Ewige vollbringt, heute noch wie vor einigen tausend Jahren. Gelobt sei Sein Name!” Alle standen. Die Töchter Skowronneks, die Kinder, die Schwiegersöhne und der Reisende in Musikalien waren schonin Überkleidern und nahmen Abschied. Mendels Freunde setzten sichnicht, denn sie waren nur zu einem kurzen Glückwunsch gekommen.Kleiner als sie alle, mit gekrümmtem Rücken, im grünlich schillerndenRock stand Mendel in ihrer Mitte, wie ein unscheinbarer, verkleideterKönig. Er mußte sich recken, um ihnen in die Gesichter zu sehen. „Ichdanke euch”, sagte er. „Ohne eure Hilfe hätte ich diese Stunde nichterlebt. Seht euch meinen Sohn an!” Er zeigte mit der Hand auf ihn, alskönnte irgendjemand von den Freunden nicht gründlich genug Menuchim betrachten. Ihre Augen befühlten den Stoff des Anzugs, die seidene Krawatte, die Perle, die schmalen Hände und den Ring. Dannsagten sie: „Ein edler junger Mann! Man sieht, daß er ein Besondererist!”

„Ich habe kein Haus”, sagte Mendel zu seinem Sohn. „Du kommst zudeinem Vater, und ich weiß nicht, wo dich schlafen zu legen.”

„Ich möchte dich mitnehmen, Vater”, erwiderte der Sohn. „Ich weißnicht, ob du fahren darfst, weil ja Feiertag ist.”

„Er darf fahren”, sagten alle wie aus einem Munde.

„Ich glaube, daß ich mit dir fahren darf”, meinte Mendel. „SchwereSünden hab’ ich begangen, der Herr hat die Augen zugedrückt. EinenIsprawnik hab’ ich Ihn genannt. Er hat sich die Ohren zugehalten. Erist so groß, daß unsere Schlechtigkeit ganz klein wird. Ich darf mit dirfahren.”

Alle begleiteten Mendel zum Wagen. An diesem und jenem Fensterstanden Nachbarn und Nachbarinnen und sahen hinunter. Mendelholte seine Schlüssel, sperrte noch einmal den Laden auf, ging ins Hinterzimmer und nahm das rotsamtene Säckchen vom Nagel. Er bliesdarauf, um es vom Staub zu befreien, ließ den Rolladen herunter,sperrte zu und gab Skowronnek die Schlüssel. Mit dem Sack im Armstieg er ins Auto. Der Motor ratterte. Die Scheinwerfer leuchteten auf.Aus dem und jenem Fenster riefen Stimmen: „Auf Wiedersehen, Mendel!” Mendel Singer ergriff Menkes am Ärmel und sagte: „Morgen,beim Gebet, wirst du verkünden lassen, daß ich dreihundert Dollar fürArme spende. Lebt wohl!”

Und er fuhr an der Seite seines Sohnes in den vierundvierzigstenBroadway, ins Astor Hotel.

XVI

Kümmerlich und gebeugt, im grünlich schillernden Rock, das rotsamtene Säckchen im Arm, betrat Mendel Singer die Halle, betrachtete daselektrische Licht, den blonden Portier, die weiße Büste eines unbekannten Gottes vor dem Aufgang zur Stiege und den schwarzen Neger, der ihm den Sack abnehmen wollte. Er stieg in den Lift und sahsich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die Augen, denn er fühltesich schwindlig werden. Er war schon gestorben, er schwebte in denHimmel, es nahm kein Ende. Der Sohn faßte ihn bei der Hand, derLift hielt, Mendel ging auf einem lautlosen Teppich durch einen langenKorridor. Er öffnete erst die Augen, als er im Zimmer stand. Wie esseine Gewohnheit war, trat er sofort zum Fenster. Da sah er zum ersten Mal die Nacht von Amerika aus der Nähe, den geröteten Himmel,die flammenden, sprühenden, tropfenden, glühenden, roten, blauen,grünen, silbernen, goldenen Buchstaben, Bilder und Zeichen. Er hörteden lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen, das Klingeln, das Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und dasHeulen. Dem Fenster gegenüber, an dem Mendel lehnte, erschien jedefünfte Sekunde das breite, lachende Gesicht eines Mädchens, zusammengesetzt aus lauter hingesprühten Funken und Punkten, das blendende Gebiß in dem geöffneten Mund aus einem Stück geschmolzenenSilbers. Diesem Angesicht entgegen schwebte ein rubinroter, überschäumender Pokal, kippte von selbst um, ergoß seinen Inhalt in denoffenen Mund und entfernte sich, um neu gefüllt wieder zu erscheinen,rubinrot und weißgischtig überschäumend. Es war eine Reklame füreine neue Limonade. Mendel bewunderte sie als die vollkommensteDarstellung des nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit. Erlächelte, sah das Bild ein paarmal kommen und verschwinden undwandte sich wieder dem Zimmer zu. Da stand aufgeschlagen sein weißes Bett. In einem Schaukelstuhl wiegte sich Menuchim. „Ich werdeheute nicht schlafen”, sagte Mendel. „Leg du dich schlafen, ich werdeneben dir sitzen. Im Winkel hast du geschlafen, in Zuchnow, nebendem Herd.” „Ich erinnere mich genau an einen Tag”, begann Menuchim, nahm seine Brille ab, und Mendel sah die nackten Augen seinesSohnes, traurig und müde erschienen sie ihm, „ich erinnere mich aneinen Vormittag, die Sonne ist sehr hell, das Zimmer leer. Da kommstdu, hebst mich hoch, ich sitze auf einem Tisch, und du klingelst an einGlas mit einem Löffel. Es war ein wunderbares Klingeln, ich wollte,ich könnte es heute komponieren und spielen. Dann singst du. Dannbeginnen die Glocken zu läuten, ganz alte, wie große, schwere Löffelschlagen sie an riesengroße Gläser.” „Weiter, weiter”, sagte Mendel.Auch er erinnerte sich genau an jenen Tag, an dem Deborah aus demHause ging, die Reise zu Kapturak vorbereiten. „Das ist aus frühenTagen das einzige!”, sagte der Sohn. „Dann kommt die Zeit, wo Billes’Schwiegersohn, der Geiger, spielt. Jeden Tag, glaube ich, spielt er. Erhört zu spielen auf, aber ich höre ihn immer, den ganzen Tag, dieganze Nacht.” „Weiter, weiter!”, mahnte Mendel in dem Ton, in demer seine Schüler immer zum Lernen angeeifert hatte. „Dann ist langenichts! Dann sehe ich eines Tages einen großen roten und blauenBrand. Ich lege mich auf den Boden. Ich krieche zur Tür. Plötzlichreißt mich jemand hoch und treibt mich, ich laufe. Ich bin draußen, dieLeute stehen auf der andern Seite der Gasse. Feuer! schreit es aus mir!”,,Weiter, weiter!”, mahnte Mendel. „Ich weiß nichts mehr. Man sagtemir dann später, ich wäre lange krank und bewußtlos gewesen. Icherinnere mich erst an die Zeiten in Petersburg, ein weißer Saal, weißeBetten, viele Kinder in den Betten, ein Harmonium oder eine Orgelspielt, und ich singe mit lauter Stimme dazu. Dann führt mich derDoktor im Wagen nach Haus. Eine große, blonde Frau in einem blaßblauen Kittel spielt Klavier. Sie steht auf. Ich gehe an die Tasten, esklingt, wenn ich sie anrühre. Plötzlich spiele ich die Lieder der Orgelund alles, was ich singen kann.” „Weiter, weiter!”, mahnte Mendel.,,Ich wüßte nichts weiter, was mich mehr anginge als diese paar Tage.Ich erinnere mich an die Mutter. Es war warm und weich bei ihr, ichglaube, sie hatte eine sehr tiefe Stimme, und ihr Gesicht war sehr großund rund wie eine ganze Welt.” „Weiter, weiter!”, sagte Mendel. „AnMirjam, an Jonas, an Schemarjah erinnere ich mich nicht. Von ihnenhabe ich erst viel später gehört, durch Billes’ Tochter.”

Mendel seufzte. „Mirjam”, wiederholte er. Sie stand vor ihm, im goldgelben Schal, mit den blauschwarzen Haaren, flink und leichtfüßig,eine junge Gazelle. Seine Augen hatte sie. „Ein schlechter Vater warich”, sagte Mendel. „Dich habe ich schlecht behandelt und sie. Jetzt istsie verloren, keine Medizin kann ihr helfen.” „Wir werden zu ihrgehen”, sagte Menuchim. „Ich selbst, Vater, bin ich nicht geheilt worden?”

Ja, Menuchim hatte recht. Der Mensch ist unzufrieden, sagte sichMendel. Eben hat er ein Wunder erlebt, schon will er das nächste sehen.Warten, warten, Mendel Singer! Sieh nur, was aus Menuchim, demKrüppel, geworden ist. Schmal sind seine Hände, klug sind seine Augen, zart sind seine Wangen.

„Geh, schlafen, Vater!”, sagte der Sohn. Er ließ sich auf den Bodennieder und zog Mendel Singer die alten Stiefel aus. Er betrachtete dieSohlen, die zerrissen waren, gezackte Ränder hatten, das gelbe, geflickte Oberleder, die ruppig gewordenen Schäfte, die durchlöchertenSocken, die ausgefransten Hosen. Er entkleidete den Alten und legteihn ins Bett. Dann verließ er das Zimmer, holte aus seinem Koffer einBuch, kehrte zum Vater zurück, setzte sich in den Schaukelstuhl nebendas Bett, entzündete die kleine, grüne Lampe und begann zu lesen.Mendel tat, als ob er schliefe. Er blinzelte durch einen schmalen Spaltzwischen den Lidern. Sein Sohn legte das Buch weg und sagte: „Dudenkst an Mirjam, Vater! Wir werden sie besuchen. Ich werde Ärzterufen. Man wird sie heilen. Sie ist noch jung! Schlaf ein!” Mendelschloß die Augen, aber er schlief nicht ein. Er dachte an Mirjam, hörtedie ungewohnten Geräusche der Welt, fühlte durch die geschlossenenLider die nächtlichen Flammen des hellen Himmels. Er schlief nicht,aber es war ihm wohl, er ruhte aus. Mit wachem Kopf lag er gebettet inSchlaf und erwartete den Morgen.

Der Sohn bereitete ihm das Bad, kleidete ihn an, setzte ihn in denWagen. Sie fuhren lange, durch geräuschvolle Straßen, sie verließen dieStadt, sie kamen auf einen langen und breiten Weg, an dessen Rändernknospende Bäume standen. Der Motor summte hell, im Winde wehteMendels Bart. Er schwieg. „Willst du wissen, wohin wir fahren, Vater?”, fragte der Sohn. „Nein!” antwortete Mendel. „Ich will nichtswissen! Wohin du fährst, ist es gut.”

Und sie gelangten in eine Welt, wo der weiche Sand gelb war, das weiteMeer blau und alle Häuser weiß. Auf der Terrasse vor einem dieserHäuser, an einem kleinen, weißen Tischchen, saß Mendel Singer. Erschlürfte einen goldbraunen Tee. Auf seinen gebeugten Rücken schiendie erste warme Sonne dieses Jahres. Die Amseln hüpften dicht an ihnheran. Ihre Schwestern flöteten indessen vor der Terrasse. Die Wellendes Meeres plätscherten mit sanftem, regelmäßigem Schlag an denStrand. Am blaßblauen Himmel standen ein paar weiße Wölkchen.Unter diesem Himmel war es Mendel recht, zu glauben, daß Jonas sicheinmal wieder einfinden würde und Mirjam heimkehren, „schöner alsalle Frauen der Welt”, zitierte er im Stillen. Er selbst, Mendel Singer,wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen Enkeln und „satt am Leben”, wie es im „Hiob” geschrieben stand.Er fühlte ein merkwürdiges und auch verbotenes Verlangen, die Mützeaus altem Seidenrips abzulegen und die Sonne auf seinen alten Schädelscheinen zu lassen. Und zum ersten Mal in seinem Leben entblößteMendel Singer aus freiem Willen sein Haupt, so wie er es nur im Amtgetan hatte und im Bad. Die spärlichen, gekräuselten Härchen auf seinem kahlen Kopf bewegte ein Frühlingswind wie seltsame, zartePflanzen.

So grüßte Mendel Singer die Welt.

Und eine Möwe stieß wie ein silbernes Geschoß des Himmels unterdas Zeltdach der Terrasse. Mendel beobachtete ihren jähen Flug unddie schattenhafte, weiße Spur, die sie in der blauen Luft hinterließ.

Da sagte der Sohn: „Nächste Woche fahre ich nach San Francisco. Aufder Rückkehr spielen wir noch zehn Tage in Chicago. Ich denke, Vater, daß wir in vier Wochen nach Europa fahren können!”

„Mirjam?”

„Heute noch werde ich sie sehen, mit Ärzten sprechen. Alles wird gutwerden, Vater. Vielleicht nehmen wir sie mit. Vielleicht wird sie inEuropa gesund!”

Sie kehrten ins Hotel zurück. Mendel ging ins Zimmer seines Sohnes.Er war müde.

„Leg dich auf das Sofa, schlaf ein wenig”, sagte der Sohn. „In zweiStunden bin ich wieder hier!”

Mendel legte sich gehorsam. Er wußte, wohin sein Sohn ging. ZurSchwester ging er. Er war ein wunderbarer Mensch, der Segen ruhteauf ihm, gesund würde er Mirjam machen.

Mendel erblickte eine große Photographie in rostbraunem Rahmen aufdem kleinen Spiegeltisch. „Gib mir das Bild!”, bat er.

Er betrachtete es lange. Er sah die junge, blonde Frau in einem hellenKleid, hell wie der Tag, in einem Garten saß sie, durch den der Windspazierenging und die Sträucher am Rande der Beete bewegte. ZweiKinder, ein Mädchen und ein Knabe, standen neben einem kleinen,eselbespannten Wagen, wie sie in manchen Gärten als spielerisches Vehikel gebraucht werden.

„Gott segne sie!”, sagte Mendel.

Der Sohn ging. Der Vater blieb auf dem Sofa, die Photographie legte ersachte neben sich. Sein müdes Auge schweifte durchs Zimmer zumFenster. Von seinem tiefgelagerten Sofa aus konnte er einen vielgezackten, wolkenlosen Ausschnitt des Himmels sehen. Er nahm nocheinmal das Bild vor. Da war seine Schwiegertochter, Menuchims Frau,da waren die Enkel, Menuchims Kinder. Betrachtete er das Mädchengenauer, glaubte er, ein Kinderbild Deborahs zu sehen. Tot war Deborah, mit fremden, jenseitigen Augen erlebte sie vielleicht das Wunder.Dankbar erinnerte sich Mendel an ihre junge Wärme, die er einst gekostet hatte, ihre roten Wangen, ihre halboffenen Augen, die im Dunkelder Liebesnächte geleuchtet hatten, schmale, lockende Lichter. ToteDeborah! Er stand auf, schob einen Sessel an das Sofa, stellte das Bildauf den Sessel und legte sich wieder hin. Während sie sich langsamschlossen, nahmen seine Augen die ganze blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen Kinder. Nebenihnen tauchten aus dem braunen Hintergrund des Porträts Jonas undMirjam auf. Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere desGlücks und der Größe der Wunder.

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