drukowana A5
20.78
Zur
Psychologie
des Individuums

Bezpłatny fragment - Zur Psychologie des Individuums

Objętość:
71 str.
Blok tekstowy:
papier offsetowy 90 g/m2
Format:
145 × 205 mm
Okładka:
miękka
Rodzaj oprawy:
blok klejony
ISBN:
978-83-288-0776-1

I.Chopin und Nietzsche

I

Wie sagt doch Zarathustra in seiner erhabenenSternenweisheit?

„Ich lehre euch den Übermenschen. DerMensch ist etwas, das überwunden werdensoll. — Was habt ihr getan, um ihn zu überwinden?

Alle Wesen bisher schufen etwas über sichhinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großenFlut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen überwinden?”

Es gibt nichts, das die Tragik des menschlichen Intellektes deutlicher offenbarte, als dieseWorte.

Kant, der Gott die Existensberechtigung entzogen, erfand einen neuen Beweis für sein Dasein, Schopenhauer, der das Phantom der Willensfreiheit weggeblasen hatte, konnte nicht mehrdie Verantwortlichkeit überwinden und schuf fürsie in seinem „intellektuellen Gewissen” eine neueStütze, und Nietzsche, der Freieste unter denFreien, er, der leichte Füße, fließenden Rhythmusund rasches Tempo lehrte, mußte sich den Übermenschen schaffen, als Beruhigung, Tröstung, eineArt Ruhekissen, auf dem er sein müdes, überhitztes Haupt niederlegen könnte.

Doch wie der Kliniker zwischen Wahn-- undZwangsvorstellungen unterscheidet und denersteren Illusionen beizählt, die als reelle Empfindungen aufgenommen, den letzteren Wahngebilde,die als solche von dem Kranken erkannt werden,so ist auch hier dieselbe Unterscheidung vorzunehmen.

Kant und Schopenhauer begingen ihre Irrtümer mit vollster Überzeugung, sie glaubtennur strenge Konsequenzen zu ziehen, ob aberNietzsche an das Phantom, das er in schwerenStunden der Verzweiflung geschaffen hatte, auchtatsächlich glaubte?

Ob er nicht dabei resigniert lächelte, und mitmilder Selbstironie sich das vorrezitierte, waser einst über Erlösungsbedürfnis und den —Katholizismus der Gefühle schrieb?

Und das eben, was mich veranlaßt, Kant,Schopenhauer und Nietzsche zu sondern, ist esauch, was den Individualismus von gestern undden von heute unterscheidet.

Das Individuum des Altertums und des Mittelalters war eine machtvolle Persönlichkeit, vollüberschäumender Kraft, die regelmäßig in Wahnsinn ausartete, voll unerschütterlichen, rücksichtslos fanatischen Glaubens, glühender Begeisterungund brutalen Orgiasmus: dieses Individuum warein Raubtier, Delirant und Gott zugleich unddiese Art von Individuen waren es, welche denWahnsinn zum Ausgangspunkte aller religiösenund staatlichen Handlungen machten, sie warenes, welche vermöge ihrer dämonischen Suggestionsmacht die gewaltigen Massenpsychosenin Szene setzten: die Kreuzzüge, die Religionskämpfe und noch zuletzt die französische Revolution.

Mania und Glaube kennzeichnen diesen Individualismus.

Der Individualismus von heute hat außerdemselben Ursprunge, dem intensen Willen zurMacht, nichts mit dem früheren gemein.

In einer Zeit, wo die Herdeninstinkte sichzu einem mächtigen Gefühl der Zusammengehörigkeit kondensiert haben, wo die Rechte einesjeden Menschen genau abgegrenzt sind, wo jedeMachtäußerung als ein Übergriff an diesemRechte empfunden und zurückgewiesen wird, woalles, das über das Niveau des Althergebrachten,Gewöhnlichen, Alltäglichen hinausreicht, als schädlich und gemeingefährlich bekämpft werden muß,ist an die Machtentfaltung der herrschsüchtigenInstinkte, an den Auslöser der tatengierigen Kräfte,an die Geltendmachung der über das Maß hinausgehenden Anlagen nicht zu denken.

Für das Individuum, das dermaßen organisiertist, gibt es in der „Gesellschaft” keinen Platz.Und weil ein solcher Mensch alles, was eram liebsten tun möchte, nicht tun darf, und daihm für seine Gedanken und Taten die Zustimmung aller fehlt, so wird er zu einer ArtTschandala und Paria: er fängt an, sich als Individuum zu betrachten. —

Was das Individuum von heute auszeichnet,das ist das Gefühl des Über-den-Menschen-seins,das Gefühl, außerhalb der Marktinteressen derMenge zu stehen, das Gefühl über alle Gefühle;seine Instinkte verkümmern, die Quelle seinerKräfte allmählich versiegen zu sehen — dieGeschichte des Individuums wird zu einer traurigen Monographie von gehemmtem Willen undirrgeleiteten Instinkten, einer Geschichte vomlangsamen Bergeinsturze, wo das Wasser, daskeinen Abfluß gefunden hat, sich in die Tiefeniederschlägt, Gesteinsmassen auflöst, zersetzt,aussaugt und den Fels in seinem innersten Gefüge lockert.

Daher die Sehnsucht nach Befreiung undErlösung, die gefährliche, flügelrauschende Sehnsucht nach dem Hinüber und Hinauf.

Doch diese Sehnsucht hat aber noch ein distinktes Merkmal: das Bewußtsein der Aussichtslosigkeit, das klare Bewußtsein, daß der ersehnteGegenstand eine Zwangvorstellung ist.

In ihr spricht sich ein Geist aus, der mitder ätzenden Säure seiner Vernunft alles zerstört, der längst aufgehört hat, an sich selbstzu glauben und sich gegen seine Arbeit mißtrauisch und ablehnend verhält, ein Geist, welchersich selbst untersucht, sich nicht mehr ernstnehmen kann und über sich selbst hinwegzulachenund auf seinem eignen Kopfe tanzen gelernt hat,der in dem höchsten Raffinement menschlicherFindigkeit unbefriedigte Geist, der endlich nachlangem Suchen zu der trostlosen Erkenntnis gekommen ist, daß doch alles umsonst gewesen,daß er über sich selbst nicht hinauskommenkann.

Daher auch die Sucht nach dem Genusse. —

Doch dieser morbiden Genußsucht fehlt dieunbefangene Freude an dem Genusse, der sichSelbstzweck ist, und der dem instinktiv empfundenen Überflusse an Kräften entströmt. DasIndividuum von heute besitzt nicht solche Instinkte und daher ersetzte es die naive Freudean der Auslösung des Kräfteüberflusses mit demVerlangen nach Betäubung. Das ganze Lebenwird zu einer reinen Betäubungsfrage.

Die Morbidezza eines solchen Genusses, derin dem Sich-betäuben-wollen gipfelt, erklärt dannauch die Art zu genießen.

In der schmerzhaften Anspannung der arbeitsunfähigen Nerven schwingt sich das Individuumdécadent bis zu jener geheimen Grenze hinauf,wo im menschlichen Leben Freude und Schmerzin einander übergehen, wo beide in ihren Extremen zu einer Art zerstörenden Lustgefühls,eines extatischen Außer-- und Über-sich-seinswerden. Alle Gedanken und Taten nehmen dieFormen des Verwüstenden, Maniakalischen anund über allem ruht schwer, bedrückend etwasvon der schwülen Athmospähre des nahendenGewitters, etwas von den schmerzhaften Vibrationen der delirierenden Wollust einer Impotenz,etwas von der hektischen Röte einer Hysterieder Sinne.

Es ist ein klinisches Bild, das ich hier entworfen habe und einem solchen muß naturgemäßdie physiologische Betrachtungsweise zu Grundeliegen.

Das Individuum ist in erster Instanz nichtsals ein automatischer Oxydationsapparat, dessenganzes intellektuelles Leben in erster Linie nureine Einrichtung bedeutet, welche die vegetativenLebensäußerungen psychisch umzuwerten und zuinterpretieren, und so den Einzelnen vor demUntergange schützt, indem sie ihm das Förderndeals Glücksgefühle, das Schädliche als Mißbehagenund Schmerz umdeutet.

Das psychische Leben aufgefaßt als vergeistigter Geschlechtstrieb, vergeistigte Magenvorgänge, vergeistigte Absonderungs-- und Oxydationsprozesse vermag uns auch etwas über die biologischeStellung und Bedeutung des Individuums zu sagen.

Ich glaube hier eine These aufstellen zukönnen, die nicht weit an der Wahrheit vorbeischießen dürfte:

Je verfeinerter die Instrumente sind, welchedie vegetativen Prozesse zum Bewußtsein bringen,je intensiver die Ausdrucksformen dieser Prozessesowohl in der Freude wie im Schmerze, destogrößere Aussichten besitzt das Individuum, sichzu erhalten, zu behaupten und so für das gedeihliche Fortkommen der Art zu sorgen.

In diesem Sinne ist das Individuum ein Art-erhaltendes, Art-förderndes Agens, nur so ist eszu verstehen, weshalb es gerade das Individuumwar, welches den gefährlichen Übergang vomTiere zum Menschen einleitete, welches die nachrückende Masse organisierte und von welchem alleGestaltungs-- und Formungsprozesse ihren Ausgang nehmen.

Das Individuum ist der ewige Zirkulationsstrom voll ernährenden Plasmas, der in demsonst bedeutungslosen Gewebe den Stoffwechsel,die Grundlage des organischen Wachstums, besorgt und es so funktionell brauchbar macht, —ein Fermenterreger, der in das indifferente Gemenge die Gährungsprozesse einleitet, der leitendeVerbindungsfaden, den man in einem Embryozwischen Nerven und Muskelzellen vermutet undan dem der Nervenfaden in einen ganz bestimmtenMuskel hineinwächst. —

Daher auch das Pathologische solcher Erscheinung, aber nur im klinischen Sinne.

Nur im klinischen, im physiologischen ist einesolche Entwicklung die denkbar natürlichste.

Das Individuum besitzt eine Nervenmasse voneiner ungeheuren Instabilität, einer enormen Zersetzbarkeit, infolgedessen auch das Maßlose derEmpfindungsqualität.

Maßlos im Schmerz und maßlos in derFreude.

Diese intense Empfindungsweise ist es, welchedas Individuum darauf anweist, allein und einsam zu sein.

Nicht das Individuum sondert sich ab, sondernes ist schon von vornherein abgesondert.

Es empfindet anders, als alle Menschen, esempfindet dort, wo andere Menschen nichts emfinden, und weil die Gehirne seiner Mitmenschenselbst nicht einmal dort in Mitschwingungengeraten, wo das Individuum sich in heftigsterVibration befindet, so ist es eben einsam undallein. —

Das Tieftragische im Individuum ist das Mißverhältnis, in welchem es zu seinen Mitmenschensteht. Aus diesem Mißverhältnis erklärt sichdann sein Menschenekel und Menschenhaß, seinMißbehagen und seine Sehnsucht, seine Selbstflucht und seine Krankheit und an diesem Mißverhältnisse geht das Individuum zu Grunde.

Das aber muß ich betonen, daß die Notwendigkeit des Unterganges einer solchen Persönlichkeit nicht in den Verhältnissen liegt, nichtim Außen begründet ist, sondern im Individuumselbst, in seiner innersten Uranlage, in seinerhohen Entwickelung.

Was diese Art der Entwickelung charakterisiert, ist die enorme Anspannung sämtlicherKräfte in jedem Momente, das ist das große Gehirn mit der Fähigkeit, das Gras wachsen zusehen, das Unhörbare zu hören, sich in jedemAugenblicke an jeder Empfindung mit seinemganzen Inhalte zu betätigen, das ist der synthetisierende Geist, der jedes Ding in seinen entlegensten Zusammenhängen, in seinen intimstenAusstrahlungen zu erfassen und es so zur höchstenPotenz zu erheben vermag, das ist der andauernde intellektuelle Erethismus mit seinen kataleptischen Zuständen, seinen Autosuggestionenund Wahnvorstellungen.

Es ist klar, daß eine solche geistige Verfassung nur unter der Voraussetzung einer enormen Empfindungsintensität möglich ist: das Fatalean jeder wachsenden und gesteigerten Kultur istdas steigende Überhandnehmen der Schmerzgefühle, die dann als organische Räsonanz, denVerfall zur Folge haben: die Kultur geht an sichselber zu Grunde; und das Fatale am Individuumist es eben, daß alle seine Gefühle mit Schmerzgefühlen innig vermengt und zersetzt sind, daßes fortwährend jenen physiologischen Rückschlägenausgesetzt ist, die ein anderer sonst nur bei demintensesten aller seiner Gefühle — dem Wollustgefühl — konstatieren kann, und die dann nurnoch der Dichter nach jedem Schöpfungsakte ansich erfährt, — wie überhaupt der Dichter in demMomente des Schaffens an diese extremste Potenzierung des Menschen, die ich hier ins Augefasse, allein heranreicht. —

Und so hat jene Auffassung des Individuumsals eines Art-erhaltenden und Art-fördernden Momentes in dem Entwicklungsleben der Menschheiteine Kehrseite: die tragische Auffassung seinerPersönlichkeit als eines Mittels.

In dem Leben des Individuums offenbart sichdas grandiose Walten der Natur, die nur dieArt im Auge behält und sich um das Individuumnicht kümmert, dasselbe Walten, welches in denAmeisen und Bienenstöcken das Weibchen kastriertund es zu einer Sklavin macht, die als Arbeiterinfür die Art sorgen muß, dasselbe Walten, welchesin den niederen Tierarten das Männchen untergehen läßt, sobald das Weibchen befruchtet undsomit für die Fortpflanzung der Art gesorgt hat,das Walten, welches das ganze Leben zu einergroßen geschlechtlichen Funktion macht, zu einemDungmaterial, auf welchem die Art gedeihlichemporschießen soll.

Das ist das große Martyrium des Individuums, daß es sein Leben für die Art opfernmuß. —

Der doppelte Charakter in der Auffassung einerindividuellen Persönlichkeit ist es, der mir beiBeurteilung der beiden ausgesprochensten Individualisten unseres Jahrhunderts, Chopin und Nietzsche, zum Ausgangspunkte dient und sie mir soinnig verwandt erscheinen läßt.

II

Chopin ist ein Kreuzungsprodukt zweier Individuen, die verschiedenen Rassen und verschiedenen Kulturen angehörten, und dies ebenwar von vornherein für sein Wesen von bestimmender Bedeutung.

Durch sein ganzes Wesen zieht sich einescharfe Linie, welche die Aneinanderlagerungder Merkmale beider Rassen bezeichnet, ohnedaß es jemals zu ihrer gegenseitigen Durchdringung oder Auflösung zu etwas Ganzem gekommen wäre.

Das spezifisch-slawische in ihm, die subtileFeinheit des Gefühls, die leichte Erregbarkeitund die Fähigkeit, ohne irgend welche Vermittlung von einem Extrem ins andere überzuspringen,das Leidenschaftliche und Sinnliche, die Neigungzur Prunk-- und Verschwendungssucht, und vorallem der eigenartige, melancholische Lyrismus,der nichts weiter ist, als der sublimiertesteEgoismus, der alles auf sich bezieht und seineeignen Ich-Zustände als den einzigen und höchsten Maßstab hinstellt, die dunkle Melancholie endloser Ebenen mit ihren sandigen, wüsten Streckenmit dem bleiernen Himmel darüber, trat in grellenWiderspruch zu der gelenken, leichtsinnigen Beweglichkeit des Galliers, seinem koketten Femininismus, seiner Lebenslust und Lichtfreude.

In diesem Zwiespalt lag schon der Keim, dernach und nach zu einem ausgedehnten Degenerationsherd wurde, von dem aus aufsteigenddie Degeneration das eigentlich Zentrale in ihm,seine eigenste Uranlage, die starke Intensitätdes gesunden Empfindens, in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Die Musik Chopins aus seinen letzten Jahrenzeigt ein ausgesprochenes Merkmal der Schreckbildpsychose. —

Schon frühe, begünstigt durch das Milieu, indem er aufgewachsen war, kam es zu der einseitigen Ausbildung der lyrischen Grundstimmungseines Wesens.

Die unbegrenzten, ermüdenden Formen derLandschaft, auf der leicht erregbare, zum Träumenveranlagte Menschen hinvegetieren, ihre Musik,die sich nur in wenigen Molltönen bewegt, undin deren Monotonie sich die Landschaft widerspiegelt, die düstere Pracht der Mondscheinnächte,welche den Landflächen den Charakter des Exotischen, ja beinahe Gespenstischen aufdrückt, allesdies wurde in dem Gehirne des Knaben, bei demden Kindern eigenen Drange nach Personifikationund Symbolisierung verinhaltlicht. Um jede dieserso gewonnenen Formen gruppierten sich ganzeMassen von Stimmungen, Gefühlen, Willensäußerungen, die alsdann als ureigenster Bestandteil der Seele eine wichtige Formation derselbenbilden, den Sedimentgesteinen vergleichbar, diein der paläozoischen Bildungsperiode der Erdesich aus dem Urmeere ablagerten und sich zurersten bleibenden Schicht kondensiert hatten.

Diese melancholischen Eindrücke scheinenbei Chopin den barozentrischen Kernpunkt gebildet zu haben, um den alle später hinzukommenden zu oszillieren anfingen, sie sind es, die indie Seele eines jeden Menschen tief einschneiden,allen Empfindungen eine ganz spezifische Bedeutung und Farbe beilegen, sie in bestimmtenRichtungen anordnen, gleichwie durch die magnetische Influenz die durcheinander gelagerten Eisenmoleküle geordnet und nach zwei Polen dirigiertwerden.

Seine schwache Konstituation und alle dieKrankheitskeime, die allmählich seinen Körperzerstörten, bilden vielleicht das stärkste dynamische Agens in dem Aufbau seines Wesens.All die kleinen und kleinsten Empfindungen desphysischen Unbehagens setzten sich in seinemGehirne, von dem Bewußtsein falsch interpretiert,in Gefühlswerte um, unlokalisierbare Gemeingefühle der Müdigkeit, Abspannung, träumerischenHindüsterns und weicher Schwärmerei.

Diese minimalen Reize, die zu gering waren,um einen wohl differenzierten physischen Schmerzhervorzurufen, haben doch nach und nach jenefatale Spannung seines Gehirns erzeugt, derjenigeneiner Gasmasse ähnlich, die auch nur aus denzahllosen minimalen Anstößen der hin-- und herfliegenden Molekeln sich summiert, um allmählich zur höchsten kinetischen Energie anzuwachsen.

Die ungesunde Kultur, mit der alle Verhältnisse, in denen er lebte, durchtränkt und durchsättigt waren, die landschaftliche Umgebung undseine frühesten Eindrücke, Vererbung und Krankheitskeime haben in ihm allmählich jene Sehnsucht gezeitigt, die sich wie ein Niederschlag inseinem Gehirne festsetzte, durch den jedes Gefühlerst hindurchfiltriert werden mußte und von demes einen eigenen Ton, einen eigentümlichen Beigeschmack erhielt. Bei der ihm eigenen Leidenschaftlichkeit bildete diese Sehnsucht gleichsamein Meer von strahlender Wärme, die alles in ihmzersetzte und auflöste, einen Herd vom verzehrendenSaugstoff, der alles absorbierte: in seiner Seelewurde alles zur Sehnsucht.

Doch diese Sehnsucht Chopins hat nichts gemein mit der, die gesunden Naturen das Herzschwellt und lebensfähige Keime in dem trächtigen Mutterschoß trägt, es ist auch nicht dieSehnsucht des Zarathustra, die in sonnetrunkenerEntzückung unbekannten Göttern ihr extatisches Rausch-Evoë zujauchzt — sie ist ganz eigenerArt. Sie hat die kranke Farbe der Anämie mitder transparenten Haut, durch die man das feinsteGeäder hindurchschimmern sieht, die schlankeGestalt mit den länglichen Gliedern, die in jederBewegung die unnachahmliche Grazie degenerierter Adelsgeschlechter atmen und in den Augendie übergroße Intelligenz, wie man sie bei Kindernsieht, denen der Volksmund kein langes Lebenverspricht.

Sie ist die zitternde Nervosität der Überfeinen,eine beständige, schmerzhafte Erregbarkeit bloßgelegter Wunden, ewiges Anschwemmen und Zurückfluten einer krankhaften Sensibilität, ein stetesUnbefriedigtsein des Raffinement, die Müdigkeitder Überempfindlichen, in deren Auge das Sonnenlicht nur prismatisch gebrochen und die starkensatten Farben erst gleichmäßig abgetönt hineingelangen können.

Sie ist aber auch wilde Leidenschaft, sie istKrampf und Agonie der Todesangst, Selbstfluchtund Zerfallsdrang, Delirium und idiotisches Hinträumen, wo man vor sich hinstarrt, ohne irgendetwas zu sehen. Wohl werden Lichteindrückeempfangen, aber man erkennt sie nicht als vonaußen kommend, man muß sich erst besinnen, washeute, was gestern ist.

Die Krankheit Chopins hat sich in seiner Musikumgesetzt in eine grenzenlose Müdigkeit. Es ist dieMüdigkeit der Schwindsucht mit ewig wechselndenStimmungen, die wie stille Herbstwinde über nackteöde Felder streichen, dürres Laub vor sich fegenund die Natur mit düsteren, monotonen Mollakkorden zu Grabe tragen. Es ist die Müdigkeit des lustsatten Wehs mit dem feinen trüben Lächelnum die Mundwinkeln, der trostlos öden Langeweilesonnverbrannter Grassteppen, dem leisen Hin-- undHerwogen endloser Meere, die sinnende, brütendeIdiotie des Gebetes. —

Es gibt dann in der Musik Chopins eine Stimmungvon geradezu überwältigender Wirkung. —

Es ist ein „je ne sais quoi” vom Gefühl, dasdem einer Befreiung ähnlich ist, einem tiefen Aufatmen nach der Dyspnoe, es ist als ob sich einefeine, spinngewebige Haut von der Seele loslöste,es ist als ob ein feiner Nebel am herbstlichenMorgen von den Feldern zurückwiche, sich langsam hebe, weißen Gaswolken vergleichbar, undüber die aufwachende, dampfende, weißglitzerndeLandschaft langsam die Sonne mit ihrer kalten,skeptischen Klarheit aufginge.

Das sind die gröbsten, psychologischen Umrisse seiner Musik und nur in einer solchen konntedie ungeheure Reichhaltigkeit der menschlichenEmpfindung, die zartesten Feinheiten, die ewigwechselnden Nuancen der Stimmungen, das Unausdrückbare, Rätselhafte, Flüchtige und Gespenstische im Menschen geoffenbart werden.

III

Ausgerüstet mit Nerven, deren „Anspruchsfähigkeit” so übermäßig gesteigert war, daß aufden geringsten Reiz vulkanische Explosionen erfolgten, mit den krankhaft gesteigerten Sinnen,den allerfeinsten Fühlhörnern vergleichbar, dieselbst dort zum Vorschein kommen, wo die menschlichen Werkzeuge schon längst ihren Dienst versagten, wußte er jedes Gefühl, das sich kaumüber die Schwelle des Bewußten hinaufgewagt,in seinen Tönen fest zu magnetisieren. —

Jede Stimmung, deren man sich sonst nichtbewußt wird, rief in seinem Gehirne auf rätselhaftem Wege eine zugehörige Klangfarbe hervor,jedes seelische Ereignis, mochte es noch so zartund flüchtig sein, prägte sich sofort in entsprechenden Tonwert um. Und es scheint, als ob dasGesetz von der spezifischen Energie der Sinnesorgane für ihn keine Geltung hätte, als ob es indiesem ewig fiebernden Gehirne irgend einen Punktgäbe, in dem alle Empfindungen zusammenliefen,irgend eine Verbindung der Sinnesorgane untereinander derart, daß eine Licht-- oder Geschmacksempfindung ohne weiteres auf die Gehörnervenüberginge. —

Und vermöge dieser Eigenschaft bedeutetChopin eine känogenetische Entwicklungsstufe parpréférence, neu auftauchende Züge in der geistigenPhysiognomie des Menschen, neue Leitungsbahnen,die im Menschengehirne erschlossen wurden, eineenorme Bereicherung des Gemütslebens: an Chopinkann man studieren, um wie viel der moderneMensch an neuem Empfindungsleben seinem Vorgänger, wie er sich in der klassischen Musikoffenbart, überlegen ist.

Hier zum ersten Male hat der arriére-fondder Seele Ausdruck gefunden, ein bisher unbekanntes Leben, von dem das Bewußte der verschwindend kleine Teil ist, ein direkt zweitesLeben, das sich nur reflexiv äußert, worin wiraber den Grund und die Ursache aller unsererLebensäußerungen zu suchen haben, — das istder hypothetische Erdmagnetismus, der die Ablenkungen der Magnetnadel erklärt, der Weltäther,der uns die Schwingungen der Atome begreiflichmacht, die elektromotorische Kraft, die das Überspringen der Elektrizität vom positiven zum negativen Potential unserem Verständnisse näher rückt.

Doch Chopin reflektiert nicht, er hat dieseArbeit seinem großen Nachfolger — Nietzsche —überlassen, er selbs tschildert nur, lebt nach,läßt fremde Nervenströme durch sein Gehirnpassieren.

Und dies gerade, daß er selbst der Mannbeständiger Erschütterungen, brodelnder Gährungen, fiebernder Delirien, extatischer Verzückungund irrsinnigen Trübsinnes ist, hat ihn zum bedeutendsten Psychologen der hysterischen Seele, derSpasmen kranker Nerven, der irritierenden Qualen,der unlokalisierbaren Schmerzen, der zitterndenUnruhe gemacht. —

Es gibt eine Stelle in seinen Werken, die diebeste Illustration zu meinen Worten bildet.

Ich meine das Ende des Sostenuto-Teiles imH-moll-Scherzo: In der brütenden, so endlosschmerzlichen Monotonie plötzlich ein schrillerAkkord von grandioser Wirkung.

Dieses unmittelbare Aufkreischen mitten indem dumpfen Hinträumen in einen schweren,traumlosen Schlaf hinein, dieser physisch-brutaleAufschrei in der Agonie des Schmerzes, diesesheisere, gelle Auflachen mitten in dem düsterenErnst einer nächtlichen Herbstlandschaft, gibtuns bessere Auskunft über die Nachtseiten desmenschlichen Empfindungslebens, als alle psychologischen Klügeleien insgesamt.

Was wissen wir von der ewig unheilbrütendenMacht, von dem Dämon in uns, dem mittelalterlichen Fürst der Finsternis vergleichbar, der inder ewigen Nacht unseres Daseins lebt, in dessenHänden wir willenlose somnambule Medien sind?

Wir sehen, wie vor unseren Augen grinsendeGespenster aufsteigen, wir fühlen plötzlich einenBiß im Inneren, so schmerzhaft und so brennend,daß sich unser ganzes Wesen in Todesangst aufbäumt — wissen wir woher das alles kommt,weiß ein Lustmörder, weshalb ihn das frischeMädchenfleisch zum Morde berauscht, weiß einIrrsinniger, weshalb er rast?

Horla! Horla!

Horla, der Edgar Poe am Alkohol, Baudelaiream Haschisch, Maupassant an Äther zu Grundegehen läßt und Horla im Chopin hat dies Scherzogeschrieben!

Hier tritt uns das Problem des Menschen entgegen mit seinen Untiefen, dem unterirdischenBrausen, dem dumpfen Prasseln eines unsichtbaren Brandes — das gewaltige Problem, denkeine Hypothesen von den doppelt-elektrischenMolekülen, keine Theorien von Atomen mitelektrolytischen Eigenschaften erklären werden,und l’homme machine, wie sich ihn die flachenanglisierenden Philosophen konstruiert haben, wirdimmer mehr zu einem Rätsel, weit tiefer aufgefaßt, wie man es im unwissendsten Mittelalterauffaßte.

IV

An Chopin wurde mir zuerst das Wesen derMusik klar. —

Der schematisierende Philosophengeist, derschön geordnete Vermögen und Fakultäten besitzt, sucht für die Musik einen getrennten Ursprung, er will sie aus der Nachahmung vonNatur — und Tierlauten entstanden wissen, nachdem lieblichen ABC der Bau-Wau-Theorie.

Hat man aber erst einen tieferen Einblick inden Menschen, und somit auch die Überzeugunggewonnen, daß unser Blick kaum die Oberflächeam Menschen streife, daß der Kahn unserer Erkenntnis auf dem glatten Eise der Bewustseinsphänomene gleite, nicht ahnend, daß darunterabgründliche Meere in majestätischer Prachtruhen, dann begnügt man sich nicht mit diesenflachen Theorien.

Dort unten ist der gemeinsame Allmutterschoß, in dem alle Fakultäten in einem Keimebeisammen ruhen, in einander verfädelt und verwachsen. —

Und sieht man einen Menschen an in seinerewigen, rastlosen Beweglichkeit, denkt man sichhinein in das abwechselnde Erstarren und Aufschmelzen seiner Gesichtslinien, in die spielendenSchatten und Lichter, die beständig hin-- undherhuschen, ohne daß der Mensch irgend etwasvon diesem Spiele, das seine Nerven mit unsichtbarer Hand in Szene setzen, wüßte, da wird derGedanke eines gleichen Ursprunges auch für dieMusik nahegelegt, als eines geheimnisvollenKorrelats der beständigen Ebbe und Flut inunseren Nerven, als einer äquivalenten notwendigen Reflexwirkung des letzteren, einesmotorischen Ausschlages ohne Begleitung irgendeines psychischen Parallelprozesses.

Der „Gefühlston”, unter welchem ein jederEindruck, mag er noch so klein sein, sich demGehirn darbietet, scheint zu einer motorischenEnergie zu werden und im Kehlkopfe die Stimmbänder in Schwingungen zu versetzen, die alsdannim Gehörorgane zu Tonwerten umgeprägt werden.Ob dies auch dem tatsächlichen Verhalten entspricht, mag dahingestellt sein, ich will mich nurverständlich machen.

Übrigens wird wohl etwas Wahres daransein. —

Es gibt einen experimentellen Weg, der dasEssentielle meiner Ausführungen bestätigt.

Überläßt man sich dem Einflusse der Musik— ich kann es immer konstatieren, wenn ichChopin höre — dann fühlt man, wie sich eineganze Schar von Gefühlen hinaufdrängt, die manfrüher nicht bemerkt hatte. Man merkt, wieüber die vom Lichte des Bewußten übergossenenGegenstände flüchtige Schatten hinüberfliegen —wie das Bewußte intermittierend auf Augenblickeverdunkelt wird durch vage Erinnerungen, leiseUnruhe, eine Art von Erzittern, als ob in derFerne schwere Wagen rollten und den Erdbodenerschütterten — man fühlt ganz deutlich, wieein Ton nach dem andern ganze Ketten unfixierbarer Stimmungen aus der Tiefe hervorschleppt,wie sich diese Töne dann um einen Punkt kondensieren und plötzlich taucht irgend ein Erlebnisauf, das wie die neugeborene Sonne auszustrahlenbeginnt und mit seiner Wärme in die tiefsten,entlegensten Winkeln unserer Seele hineingelangt. —

Was geschah?

Die Töne haben ihre korrelativen Gefühlewachgerufen, ganz unscheinbare vage Stimmungen,die als Begleiterscheinungen irgend eines Erlebnisses seiner Zeit aufgetreten, aber nicht empfunden wurden. Jetzt erst traten sie in Aktivität und nur auf diesem Wege gelangen wir zuden entferntesten geistigen Irradiationen, die sichauf dem Boden des geistigen Daseins festsetzenund ihn mit dünner Kruste überziehen.

Und gerade für diese sekundären Gefühle,für alles das, was sich aus jener Tiefe des Unbewußten hinaufarbeitet, was dunkel und verschwommen nach der Sonne hinaufstrebt, füralles Unsagbare, Zerrinnende, Beängstigende undAufjauchzende, wofür wir keinen Grund anzugeben wüßten, wofür die Sprache keine Lautehat, wofür die scharfsinnigste Erklärung nur einegeschickte Taschenspielervolte ist, haben wir inTönen Ausdruck.

Und wie Musik, als Stimmung, die sie ihremWesen nach nur allein bedeuten kann, dort aufhört, wo die Erkenntnis ansetzt, und wie sie sichbeide in die Hände arbeiten, und wie der Tonsich in die Tiefe aus demselben Keim entwickelt,aus welchem das Wort sich mühsam in die Höhehinaufarbeitet, unwissend, ob es der Lüge oderder Wahrheit zustrebt, so hat Chopin, der feinstePsychologe des Unbewußten, auch seine Ergänzunggefunden, so innig mit ihm verwandt und tausendfältig mit ihm verhäkelt und verfädelt, wie esnur eben Ton und Wort miteinander sind.

Dieses Korrelat von Chopin, seine Fortentwicklung auf gemeinsamen Boden und unter denselben kulturellen Bedingungen, vielleicht nurseine Kehrseite ist Friedrich Nietzsche.

V

Zwischen Chopin und Nietzsche bestand eineArt Sternenfreundschaft zweier Kometen, vondenen es in der „Morgenröte” geschrieben steht,daß ihre Bahnen sich einmal in der Unendlichkeitgekreuzt haben müssen; dann sind sie sich wiederfremd geworden, um nach unabsehbaren Zeitensich wieder einmal zu nähern. —

Wo Chopin aufhört, setzt Nietzsche an. Jenerbannte die feinste Regung in seinem Inneren fest,mit den Polypenarmen seines Gehörs erhaschteer die flüchtigste Stimmung und mit der naivenUnbefangenheit des aristokratischen Von-Ohngefährs in seinem Wesen, gab er uns Kunde vonder geheimen Arbeit in den tiefsten Seelenschichten.

Wie nun gerade diese im Dunklen des Unbewußten vegetierende Niederschlagsflora für dieHandlungsweise des Menschen von ausschlaggebender Bedeutung sei, wie sich gerade aus denunverstandenen, unbewußten Irradiationen einesphysischen Vorganges die Willensakte aufbauenund längst fertig vorliegen, bevor man noch mitdem Abwägen zum Abschlusse gekommen ist,wie vor jeder Urteilsfähigkeit das physiologischePostulat existiert, das uns alle unsere Handlungenausführen läßt, ohne daß wir nach unserenWünschen gefragt würden, wie alle seelischenKomplikationen aus untereinander gleichartigenElementen bestehen und ihre scheinbare Verschiedenheit, ihre erstaunliche Mannigfaltigkeitnur der Ausdruck tausendfältiger Modifikationeneines und desselben Elementes ist, wie Wahrnehmung, Gefühl, Wille eine untrennbare Einheit,die psychische Funktion des minimalsten Bewegungsmomentes eines Nervenmolekels darstellen, wie überhaupt alle psychischen Zustände,die in ihrer Getrenntheit als etwas Einfaches,schlechthin Gegebenes, An-sich-Verständliches,als Ursachen und Kräfte aufgefaßt werden, nurfalsche Interpretationen und Aggregatzuständephysischer Vorgänge seien, alles das hat erstNietzsche nachgewiesen und zugleich das großeMißtrauen gegen alles Bewußte gelehrt.

Das Bewußte am Menschen — im SinneNietzsches — ist wie die dünne Erdkruste, derenZusammensetzung uns keinerlei Aufschlüsse überdie Beschaffenheit des glühend flüssigen Erdinhaltes, aus dem sie sich durch Erstarrung gebildet hat, geben kann, es ist ein ewiger Clownstreich der interpretierenden Vernunft, um denMenschen zu betören und ihn irre zu leiten. Derfühlende, hoffende, wollende Mensch kam ihm wieein Tier vor, das der Gott, wenn er bei Launeist, kitzelt und stichelt, um sich an seinen Grimassen und dem grandiosen Gebahren desselbenzu belustigen. —

Und nur durch diese falschen Interpretationen,durch diese eigentümlichen Aggegratzuständeirgend etwas Unbekannten, durch dieses voreiligeZugreifen nach dem, was da ist, ohne sich nachseinem Ursprünge und Herkommen zu fragen,erklärte er sich den Glauben an die Seele alsein etwas, das in dem Menschen sitzt, das denkt,fühlt und will, dem ein ausgedehntes, obwohlnicht materielles, ein einfaches, absolutes Seinzukommt, das den Leib beherrscht und dieseHülle von sich ohne weiteres wegschütteln kann.— So erklärten sich ihm die antropomorphenVorstellungen vom Wollen, als einer persönlichwirkenden Kraft, der Grundglaube an den freienWillen, als etwas schlechthin Undiskutierbares,außer allem Zweifel Stehendes, als die Grundtatsache des menschlichen Lebens — und so erklärten sich ihm die Konsequenzen dieses Glaubens,die Verantwortlichkeit, die Schuld, die lohnendeund strafende Gerechtigkeit, die Grundwerteunseres moralischen Schätzens: das Gut undBöse. —

Es gibt aber keinen freien Willen, folglichgibt es keine Verantwortlichkeit, unsere Willensakte werden gewollt, aber nicht von uns, sondernvon unserer Physis, über die wir keine Machthaben. Es gibt aber auch kein Gut und Böse,denn mit diesen Prädikaten belegen wir im letzteren Grunde nur die Natur, die im Menschen waltet,und diese zu loben oder zu verdächtigen istUnsinn, ein Stück posthumer Vergangenheit, einAtavismus rohester Art.

Folglich ist unsere Moral im Sinne des Verbindlichen und Absoluten auch nur ein Produktdes barbarischen, kindischen Denkens. —

Um die moralischen Phänomene zu erklären,bedarf es eines anderen Weges.

Das ist der kritisch-philosophische Teil derArbeit Nietzsches in den gröbsten Umrissen, dieÜbersetzung Chopinscher Musik in die philosophische Sprache, Analyse und Deduktion ausdem Material, das Chopin geliefert hat.

VI

Nietzsche war einer der seltenen Typen, die,gleich den Schütterlinien, — welche beim Erdbeben aufgerissen werden und die Stellen bezeichnen, wo die Erde einen Versuch gemachthatte, sich neu umzugestalten — das Trachtender Natur kundgaben, den Menschen, über sichselbst hinaus zu schaffen und dieselbe Differenzierungsarbeit, die bis jetzt das ursprünglicheProtoplasmaklümpchen in einzelne Organe gesondert hatte, nunmehr weiter auszudehnen: dieMenschen zu individualisierten Funktionen zumachen, gerade so wie sie in den Hymnopteren-- und Thermitenstöcken den Polymorphismus zwischenZeugenden, Gebärenden, Pflegern, Arbeitern, Beschützern zu Stande gebracht hatte.

Nietzsches Leben hatte sich in seinen Gedanken abgespielt, er hatte keine weiteren Erlebnisse, als nur neue Gedankenperspektiven,neue seelische Evolutionen, und in seiner Konstitution war er lauter Gehirn, ganzes Gehirnmit seinem Doppelbilde, der übermäßigen Intelligenz, und dem aufs äußerste gesteigerten affektiven Leben.

Nietzsche war ein reiner Intelligenz-- undGehirnmensch ganz genau in demselben Sinne,wie es bei einer Gattung der Hydromedusen,den Siphonophoren, Magentiere, Genitaltiere undAtmungstiere gibt.

Und darin eben, daß er die höchste Entwicklung und somit Übergang war, daß er mit dereinen Hälfte seines Seins in eine neue Periodehinübergriff, daß das ganze Gleichgewicht seinerorganischen Fortbildung sich nach dem Gehirnverrückte, daß er fortwährend an sich zum „Verbrecher” werden mußte, daß er ewiges Zerstörenund Neu-Schaffen, ewiges Werden und Geschehen,stete Ebbe und Flut war, lag sein Untergang.Es war in ihm etwas von den Fieberzuständen,welche die Ausstoßung verbrauchter und verfaulender Gewebe begleiten, etwas von demSeelenasthma, da die Lebensbedingungen, unterdenen er lebte, nicht für ihn geschaffen waren,etwas von der nervösen Sensibilität und der allgemeinen übermäßigen Verfeinerung der Zwischen-- und Übergangsarten.

In seiner ganzen Entwicklung sah man dasgroße, geheimnisvolle Naturgesetz walten, wonach diese vermittelnden „Brücken” zu Grundegehen müssen, gleich als ob sich die Natur ihrerWerdeprozesse schämte und deshalb alles Werdensich hinter den Kulissen abspielen läßt. —

Doch das eben, was sein Untergang war,machte auch zugleich seine Stärke, seine Machtaus. Er besaß jenen Scharfblick der Degenerierten mit der verletzenden Intensität einerWintersonne, die sich mit ihrem Lichte überSchneefelder ergießt und jedes Schneekristallchendeutlich zu erkennen gibt — ein Auge, das einemProjektionsapparate gleich, das Gesehene, tausendfältig vergrößert, ins Gehirn projizierte, um jedesDing in seiner intimsten Struktur in seiner kompliziertesten Verfassung betrachten zu können. —Aus seinen Sinnen konstruierte er sich Tastorgane, um dem Auge nachzuhelfen und dem Flächenbilde desselben seine stereometrischen Dimensionen zu geben. Sein Gehirn glich einerelektrischen Influenzmaschine, die sich von selbstimmer von neuem ladet, oder einem Blutgefäß,das stets in Funktion bleibt, indem es sich fortwährend mit eigenen Gefäßen speist, und sokonnte es nie zur Ruhe kommen, fortwährendstreckte es seine Fühlhörner nach allen Seitenaus und während eines derselben sich mit einemProblem beschäftigte, eröffneten ihm die anderenneue Perspektiven, versetzten ihn in Fühlungmit den entlegensten Dingen, die bei der Beurteilung eines Gegenstandes ihm die Genesedesselben vor die Augen zauberten und ihm dieMöglichkeit boten, jedes Problem in seiner umfassendsten Totalität zu erfassen.

Und wie man auf einem Seismometer das geringste, sonst nicht bemerkbare Erdbeben wahrnehmen kann, wie man dann aus den Kurven,die derselbe über einer gemeinsamen Abszisseaufschreibt durch das Auftragen von Ordinatendie Mittelstärke des Bebens berechnen kann, sobesaß er in seinem überaus verfeinerten Gemütsleben, das ihm jedes fremde Erlebnis nachzuempfinden und tatsächlich nachzuleben gestattete,in der wechselnden Intensität seiner Reaktionsweise, mit der er die Handlungen und Gefühleseiner Mitmenschen aufnahm, ein ebenso empfindliches Instrument.

Vermöge dieser Eigenschaft konnte er an sichselber die weitgehendsten Experimente vornehmen,und so wie es war, trug sein Gehirn das große,aristokratische Abzeichen, das einer großen Vergangenheit und Tradition, Auslese und Verfeinerung, Tiefe und Verschämtheit, es war wieein Uhrwerk, das Jahrhunderte abgelaufen hat,ein Brennspiegel, der die Strahlen aus demganzen Weltall in einem Punkte konzentriert.Sein geistiges Leben glich einer ideellen Allgemeinexistenz, wo sich alle geistigen Strömungen,alle Kämpfe und Siege des Wissens wiederfanden,einem Resonanzboden, in dem jeder Ton verstärktnachklingt, und von dem er Frische, Lebendigkeit und Farbe empfängt. In allem Menschlichenhat er sich ein Meer geschaffen mit endlosenAus-- und Fernblicken voll gefährlichster Untiefenund verderbenlauernden Sandbänken, ein Weibverführerischster Art, das ihn in seine Schlichelockte und mit leichtem Fuße davonsprang, sobald er seiner habhaft werden wollte. Doch erkannte die Gefahren des Meeres und die Schlichedes Weibes, er kannte die rastlosen Verwandlungen und Verkleidungen und die Unzuverlässigkeit beider. Und wie er das letztere mit derPeitsche zu bezwingen lehrte, unterwarf er sichdas Meer mit seinen möwenumrauschten Segeln.— Seine Betrachtungsweise des Menschen wareine embryologisch-evolutionistische. Nach denselben Prinzipien, nach denen der Embryologedie Lebewesen ihren fortschreitenden Entwickelungsstufen nach unterscheidet, klassifizierte aucher die Menschen. Er suchte und fand Menschen,für deren geistige Entwicklung er das SymbolMorula setzen konnte, andere, die ihm die Blastula der Entwicklung aufwiesen, wieder andere,die er nur als in der Entwicklung zurückgebliebene Gasträen betrachten konnte. Bei dieserUnterscheidungsart lernte er das Palingenetischeam Menschen kennen, atavistische Rückfälle undrudimentäre Überbleibsel, aber er sah auch, wieder Mensch sich über diese Formen hinausentwickelte, mit Eifer und Liebe studierte er dieseneu auftauchenden Züge, und gerade in dieserEntwicklungsfähigkeit sah er den Sauerteig derGeschlechter, den Gährungserreger einer zukünftigen Wiedergeburt, das hochzeitliche Unterpfand einer Hinaufpflanzung.

Doch in dem Menschen, wie er jetzt ist, istdie Entwicklung noch nicht über das Tier hinausgekommen. Überall sah er das Tier im Menschenin den mannigfachsten Verkleidungen und Modifikationen, in den verschiedensten Dressurformenvon einfacher Zähmung eines Haustieres bis zumZirkuselefanten hinauf. —

Und wie der Psychiater die Einheit des Bewußtseins in sogenannten pathologischen Zuständenzerfallen, mehrere Bewußtseinsakte zugleich sichabwickeln, mehrere Gedächtnisreihen sich gleichzeitig abspielen und in einer Person das Bewußtsein mehrerer Persönlichkeiten vereinigt sieht,und somit die Einheit der Persönlichkeit als etwasZufälliges, und im Gegensatze dazu die Unabhängigkeit der Ganglien, deren jede gleichsamim latenten Zustande ein volldifferenziertes Lebenbesitzt, als das Konstante und Maßgebende ansieht, so gelangte auch Nietzsche auf Grund seinerBeobachtungen zu der Annahme solcher autonomerGanglienseelen im Menschen. Der AusdruckSeele ist für ihn ein Kollektivbegriff für die Seelenaller der Tiere, die er nach einander war, bevorer zum Menschen wurde, der Mensch vereinigtdas Reptil und das Raubtier und den Wiederkäuer in sich. Und alle diese Tierseelen bekämpfenund paralysieren sich gegenseitig; es gibt aber einStreben, in dem sich alle einig sind, ein großesbiogenetisches Gesetz, dem sie alle gehorchenund das ist der Wille zur Macht. —

So fand Nietzsche die lang gesuchte Dominante des menschlichen Lebens, den zeugenden,formgebenden, gestaltenden Keimfleck, der mitseinen feinen und feinsten Fortsätzen das ganzeLeben umspinnt, wie er in einem Vogelei dasganze Ernährungsplasma durchzieht, den Kohlenstoff, der allen organischen Verbindungen zuGrunde liegt, den mythologischen Ozean, deralles Leben in breiten Wogen umspült, es mitseinen silbern glitzernden Adern durchsetzt, verteilt und ihm ein bestimmtes Gepräge verleiht. —

Hier hat Nietzsche das Archimedische δος μοι που στω gewonnen, von dem er die ganzebestehende Moral, als Wissenschaft, aus denAngeln gehoben hat; seit Nietzsche trat dasProblem Moral in ein neues Stadium: es wurdezu einer Magen--, Geschlechts-- und Machtfrage. —

VII

Der Nietzsche, den wir bis jetzt betrachtethaben, das ist der Schöpfer der Molekularpsychologie, wenn ich mich so ausdrücken dürfte, dasist der Mann der erstaunlichsten Denkenergie,der die Moral zum Machtproblem gemacht hatte,aber es gibt auch einen Nietzsche, der Schopenhauer und Wagner zu Erziehern, eine langeReihe psychopathisch veranlagter Pastoren zuVorfahren hatte und dessen Umgebung seit seinerfrühesten Jugend aus Frauen bestand: dieserNietzsche ist nichts als ein Stück fortwährenderReaktion, ein Stück schmerzhafter Raserei gegenseine Vergangenheit, es ist an ihm etwas vondem beißenden Hohn und der grausamen Rücksichtslosigkeit eines Hahnrei, der endlich gemerkthatte, wie lange er hintergangen und betrogenwurde, etwas, das an die Wut eines Stieres gegendas rote Tuch erinnert.

Sein ganzes Leben war ein Befreiungskampf.Fortwährend war er bestrebt, das Unkrautpolitischer, religiöser und philosophischer Mythologien auszujäten, das Ekzem der Herdenmoral,das seine geistige Haut verunreinigte, wegzusengen; mit Hilfe naturwissenschaftlicher Lehrenhatte er sein Denken geklärt und gesäubert, inseinem Gehirne hatte er eine Unmasse von Zweigbatterien ausgeschaltet und die Ströme seinesDenkens auf neue Leitungsbahnen gelenkt.

Doch trotz all’ der großen Arbeit, die er fürseine Neubildung verwandte, trotz der Mühe,das Vererbte, Anerzogene, den Pastor und dasWeib aus seiner Seele wegzuwischen, unterlager dem großen Gesetze, das man das Gedächtnis der Materie nennen könnte.

Inmitten alles Neuschaffens und Neugestaltensverblieb den Molekeln seiner Nerven das Bestreben, sich in bestimmten, so oft wiederholtenLageverhältnissen zu ordnen, um einen bestimmtenbarozentrischen Kernpunkt zu oszillieren: Nebenden neuen Leitungsbahnen blieb ein unsichtbarerKräfteherd, der die ausgeschalteten Batterienimmer von neuem mit Nahrung speiste und inTätigkeit erhielt. —

Er lernte die Wirklichkeit schätzen, auf Lügenzu straucheln, um nur ein Körnchen Wahrheitsgold zu erwischen, aber die Sehnsucht blieb; erhat sein Denken von religiösen Begriffen undmoralischen Wertbestimmungen befreit und dochvermochte er nicht die Dinge rein anzusehen,immer und wieder brachte er in sie menschlicheBeziehungen hinein und die religiöse Stimmungverblieb. Und wenn auch die Religion und dieMoral ihre richtungbestimmende und ausschlaggebende Kraft verloren, so blieb das schlechteGewissen. —

Das ist das große Bestimmungsgesetz, wonach die Zellen seines geistigen Lebens zu ganzbestimmten Organen sich zusammentaten, das wardie spezifische Energie seines Denkorgans, jenervergleichbar, mit welcher das Auge ausgerüstetist, und wonach jede Empfindung auf dasselbeimmer nur einen Lichteindruck hervorbringt.

Nietzsche war wie ein Roß edelster Rasse,das aber schlecht eingeritten, wie ein feines Blasinstrument, das schlecht eingeblasen wurde undwo bei noch so großer Anstrengung sich immerdieselben molekularen Verhältnisse reproduzieren,die beim falschen Blasen hervorgerufen wurden.Aus dieser psychologischen Betrachtungsweiseerklärt sich eine gehässige Verachtung allesdessen, was er früher angebetet und verehrthatte, die Qual, seine Nabelschnur von sich nichtlostrennen zu können, seine krankhafte wildeSehnsucht nach Kraft, Stolz, Herrlichkeit undMacht, seine Sympathie mit allem Geschmäheten,Geächteten, in der Finsternis Lebenden.

Herdeninstinkte, grünes Weide-Glück, Schmutzund erbärmliches Behagen, das war alles, waser an dem Menschen von heute sah — und daßdas Größte gar so klein, das Feinste nicht feingenug war, um sich seiner zu schämen, und daßdas Erhabenste nicht unbefangen genug war,daß es sich seiner nicht bewußt wäre, und daßdas Herrliche, das Stolze und Herrische amMenschen mit schlechtem Gewissen im Schattender Verlogenheit einherschleiche, das brach ihmdas Herz.

Voll Ekel und Verachtung wandte er sichab, und damals war es, wo er einen Blick indas Land seiner Kinder tat, und damals war esauch, wo er den Übermenschen vom Wege auflas. Und diesen Übermenschen, den er lehrte,hatte er mit der ganzen grandiosen Verschwendungseines überreichen Geistes ausgestattet, ihn mitden glänzendsten, sattesten, prächtigsten Farbenausgemalt, und ihn in ein Meer von Helligkeitund Freude getaucht, auf daß er von Licht undGold strotze. Unter seinen Händen wurde er zueiner anfangslosen, ungewordenen Macht, zu einemmysteriösen, dionysischen Rausch-Symbol. —

Er wurde ihm das jenseitige Ufer, zu demwir nur Brücken und Pfeiler der Sehnsucht sind,das gelobte Land derer, die nach uns kommen,das ewig grünende Elysium der in Kraft undStolz wiedergeborenen Menschheit.

Doch dieser Übermensch ist zugleich einsalto-mortale der entfesselten, in Orgien schwelgenden Vernunft, ein Rausch-Delirium der ausden Fugen geratenen, in tausend Stücke zersplitterten Seele, ein überwältigendes Finale, indem sich ein üppiges Leben in spasmatischenZuckungen austobt.

Mit der feuersprühenden Begeisterung und derhellseherischen Sehnsucht in den Augen, die nichtvon dieser Welt sind, mit dem fatalistischenStigma eines, der geopfert werden soll auf derStirne, mit in die Feme gestreckten Händen stehtZarathustra auf seinem Berge, vor seinen verzückten Blicken schwindet heute und gestern undmorgen, alles hinter ihm stürzt verschmelzendzusammen und das vor ihm wird zur Ewigkeit,in der sich alle Wiedergeburt und Wiederkunftvollziehen werde:

„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeitbrünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ringder Ringe, dem Ring der Wiederkunft?

Nie noch fand ich das Weib, von dem ichKinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ichliebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!

Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!”

VIII

Wie bei Chopin das H-moll Scherzo, sospiegelt Also sprach Zarathustra die innersteSeele Nietzsches in den wunderbarsten Farben,von denen sich der Menschensinn nicht träumenließ, wieder.

Was Nietzsche hier liefert, ist ein Stück Autobiographie, in der er seine großen Freund-- undFeindschaften, seine rastlosen Kämpfe, seinHoffen und Sehnen, seine Krankheiten und Genesungen niederlegt.

Und das ist es eben, was das Werk derwenigen Anzahl von Intelligenzen, die es zu genießen verstehen, so unendlich teuer macht.

Für „uns” Spätgeborene, die wir an „Wahrheit” zu glauben aufgehört haben, für die derganze Schluß unserer Weisheit in der totalenBankerotterklärung unseres Wissens besteht, magwohl der erkenntnistheoretische Teil in NietzschesWerken vom geringsten Werte sein. —

Was uns an ihm berauscht, das ist die Fähigkeit für seine überreiche Seele in der SpracheSymbole gefunden zu haben: seine Psychologie.

Sie ist nicht die Retortenwissenschaft, wo auseiner Handvoll „objektiv” aufgefaßter Merkmaleder ganze Mensch zusammengebraut wird, nichtdie flache Erklärungswütigkeit englischer Psychologen, die alles verstehen, denen alles klar ist,nicht die filigrane Kunst der Franzosen, die inSévres-Porzellan arbeiten, Nietzsches Psychologieist voll von glühenden Lavastürzen, die seine vulkanische Seele erbricht, voll von Geysirquellen, diewarmes Herzblut in sprühender Gischt hinaufspeien.

Sie ist tief und verallgemeinernd, in jedemTropfen sieht sie sich die ganze Welt widerspiegeln, sie hat etwas vom Opiumtraume, indem man alles ins Riesenhafte gesteigert sieht,etwas von der Wärme eines Golfstromes, der dieUntiefen eines Ozeans erwärmen kann.

Sie hat einen leidenschaftlichen Charakter,jenes schwüle Pathos, mit dem eine reiche Seeleauf das Rätselhafte, Unbekannte, Dämonische derAußenwelt reagiert. Sie analysiert nicht Einzelfälle, sie will nicht Lichteindrücke, als Ätherschwingungen, Töne als Wellenbewegung derLuft sehen, sie will das Ding seiner Merkmalenicht entkleiden, um sie „rein” und „an sich”anzuschauen: seine Psychologie bringt nurStimmungen, in denen sie den einzigen Spiegelder Außenwelt erblickt.

Stimmungen als Symbole der Dinge hinzustellen, sie so zur Darstellung zu bringen, daßsie dieselben Stimmungen in jedem anderenMenschen hervorrufen, den Dingen einen passionierten, makrokosmischen Ausdruck zu geben, dasist die große Kunst Nietzsches, wie sie sich amherrlichsten in Also sprach Zarathustra offenbart.

In dieser makrokosmischen Auffassung wirdauch das Sexuelle, um nur das wichtigste undbrennendste Problem zu erwähnen, der Kunstzugänglich werden: die nimmersatte Gier derWollust, in der sich doch nur die ewige Lustdes Schaffens, ewige Selbstbejahung, ein großesJa zu allen Instinkten des Willens nach persönlicher Unsterblichkeit, nach Fortpflanzung bekundet, die Krämpfe der Brunst, aufgefaßt alsder tiefste Instinkt des Lebens, als der heiligeWeg zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit desLebens, — das Verhältnis der Geschlechter, aufgefaßt als das ursprünglichste biologische Gesetz,demzufolge die Männchen der Insekten im Gegensätze zu den Weibchen eine geschmeidige Gestalt und Flügel, die Männchen der Vögel herrlichen Federputz und ergiebigeren Kehlkopf, unddas höchste der Säugetiere, der Mann, seinenindividualisierten, fein gegliederten Körper, seinGehirn — das Weib seine Fettpolsterung, undreflexives Rückenmarksleben bekam. —

Nur in einer solchen Auffassung liegen dieunendlichen, befruchtenden Keime, die eine neueKunst schaffen werden, so unendlich verschiedenvon dem öden Naturalismus mit seinen dürftigen,geistesarmen coins de nature. —

Es gibt eine Stimmung im menschlichen Gemütsleben von der die Kunst ins Leben gerufenwurde und zu der sie zurückkehren muß und dasist der Rausch in seinen mannigfachen Äußerungen, als Freude am Erbeben des Fleisches,an der intensen Kraftverausgabung, an demDurchtrunken-- und Durchsättigtwerden von demdionysischen Willen zur Lust, zur vulkanischenEntladung, zur Macht und Wucht.

Rausch ist die Kunst ihrem Wesen, ihrer Entstehung nach und Rausch muß sie hervorrufen,sonst haben wir sie nicht nötig. —

Rausch der geschlechtlichen Ekstase, mit ihrergeheimnisvollen dämonischen Gewalt, Rausch derDämmerung und schwüler Sommernächte, Rauschder überschäumenden Jugend und der Frühlingslust, Rausch der ekstatischen Begeisterung unddionysischer Raserei, der Sehnsucht und desSchmerzes.

Und von den beiden Rauschkünstlern, Chopinund Nietzsche, wird die neue Kunst ausgehen,eine Kunst, die aufhört in verschiedene Zweigegetrennt zu werden, allerdings in einer Zeit, wounsere Darstellungsmittel sich so ausbilden werden,daß wir jeden Ausdruck, ob den musikalischen,ob sprachlichen, ob bildlichen mit derselben distinkten und differenzierten Schärfe verstehenwerden, mit der jetzt nur das sprachliche den meisten zugänglich ist, wo es eine ununterbrochene Skalavom Tone bis zum Worte und zur Farbe ohnedie jetzt bestehenden Grenzen, eine klare Rückübersetzung des Tones in Wort und Farbe undumgekehrt geben wird, wo unsere Sinne so feinwerden, daß sie jedes Wort in dem zugehörigenFarben-- und Tonwerte auffassen, wo die Kunstin ihrer Totalität als eine platonische Anamnese,eine erinnerte Erinnerung, als Selbsterlebtes,Selbstdurchfühltes und Durchdachtes in allenAusdrucksmitteln mit gleicher Intensität genossenwird. —

Berlin, Dezember 1890.

II.Ola Hansson

I

Wo ist mein Ich?

Als das weiche Gehirn anfing, sich allmählichzu härten und reif zu werden, ging ich auf dieSuche nach meinem Ich.

Das Ich, sagten mir die Einen, das ist dasgroße Übergehirn, das über dem anderen steht,es kontrolliert und es in der Macht hat, das Ichist das Überbewusstsein, das Apperzipierende,durch welches das Perzipierte existiert, das istder Überwille, der über die motorischen Energien verfügt, der Leitungen in Kontakt setzt und sie nach Belieben wieder ausschaltet.

Das Ich, sagten mir die Anderen, das ist dasKonstante und Absolute, das Einheitliche in demMannigfaltigen, das Unveränderliche in allemWechsel; Ich als Ich bin der Anfang und dasEnde der Welt, Ich bin der große Herr desDaseins, da Alles durch mich existiert, da alleDinge nur in mir sind.

Und ich sah, wie sich der frühere Gottesglauben in einen neuen Kultus verflüchtigte, ineine neue Religion sublimierte, wie sich das Bedürfnis nach dem Absoluten, dem Allherrscherneue Bahnen geschaffen hat in einem Vernunft-Knochenbruch, einem Vernunft-Superlative, einergrande mésalliance vom höchsten Verstand undfixer Idee — dem Stirnerschen Ich. —

Damals war es, wo ich eine kleine Novellensammlung von einem jungen Schweden, OlaHansson — „Die Parias” — kennenlernte. —

Der erste Eindruck, den ich von dem Bucheempfangen habe, war von einer merkwürdigvisionären Art.

Ich sah hinter dem Buche ein tiefes lauerndes Auge mit langen feinen Tastorganen, diesich in ein fremdes Gehirn hineinbohren unddas Tiefste und Geheimnisvollste aus ihm herausgreifen, ich sah den entblößten Mechanismuseines neuen Geistes, in dem ein Gesichtseindrucksich bis dahin hinabwühlt, wo Individuelles undPersönliches ineinandergreifen, ineinander verschlungen sind, um von diesem Verknotungspunkte aus auf tausend Leitungen ins Bewussteüberzuströmen, ich fand zum ersten Male diesenneuen Geist, der das wissenschaftliche und dichterische Denken in dem innigen Verschmelzen, derSynthese beider Denkarten zur ungeahnten Potenzerhoben hat.

Und so ist das Buch eine Psychophysiologieder unterbewussten, diskretesten Vorgänge in dermenschlichen Psyche, das Buch von dem Gehirne des Idioten, dessen Zentren jede Verbindunguntereinander aufgegeben haben und jedes nunauf eigene Faust seine Funktionen verrichtet,das Buch von den Zuständen in einer überbildeten,krankhaft potenzierten Seele, in der es allerhandEruptionen gibt, ohne dass für ihr Auftretenirgend ein ursächlicher Grund vorhanden wäre,wo eine Rede nur als eine Reihe von schwächerund stärker klingenden Lauten wiedertönt, einLichtpunkt zu einem unermesslichen Meere vonsengender Hitze anschwellen kann, das Buchvon den psychischen Geschwulstbildungen, einerArt psychopathologischer Zeugung, analog derjenigen, die der geniale Arzt Schleich als Ursache für das Entstehen körperlicher Geschwülstevermutet. —

Mitten in dem festgefügten Ich-Zusammenhange hebt sich allmählich etwas, wie eine neugeborene Insel, wie eine Nebelmasse, die insKreisen gerät und Wärme und Licht auszustrahlen beginnt, wie eine Granit--, Diorit-- undGabbroschicht, die tief im Inneren der Erdeverborgen, durch gewaltige Störungen im Erdinneren, durch Verschiebungen der Lithosphäreoder durch die nivellierende Tätigkeit des Wassersplötzlich zum Vorschein kommt.

Das, womit wir leben, womit wir im gewöhnlichen Leben auskommen, was wir die Identitätdes Ich nennen, das sind nur die während desLebens erworbenen Eindrücke, die sich in derErinnerung in derselben Aufeinanderfolge präsentieren, in der sie erworben wurden, aber sie sindauch nur der kristallinische Schiefermantel,welcher den unbekannten Erdkern einhüllt.Neben der Landschaft, durchfurcht von Eisenbahnschienen und umsponnen von Telegraphennetzen, ruht in der Tiefe des Gehirnes eine ausgestorbene silurische Landschaft mit erstarrtenGletschermassen, mit klaffenden Schütterlinien,mit einer riesigen fossilen Flora, Sigillarien,Stigmarien und Farnkräuter.

Neben dem Ich, der kleinen Kette meinerpersönlichen Erfahrungen steckt da drin derMensch mit dem halbwachen Gehirne, das nurwenige Eindrücke im Stande war aufzunehmenund auf alle Außeneindrücke mit ungeheurermotorischer Explosion antwortete — der Höhlenmensch mit dem weichen Hirne, in dem dersensitive und der motorische Strang eine einzigeLeitung darstellten, in deren Verlauf noch keineZwischenstationen eingetreten sind, welche einenEindruck an dessen sofortiger Auslösung hindern könnten.

Und wie dann ein einziger, vielleicht ganzunbedeutender Eindruck in das Gehirn hineinkommt, wie er in Rotation gerät und den ganzenGehirninhalt in Schwingungen um seine Axebringt, wie sich dann das Alles um einen Kernpunkt verdichtet und sich zu Etwas konzentriert,worin das Menschtier auflebt und die ursprünglichsten Assoziationen, die sich in dem Gehirnedes Urmenschen festsetzten, zu verderblichenKräfteherden werden, wie unter dem ganzenEindrucksfond immer einer vorhanden ist, derdazu prädestiniert erscheint, die wichtigste Rolleim menschlichen Leben zu spielen, — das istder Inhalt des Buches.

So sind in dem Keimepithel, der Uranlagedes weiblichen Eierstockes einzelne Zellen vorhanden, die sich kaum von den übrigen unterscheiden und die zu Eichen werden, den Trägerndes künftigen Geschlechtes. So ist unter denMillionen von Spermatozyten immer nur ein einziger da, der sich in das Eichen hineinbohrt,den Entwicklungsakt einleitet und an die ganzeDaseins-Kette neues Glied anfügt.

Und wie sich dann das Eichen in Milliardenvon Zellen spaltet, wie es zu einer Zellblasewird, wie sich diese in Organe differenziert, wiees das Blut der Mutter an sich saugt, und dasmütterliche Leben in seinem eigenen gipfelnlässt, so wird irgend ein Eindruck, den dieUrahnen empfangen haben und der sich als einephysiologische „Spur” auf das kommende Geschlecht vererbt hatte, durch irgend eine Gefühlsirradiation von seinem tausendjährigen Schlafwachgerufen, die alten mitvererbten Leitungsbahnen werden betreten und, einmal in Ganggebracht, wird die ganze Kette aller der Eindrücke, die zu dem ersteren in Beziehung standen, abgewickelt.

Von selbst werden die Muskeln in Standgesetzt, von selbst lösen sich die zu jenen vererbten Eindrücken zugehörigen Bewegungen aus,mit derselben Notwendigkeit, mit der eine Erinnerung alle zugehörigen Gefühlszustände repräsentiert, mit der ein in die Erde geworfener Samenwachsen und in der Lunge des neugeborenenKindes der Gasaustausch vor sich gehen muss. —

Und das ist die enorme Fatalität des Lebens,dass man gegen Eindrücke nicht mit seineneigenen Erfahrungen, sondern mit denjenigen,die vor der Geburt, außerhalb meiner Ichzustände liegen, reagieren, dass das Leben sich invon vornherein vorgezeichneten Grenzen entwickeln muss — es ist die Fatalität der Prädestination, derzufolge schon damals, als daserste Protoplasmaklümpchen sich aus den organischen Stoffen durch Urzeugung zusammenfügte,das entwickelteste Leben vorgeformt war. ÜberAllem waltet Mutter Heimarmene und der VaterKismet — beide haben das Sein gezeugt.

Keine unter den Pariasgeschichten illustriertdiese Fatalität mit einer solchen Evidenz, wieder „Muttermörder”.

Der Sohn mordet die Mutter, weil ihn ihrbeim Schlucken auf-- und niedergleitender Kehlkopf reizt, er will ihn zum Stillstand bringenund er erwürgt die Mutter. Aber er hat keinSchuldbewusstsein, im Momente, wo er den Mordvollbrachte, sah er nur ein paar Hände, die eineweiche Masse zusammenschnürten.

In dieser Novelle ist Hansson aber noch zugleich dem tiefsten Problem nahegerückt, ich meine das Problem des Ichbewusstseins. —

Ich als Ich bin nur das „tout de coalition”und zwar coalition meiner persönlichen Erfahrungen von Außen und Innen.

Physiologisch ist es die stufenweise vor sichgehende Koordination von niederen Zentren unterdie höheren, bis schließlich die ganze Kette demobersten Ganglion — der Großhirnrinde —subsumiert wird.

Es gibt aber Fähigkeiten, es gibt Leitungen,die abseits von dem großen Leitungsnetze stehen,die niemals in irgend eine Beziehung zu ihmgetreten sind. Und gerade diese sind es, indenen sich der ganze bas-fond unserer Seeleabspielt. Neben den bewussten Zuständen, indie das Ich immer als ein konstituierendes Gliedeintritt, wickeln sich hier unterbewusste Vorgänge ab, die ich nicht als zu mir gehörig betrachte, die von etwas Fremdem ausgeführt zusein scheinen, einem Dämon, der über dem Ichsteht.

Dieses Fremde, dieses Abseits-- und Außerhalbstehende, das Hansson so sehr betont, gestattet uns auch einen tiefen Einblick in dieNatur des Unbewussten.

Die Fachpsychologie hält nur die hirnphysiologischen Vorgänge für geeignet, Bewusstseinsphänomene hervorzubringen. Hiernach müsstejeder Bewusstseinszustand ein Ichelement enthalten, das in jedem bewussten Phänomen miteingeschlossen ist.

Wenn man aber sieht, wie Hände nach etwaszugreifen, ohne dass man sie als seine eigenenerkennt, wie ein Mensch sich das Messer in dasHerz stößt, in dem Glauben, dass er den Anderenmordet, in den er sich gespalten wähnte, danngenügt das Wunder von der neu hinzugetretenen,subjektiven Kraft zu einem objektiven Molekularvorgange nicht mehr.

Jede Nervenzelle als solche ist autonom, einGehirn für sich, mit dem Bewusstsein ihrer Zustände begabt.

Als Nervenzelle hat sie Bewusstsein nur vonihren eigenen Zuständen, der Zustand in jederanderen ist für sie einfach ein molekularer Prozess, vollständig dasselbe, wie für das koordiniertemenschliche Bewusstsein der parabolische Wurfnichts weiter ist als ein mechanischer Vorgang.

So irrt eine Seelenmonade von einem Planetenzum anderen, sich seiner selbst bewusst, seineZustände belauschend, so muss jedes Atom, dasmit anderen in einen Verdichtungszustand übergeht, Schmerz empfinden, und so ringt die ganzeErde in ihrem nach dem Mittelpunkte zustrebenden Konzentrationsstadium vergebens nach demLustgefühl der Auflösung und des Zerfalls.

Und diese bewussten Zellen und Zellgruppenhaben sich zu Gunsten der Zentralisation koordiniert, mit Kommissuren unter einander verbunden,aber nicht alle, auch die Koordination ist locker,in einem Momente durch irgend eine Veranlassung zerfällt der koordinierte Staat, das toutde coalition gleitet auseinander und nun ist dergewaltige Augenblick da, wo der Mensch inMenschen zerfällt, von denen einer dem anderenfremd ist, wo der grausige Totentanz eines Ichum das andere beginnt, eine schauerliche Orgievon grausem Entsetzen, irrer, wollüstiger Mordsucht und satanischer Brunst.

So kann ein homonom gegliedertes Tierzerstückelt werden und trotzdem leben die einzelnen Metameren ungestört weiter, jede kanndas Fehlende spontan ergänzen, und wiederum zueinem ganzen Tier werden. So wird das Polareisdurch die Anstöße des Ozeans angeschwemmt,zerbröckelt, es zerfällt in mächtige Schollen, diesich zu Eisbergen stauen, oder sich als Eisfladenvereinzelt, einsam auf der unermesslichen Weiteherumtreiben.

Und wo ist mein Ich?

Wo ist das Absolute, das Einheitliche, woist das, worin das Sein zum Dasein wird, wo istder Gott, der Laplace’sche Weltgeist, der dasWeltall beherrscht, durch den und in dem Allesda ist?

Staub! Staub!

Milliarden von bewussten Nervenmolekeln,die gegen einander anprallen und sich abstoßen,Milliarden von Nervenzellen, von denen jede nursich seiner selbst bewusst ist, Nervenganglien,von denen jedes fähig ist, das Ich in einem Nuzu zersprengen, auseinander zu reißen und dieReise durch die Gedärme der Würmer einzuleiten.

Mein armes Ich!

II

Es ist etwas in diesen Novellen, was schonvöllig Jenseits steht, ein transzendentales Jenseits bedeutet.

Es bewegt sich alles auf der Grenze, wo derSchmerz schon aufgehört hatte, Schmerz zu seinund in Nirwana umgekippt ist, ein lang gedehntes, monotones, beschauliches Oum, halbwollüstiges Schauern, halb grauende Vertiefung,Hinabgleiten, Versinken, Auflösen, Auseinanderfallen.

Es ist etwas, das mit der hypothetischenvierten Dimension in Berührung steht, ein Außenund Draußen, eine platonische Anamnese vonden Zuständen, die die Seelenmonade in der jenseitigen Welt erlitten hatte, als sie noch mit demUrgeiste eins war und das reine Sein anschaute.

Es ist etwas, das man nur im Chopinschentempo rubato ausdrücken könnte, wo die Angstauf den Muskeln spielt: ein krampfartiges Gespanntsein, ein zuckender, reflexiver Ausgleich,da der Muskel nicht von einem Zentrum denNervenstrom empfängt, sondern von vielenStellen gleichzeitig innerviert und nun nach allenSeiten hin und her gezerrt wird; — aber nureinen Moment, dann ein tiefes keuchendes Atmen,schneidend, ächzend, um wiederum in etwas Auseinandergleitendem, Aufgelösten auszuklingen.

Dann ist noch etwas da, ein ganz undefinierbar feines Etwas, eine unmögliche psychologischeFeinheit, die mir in allem, was Hansson geschrieben hat, und auch nur bei Hansson alleinentgegenkommt. Es ist als ob sich eine Schauerwelle vorwärts und rückwärts über das ganzeGehirn fortpflanzte, ein leises Erzittern, denpendelartigen Oszillationen vergleichbar, die eineberührte Seite um ihre Abszissenachse ausführt, esist, als ob an den Muskeln etwas in unheimlichtiefer Molltonart aufgespielt würde, und durchdas sich kreischende, brutal helle Tonwellenhindurchwinden, wie wenn einer in wahnsinnigenSchmerz ausbrechen möchte und dazu in Lachkrampf verfällt.

Es ist etwas da, das man durchaus erstickenmöchte, man kennt es nicht, man fühlt es vielleicht zum ersten Male, aber man fühlt es alsetwas furchtbar Unheimliches.

Hier ist es, wo man nur das Bewusstsein vondem Gefühlszustande hat, aber es ist kein Gegenstand da, woran man es anknüpfen könnte. Essind wie fliegende Gedankenreihen, ohne Gedanken zu sein, weil sie keine Tonkorrelatehaben — Bilder, die wie lichte Punkte in eigentümlicher Phosphoreszenz durch dicke Nebelmassen hindurchschimmern.

Wie kam es doch?

Ich stelle mir vor, ich liege auf dem Bett,ich ringe mit dem Tode, schwarze lange, schmaleSchatten steigen vor meinen Augen, wie eindichter Zaun, der mich gegen das Jenseits nochabgrenzt, das Herz schlägt immer langsamer,immer schwächer bis auf einmal meine Seele imlauten Aufschrei von dem Daseinstraume aufwacht,der Schleier der Maja fällt von meinen Augenherunter, und ich der Anfang und das Ende derWelt, ich der große Herr des Daseins, bin indas Nichtsein übergetreten.

Jetzt ist aber ein Inhalt nicht mehr möglich,es bleibt nur ein Gefühl, das seine Phänomenalität erlangt hatte und sich allein tiefer hinabwühlt, mit langen körperlosen Händen vor sichtastend bis zu jenem geheimnisvollen Dunkelhinab, wo das lichtscheue, unterirdische Gewächswuchert, wo aller Daseinschmerz ruht und dieAngstgefühle aufgespeichert sind und die mystische Wollust des schauernden Entsetzens.

Und gerade hier, wo Ola Hansson die Nabelschnur gewonnen hatte und sich an ihr hinabgleiten lässt bis in die ersten Dämmerungszustände des menschlichen Hirnes, da alleGanglien noch unkoordiniert nebeneinander liegen,wo jeder Eindruck sich selbst genießt, wo jedeLinie sich selbst wahrnimmt, jeder Ton um seineeigenen Zustände weiß, stellt sich als Begleiterscheinung dieser enormen Vertiefung jenesGefühl ein.

Hier an der Grenze des Urwesens, an derGrenze des Zusammenhanges meines Ich mit demAll, an der Grenze, wo Irdisches und Transzendentales in einanderfließen, hier in der weitenFerne, wo das Meer in den Himmel übergeht,wenn die Sonne schon untergegangen ist in derFarbenorgie von verfließendem, blassgoldenemMollpurpur und tiefem nachdunkelndem Blau,liegt jene unheimliche Stimmung, die die altenMystiker so gut kannten und die der ModerneLebensangst genannt hatte.

Im Grunde sind beide auf das innigste verwandt, nur während dies Gefühl im Mittelalterzur visionären Ekstase wurde und im Gott undder Dreieinigkeit Gefühlsorgien feiert, wird es beidem Modernen zu einem schleichenden Gespenst.

Dieses unbestimmte vage Gefühl, das annichts gebunden ist, keinen Inhalt repräsentiert,das als Phänomen, losgelöst von jeglichem Zusammenhange mit den übrigen psychischen Zuständen, einem Irrlicht vergleichbar, in denSümpfen und Abgründen der Seele herumirrtund auf das Verborgenste und Tiefste im Menschenseinen trüben Schein wirft, dieses Gefühl erschließt uns weit besser die Psychologie desModernen, wie kaum eine, selbst die feinsteAnalyse der bewussten Vorgänge.

Man kann denken, worüber man will, mankann anfangen was man will, im Hass und in derLiebe, im Wachen und Träumen, stellt es sichein, ganz unmotiviert, zu allen Gefühlszuständenkann es sich hinzugesellen, einem Molekel vergleichbar, der mit einer enormen Affinität begabtist und der in jede Verbindung eingehen kann.

Und wie in dem Zellkerne die chromatischeSubstanz sich in vielfach verschlungenen Schleifenwindet, und seinen eigensten, wichtigsten Bestandteil bildet, wie sie sich dann zu Spindelnformt, wie diese durch Auseinanderrücken denKern zerreißen, wie sich nun das Plasma derZelle um diese Kerne sammelt, so wird auchdieses Gefühl zu dem seelenformenden Keim, umdiese Lebensangst sammeln und gruppieren sichalle psychischen Zustände, in diese Sammellinsefällt alles Licht hinein, und was an zerstreutemLichte hineingelangt, wird in diese Linse zurückreflektiert.

Daher die Zerrissenheit und die Schreckbildpsychosen des fin de siecle, die krankhafte Sehnsucht nach Befreiung und Erlösung, nach frischemLuftzuge und kühlender Abendruhe. —

Es kann Entwicklungsymptom und es kannEnde sein.

Es ist das Fieber, das das Zahnen bei denKindern begleitet, die rheumatischen Zustände, die das Wachstum der Glieder bedingt, dietiefen somatischen Störungen, die sich in derPubertätsperiode einstellen, es ist die Entwicklungspsychose, die das Flagellantentum aufdem Durchbruch in die Renaissanceperiode gezeitigt hat, aber es kann zur schleichendenBleichsucht werden, zu einem irren maniakalischen Wahn, es kann in einen Gehirnsatanismus ausarten — was weiß ich!

Diese Lebensangst oder richtiger das formaleDenkgefühl der Vertiefung, das sich als dieschauerliche Angst äußert überall dort, wo derGeist an eine Schranke unserer Wissensmöglichkeit stößt, oder wo er mit einem Ignorabimusin Berührung kommt, in dem das Rätsel unddas Geheimnis des Daseins ruht, dieses Gefühl, das Gegenteil von dem angenehmen formalen Denkgefühl, das sich leicht abwickelndeAssoziationsreihen begleitet und zur Quelle unendlichen Wohlbehagens wird, ist die Unterströmung, und der in allen Farben schillerndeUntergrund Hanssonscher Produktion.

Es ist nicht ausgedrückt, aber es ist da alsarrière-fond, als ein tiefer Purpuruntergrund,durch dessen Reflexe selbst die mattesten Farbengesättigt werden, als eine weite Tonfläche, diedurch alle Melodien hindurchklingt und sie mitetwas unendlich Traurigem färbt.

Einmal hat er es in seiner Novellensammlung,,Sensitiva amorosa” mit unheimlicher Genialitätdargestellt.

Es wird ein junger Mann geschildert, dendiese Angst mitten in dem wildesten Liebestaumelbefällt:

„Sie schlang seine Hände um ihn in dembrünstigen Aufschwunge des ganzen Urwesenseines Tierweibchens.”

„Doch in diesem Augenblicke fühlte er inseinem Innern den ganzen, unaufgelösten, geheimnisvollen Schmerz des Daseins — daraufin der nächsten Sekunde sah er das Leben unddie Welt, wie in einem Riesenpanorama vor sichliegen — und in einem Nu wurde das Ganzezu einem rauchenden Wasserwirbel in einersteilen Tiefe, in die sie und er zusammen hineinsollten und darauf plötzlich hatte er hinter sichdas schleichende Gespenst der Angst.”

III

Hansson ist der Sohn des SchonenschenFlachlandes, einer weiten Ebene, reizlos, primitiv, konturlos.

Wie weit das Auge reicht, fließen die Konturen des Landes mit denen des Himmels inein verschwommenes, trostlos Melancholischesüber, das die Seele weich stimmt und sie inein nachdenkliches Brüten versetzt.

Es liegt etwas endlos Ruhiges, Tiefes in derganzen Landschaft, es ist nichts da, das das Gehirn irgendwie affizieren und die ganz nach innenkonzentrierte Aufmerksamkeit ablenken könnte.Es ist etwas Verschlossenes in dieser Landschaft,Wortkarges, etwas, das man nur mit leiserStimme nachsprechen könnte, weil es so tiefund so fein ist. —

Und wenn die kalte Luft die Dämpfe derwarmen Meeresoberfläche nicht auflösen kann,wenn sich diese als Nebelmassen ausscheiden,wenn sie mit dem Winde auf die Küste getrieben werden und sich hier über dem wärmerenLande in einen feinen Sprühregen auflösen, inein etwas, wofür Sprühregen schon zu viel gesagt ist, und das nur ein Zerschmelzen etwasVerdichteten, das Auftauen etwas Brütenden,Konzentrierten, Erstarrten bedeutet, dann fühltman, wie etwas Analoges sich in der Seele abspielt, wie sich etwas loslöst, Tropfen für Tropfen,eine Verbindung nach der anderen, man fühlt,wie sich diese Verbindungen als kleine Kristalleniederschlagen, in denen sich die ganze Weltals eine weite, schmerzliche Sehnsucht, ein inlautloses Weinen aufgelöster Schmerz widerspiegelt.

Senken sich diese Nebelmassen auf das Landund wird es von ihnen in ein weiches, graues,feuchtes Gewand eingehüllt, dann bekommt dieLandschaft etwas unsagbar Trauriges, Düsteres;mit dumpfer Schwere, ahnender Unruhe legtsie sich auf die Seele, der Blick ist wie eingeengt, er will hinaus und muss sich nach innenkehren. —

Dringen Sonnenstrahlen hindurch, so ist esnur wie das Lächeln eines Irren, der sich mitMordgedanken trägt, bekommt man ein Stück Himmelzu sehen, so ist es, wie ein Fleck auf dem Gesichte des Schwindsüchtigen.

Für die Menschen, die diese Landschaft bewohnen, ist etwas bezeichnend, das ich öftersbeobachten konnte.

Ihr Blick ist wie verschleiert, er sieht, ohnezu sehen, die Sehaxe ist in unendliche Weitegerichtet.

Dann ist es ein eigentümliches, lautlosesLächeln mit einem Mundwinkel, nur durch einekleine Querfalte angedeutet. Es ist das Lächelnüber etwas unaufgelöst Schmerzliches, dessensich der Mensch nicht bewusst ist und dasdennoch da ist — das Lächeln, das durch einMissverhältnis zwischen dem, was ist und wassein sollte, hervorgerufen wird.

Was für diese Landschaft ganz besonderscharakteristisch ist, das sind die merkwürdigstillen, hellen Sommernächte. Es ist als ob derganze Weltmechanismus in einem tiefen Sinnensich verloren hätte, in einem tiefen Nachdenkenversunken wäre. — Und wenn sich Stimmenerheben, so verklingen sie nicht, sondern erstarren auf halbem Wege, als ob sie von einemApparat getäubt wären, der Pigmentschicht imAuge vergleichbar, die alles durchfallende Lichttötet. Man fühlt etwas über sich, das nach Auflösung trachtet, etwas Gespanntes, Lauerndes,zum Sprunge Bereites, — und hinter sichspürt man etwas, das mit lautlosen Schrittenheranschleicht, das schon da ist, dicht hinterdem Rücken; dreht man sich um, wird man demGespenst in das hohle Auge sehen.

Angst! Angst! Doch nicht die brutale Angst,wie sie Maupassant in seinem Horla schildert,wo der Mensch ganz naiv, ganz Rückenmarkdem Gespenst gegenübersteht und sich nun mitwahnsinniger Verzweiflung seiner erwehren will,es ist wiederum Vertiefungsangst, man geht indem Weltall unter, man ist sein eigener Zuschauer, man versinkt, fällt hinab von einerWelt zur anderen; Angst der schauerlichenResignation, weil man sich ohnmächtig undwehrlos fühlt.

Und in dieser Tiefe, in der erst begreiflichwird, wie der Mensch auf die Begriffe desEwigen und Unendlichen kommen konnte, indieser Ruhe, die den Menschen mit etwas Absolutem in Berührung bringt, in dieser endlosenAusdehnung, die man nicht mehr nach Außenprojiziert, sondern sie als die subjektive Formseines eigenen Denkens empfindet, liegt so etwas Unheimliches, Überirdisches, Mystisches, —eine Zeit die vor der Zeit war, wie es in derindischen Philosophie heißt, als noch Logosallein da war, und das Hartmannsche Prinzipdes Unbewussten, bevor es sich in der Weltund dem Seienden objektivierte.

Dann sind es die Herbstnächte, in denenman das Brausen des Meeres hört, wie einEtwas, das von einer anderen Welt kommt, vonweiter Ferne, worauf man sich erst besinnenmuss, was es ist, woher es kommt. Mitten indem undurchdringlichen Nebel hört man diesesunentwirrbare monotone, langgezogene dumpfeBrausen wie eine Gehörshalluzination, die nuraus einem Tone vom geringen Umfang besteht,aber dieser Umfang ist es, der die Grenzen absteckt, innerhalb deren sich alle Gefühle bewegen, alle geistigen Vorgänge abwickeln —wellenartig, auf und ab, hin und zurück, es istein Wiegen und Sinnen und Brüten, eine Erinnerung ohne Inhalt, eine Sehnsucht ohne Gegenstand. —

Und Ola Hansson ist der echte Sohn dieserfreien, unbegrenzten Landschaft, dieser weitenFlächen, dieser Tiefe und Sammlung, dieser Verschlossenheit und Konzentrierung. Er ist ganzdas Weite und die Tiefe und das Innen.

Stück für Stück finden wir Schonen in ihmwieder, es ist als ob jede Linie, jede Flächedie Nacht dieser Landschaft und ihr nebligerTag sich in seine Seele eingeätzt und eingeritzthätte, sich in ihr zu etwas Subjektivem undBewusstem transformierte, und sein Geist nichtsweiter, als der Geist dieser Landschaft wäre. —

Kraft der Einrichtung des geistigen Mechanismus, dass ich die Vorgänge im Außen nuran meiner inneren Eindrucksreihe wahrnehme,dass ich nichts empfinde als nur Vorgänge inmeinem Inneren, als die Schwingungen meinerNerven und das Verhältnis vom Nerven zumMuskel, kraft der Einrichtung meiner Wahrnehmungsapparate, in denen sich die äußereKausalität in eine innere übersetzt, die nichtsmit der ersteren zu tun hat, kraft der großenTatsache, dass ich jeden Vorgang im Außenmit inneren Zuständen begleiten muss, und wenneiner fällt, muss ich innerlich mitfallen, undwenn ich Jemanden sprechen höre, so spreche,ich innerlich das Gehörte nach, kraft nun diesespsychologischen Grundgesetzes stellen sich beiallen Vorgängen in der Natur entsprechendeBegleitzustände in meinem Gehirn ein, wiederholen sich die ersteren, so werden sich auchdie letzteren wiederholen, bis schließlich dieNerven auf eine bestimmte Gefühlsrichtung eingeübt sind, bis sie nur in den Grenzen, die durchdas Brausen des Meeres, durch die Ausdehnungdes Landes, durch den mystischen Zauber derSommernacht vorgezeichnet sind, in Vibrationgeraten, bis sich, kurz gesagt, eine bestimmteFähigkeit zu empfinden, konsolidiert haben wird.

Das ist das Gesetz der sympathischen Färbung,wonach die Seewassertiere kristallartig, durchsichtig gefärbt sind, Wüstentiere die Farbe derWüste annehmen, und Vögel der Schneeregionenweiß gefärbt sind.

Das ist das Gesetz der Mimikry, wonach sichdie Nachahmung nicht nur auf Farbe, sondernauch auf Gestalt und Formen ausdehnt, wonachein Schmetterling die Blattform annehmen undin seiner Zeichnung mit der Blattnervatur übereinstimmen kann.

Sympathische Färbung und Mimikry auf denGeist übertragen.

So wird der Irismuskel des Schonen für dasWeite angepasst und das Auge wird für dasWeite eingestellt, daher schon äußerlich diesertiefe, gleichsam verschleierte Blick.

So wird das Atmen bei dem ewigen Nebeldem Schonen erschwert, die Stimme wird eingeklemmt, die motorische Energie der Eindrückewird bei der schweren, lastenden Atmosphäreauf das Minimum reduziert, die Reizlosigkeit derGegend bietet keine Veranlassung zu raschenwechselnden Reflexen und zur gelenken Beweglichkeit, daher die Wortkargheit und die Verschlossenheit und der engbrüstige, feine Tonseiner Sprache.

Und dieses fortwährende Akkomodationsgefühlder Augen und des Gehörorgans auf das Weite,die Anpassung des ganzen Organismus an dasKlima, die ihren Ausdruck in der totalen Einkehr in sich findet, hat sich in dem Gehirnedes tiefsten und verfeinertesten Schonen, demhöchsten und letzten Ausdruck des Schonenlandes, — Ola Hansson in eine ähnliche Gehirnarbeit umgesetzt, das Suchen nach einem weiten,umfassenden Standpunkt, nach etwas Tiefem,das hinter jedem Problem steckt, nach demFeinsten und Sprödesten im Menschen.

So ungefähr denke ich mir die Umsetzungder peripheren Eindrücke in eine ähnliche zentrale Arbeit. —

Übrigens, was wissen wir, wie bei derLösung eines Problems unsere Augenmuskelnbetätigt sind, wie ihr Spiel ein Problem hervorrufen kann, wie eine zufällige, irradierte Geruchshalluzination, ein Ton, eine Farbe unser Denken anregt, ja, dasselbe direkt bedingt?

Was wissen wir, womit sich der Geruch derfrischen Saaten, der Geruch der Rapsfelder, wennsie im Frühlinge mit den feinen, gelben Blütenaufblühen, wenn in der Luft über denselbenganze Bienenschwärme schwirren, womit dasKonzert der Froschstimmen in der Stille derSommernacht sich assoziert, welche Gedankenverbindungen und unlösbare Verkettungen durchdie riesigen Schatten, die ein Mensch in denhellen Nächten wirft, in seiner Seele zustandekommen?

Was wissen wir von allen diesen Vorgängen,die der nervösen Veranlagung gemäß verarbeitet werden und unsere Individualität bilden,sie abgrenzen, den Reizumfang abstecken, innerhalb dessen man zu empfinden vermag?

Aber gerade hier auf diesem Gebiete bewegtsich die ganze Hanssonsche Dichtung, er ist derPfadfinder in der Wildnis, die Feuersaule in derNacht der Wüste, an Hansson wird die Rassenpsychologie anknüpfen, um das Geheimnis derRassenverschiedenheiten zu studieren, von seinenWerken wird die künftige Psychologie der Gemütsstimmungen Nahrung schöpfen, um dieeigentümliche Färbung und den eigenen Klangdes Temperamentes, der Leidenschaft und Allesdessen, worin sich der Mensch äußert, zu erklären, und ganz besonders die Geschlechtspsychologie, die er, als der Erste und Einzige,geschaffen, tatsächlich geschaffen hat. —

IV

Die Landschaft, nichts als Landschaft istHanssons psychisches Leben und dieser subjektiven Umprägung muss naturgemäß physiologisch ein Nervensystem entsprechen, so fein,so unglaublich differenziert, so anspruchs-- undaufnahmefähig, dass jeder Eindruck, auf den einegewöhnliche nervöse Organisierung nicht reagiert,sich hier in Schwingungen transformiert, anfangsleise, kaum wahrnehmbar, dann stärker und nachhaltiger, bis das ganze Gehirn in Vibration gerät.

Und hier beschäftigt den Psychologen nichtmehr die Persönlichkeit Hanssons, auch nichtseine schriftstellerische Tätigkeit, sondernHansson als ein Phänomen, als ein biologischesProblem, als das Produkt einer Differenzierung,die ihre Schatten weit in die Zukunft wirft,als der „nouveau ésprit”, der in Poe angedeutetund in Hansson mit distinkter Schärfe ausgeprägt erscheint.

Hier zum ersten Male, das Gehirn, in demdas Animale und Intellektuelle ineinandergreifen, innig verschmolzen sind, in welches jederEindruck nicht nackt hineingelangt, sondern wieeine riesige Zölenterate, die sich mit tausendFangarmen an dem Gehirninhalte festsaugt, wieein Ton, bei dem außer dem Grundtone unzählige, harmonische Obertöne mitschwingen.

Und diese Betätigung des ganzen Gehirninhaltes an einem Eindrucke, dieses Mitschwingenvon Obertönen bilden das Eigentümliche, dasman beim Tone Klangfarbe nennt und das demWorte Hanssons Herzenswärme und affektiveAusstrahlung verleiht.

Jedes seiner Worte ist wie ein pulsierender,atmender Organismus, umspült vom warmen Blut,eingebettet in den warmen Hüllen des Tiefstenund Innerlichsten, was der Mensch besitzt, jedesseiner Worte ist wie ein herausgeschnittenes,lebendes Herz, das man auf der Hand hält, daszittert und bebt und zuckt, oder wie eine unendlich weiche Atmosphäre, in die man sich einhüllen kann, und die man wie das nackte, duftendeFrühlingsfleisch eines halbwachen Mädchens aufseine Nerven wirken fühlt. — Es wird aber auchzu einem scharfen Meißel, der unvergänglicheZeichen in die Seele einritzt, zu einer zersetzenden Säure, die ätzt und beizt, zu einem körper-- und wesenlosen Gespenst, das sich langsam andem Rückenmarke hinabwühlt und über dasBewusste tiefe schwarze Schatten wirft, bis dieNacht heraufsteigt und die Sterne winzig kleinund glanzlos, wie mattes Gold, werden, bis dieWelt um einen so fürchterlich eng wird, dassder Atem sich über die Brust legt, wie eineschwüle Luftmasse, wie ein schweres Gewicht.

Diese enorme Suggestionsfähigkeit des Hanssonschen Wortes, die Fähigkeit, eine Stimmunghervorzurufen, wie kein Schriftsteller es vor ihmim Stande war, diese Verschmelzung von Intellekt und Organismus ist eine antizipierte Entwicklungsstufe, die die Menschheit erst späterbetreten wird.

Ich denke mir die ganze Entwicklung undden historischen Zusammenhang folgendermaßen.

Der Urmensch, dessen Gehirn noch unentwickelt war und unfähig, aufgenommene Eindrücke aufzubewahren, was eben die ganzeFunktion des Bewusstseins ausmacht, reagierteauf alle Eindrücke ganz reflexiv und automatisch.Auf jeden sensiblen Eindruck antwortete sofortein motorischer Ausschlag, er war nichts mehrals reine Individualität, reines Rückenmark,Reflex und Instinkt.

Allmählich fingen die Eindrücke an bewusst zuwerden, sich nach und nach zu konsolidieren,zwischen die Aufnahme und die Auslösung einesEindruckes schob sich eine beträchtliche physiologische Zeit hinein, Stück für Stück bildete sichdie Bewusstseinskette, der Mensch lernte kombinieren und vergleichen, ein Eindruck fügte sichan den anderen, es bildeten sich Assoziationsreihen und der Mensch fing an Persönlichkeit zu werden.

Was jedoch dieser Entwicklung eigentümlichist, das ist die unabhängige Parallelität, völligesGetrenntsein von Individualität und Persönlichkeit.

Jeder Eindruck, der von den objektivenSinnen, dem Auge, dem Gehör empfangen wurde,blieb einfach ein Gesichtseindruck, ein Ton, eineTastempfindung und nichts weiter.

Freilich war diese Trennung im Sinne derfortschreitenden Entwicklung notwendig, dasmenschliche Gehirn war noch nicht fähig, affektiv auf jeden Eindruck zu antworten, diesemintensen Leben war der Organismus noch nichtangepasst, er würde zugrunde gehen.

Und diese Trennung in seiner reinen Formkann man noch beim Weibe studieren. Bekanntlich hat das Weib kein Gehirn nötig, und woes dasselbe gebraucht, so steht es mit seinerIndividualität im schroffsten Gegensatze zu seinerHirnarbeit. Gewöhnlich ist es dann auch so, dassdie Individualität beim Weibe herrlich ist, dagegen die Persönlichkeit nichts taugt oder auchumgekehrt. Äußerst selten ist eine Übereinstimmung da, freilich völlig unabhängig und getrennt, jedes auf eigene Faust, die Übereinstimmung nur ein Zufall.

Im Laufe der Entwicklung fing die Individualität an, in die Persönlichkeit einzugreifen undzwar überall da, wo es im Sinne der weiterenDifferenzierung geboten war. So wurde die Liebe,die ursprünglich nur ein instinktiver Trieb war,der nach Befriedigung lechzte, einfach nur dasautonome Geschlecht mit den wachsenden undreifenden Spermatozyten und den nervösen Begleitzuständen dieser Wachstumsvorgänge, zueinem Etwas, woran sich die im Gehirne aufgespeicherten Eindrücke zu beteiligen anfingen,dann war es das Vaterland, die Familie, die Religion und die Natur, also nur die Fortpflanzungs-- und Selbsterhaltungsgefühle. Ohne diese psychische Umwertung und Mitarbeiterschaft desGehirnes wäre eine fortschreitende Differenzierungnicht möglich.

Darüber hinaus ist der Mensch bis in unserJahrhundert hinein nicht gekommen.

Was für die klassische Dichtung ganz eigentümlich ist, das ist das Verstandesmäßige ihrerProduktion, es wurden nur geordnete Assoziationsreihen in rhytmischer Form repräsentiert, dasPoetische beschränkt sich nur auf die rein formalen Denkgefühle, den Rhythmus, die Proportion und Harmonie. Ola Hansson selbst hat dasVerhältnis der modernen Dichtung zur klassischen in seinen zwei kritischen Aufsätzen ganztrefflich ausgeführt.

Das ist auch das Gehirn des wissenschaftlichen,politischen und industriellen Mannes, freilich nurnoch um ein Grad ärmer, weil es nicht einmaldiese positiven Gefühlstöne zu produzieren vermag.

Alles nur viertel und halbe Gehirne, denenwir allerdings unsere Kultur verdanken. Freilichist das nicht viel.

Deshalb wird diese Kultur, diese alte, zopfige,klassische Kultur überwunden, wie die letztenAusläufer des halben Gehirnes: der SpencerschePositivismus und der höhere photographischeApparat, der objektive Naturalist, überwundenwerden.

Und nun ist der neue Geist da und Hanssonist sein Träger, er ist der ausgeprägteste unddifferenzierteste Typus eines Untrennbaren, Einzigen, Unteilbaren, eines wahren Individuums.

Persönlichkeit und Individualität sind einsgeworden, was an Eindrücken ins Gehirn hineingelangt, wird organisch, individuell, affektiv undlebenswarm. Der Umfang des Bewusstseins istso enorm geworden, dass die flüchtigsten Vorgänge festgehalten werden kraft ihrer kolossalenBeziehungen zu anderen in der Sprache übersetzbaren Eindrücken; ein ganz schwach leuchtender Punkt bricht sich in tausend spiegelndenEbenen, irgend ein schwacher harmonischer Oberton lässt alle zugehörigen Grundtöne erklingenund ein zerstreuter, irrender Lichtstrahl lässtsich bis zur Lichtquelle verfolgen.

Der frühere Mensch lebte mit zwei Herzen,die Verwachsung beider Herzbeuteln hatte nurmorphologische Bedeutung, psychisch waren siebeide getrennt.

Das moderne Individuum fängt an nur miteinem Herzen zu leben, der Verstand bekommtKlangfarbe und organische Resonanz, und irgendein affektiver Eindruck wird zu einer Vision.

Der frühere Mensch arbeitete mit Ideenassoziationen, wie sie sich nackt und klar aneinander reihten, er arbeitete mit „Dingen”, dieer als etwas Objektives ansah, unter der falschenVoraussetzung, dass das Außen und Innen sichvollständig decken, dass das zentrale Bild vonder Natur eins sei mit der Natur selbst.

Der neue Mensch arbeitet nur mit zentralenGefühlseindrücken und mit Ideen, wie sie sichmit ihren Gefühlswerten assoziiert haben.

Der alte Mensch produzierte Dinge, der neueproduziert seinen jeweiligen Gehirnzustand, jenerbrachte die Dinge, wie sie nach und nach, reihenweise eins nach dem anderen geordnet ins Gehirn kamen, dieser bringt Gefühle, mit denensich diese Dinge verknüpft haben und die Assoziationen dieser Gefühle.

Daher das Klare, Verstandesmäßige, Konstruierte, „Klassische” der alten Dichtung, unddaher das Ungeordnete, Traum-- und Sprunghafte(— „Pathologische” nennt es das halbe Gehirn —) der Hanssonschen Produktion.

In dem alten Gehirne assozierte sich der Tonnur immer mit dem Tone, in dem neuen Geisteruft der Ton Farben hervor, ein Ton kann dasganze Leben in unermesslicher Perspektive hervorzaubern, eine Farbe kann zu einem Konzertewerden und ein Gesichtseindruck kann schauerliche Orgien auf dem Grunde der Seele hervorrufen.

Und wie die Sonnenstrahlen sich durch dieAtmosphäre fortpflanzen, ohne sie zu erwärmenund erst die Erde erreichen müssen, damit Lichtin Wärme umgesetzt und von der Erde aus dieLuft erwärmt werde, so pflanzt sich ein Eindruck bis zu dem Mutterboden des neuenMenschen, bis zu den Tiefen, in welchen seineIndividualität ruht, fort, um in Schwingungenübersetzt, in die Persönlichkeit zurückzugreifenund hier Verbindungen mit bewussten Eindrücken einzugehen.

Und während früher alle diese feinen Eindrücke von der Individualität festgehalten wurdenund nur höchstens in pathologischen Fällen zumVorschein kamen, werden sie in dem neuenGeiste ausgedünstet, dem Dampfe vergleichbar,der als weiter Dunstkreis sich in der Luft überder Erde ausbreitet um hier von der Atmosphäre aufgesogen zu werden.

So wird Alles bewusst, alle die feinen undfeinsten Schwingungen, von denen man bis jetztnur durch die Psychiatrie Aufschluss bekam,pflanzen sich bis zur Großhirnrinde zurück, wosie durch analoge, bewusste Vorgänge übersetztwerden, sie werden von dem Mutterboden desMenschen reflektiert und von ihm bekommen sieden eigentümlichen Geruch, die eigentümlicheWärme und Farbe, die ein reflektierter Sonnenstrahl von dem Boden der Erde empfängt.

Es ist etwas in dem neuen Gehirne, das mirvon höchster Wichtigkeit erscheint und das ichschon wiederholt angedeutet habe.

Die Eindrücke assoziieren sich miteinandernicht nach ihrem inhaltlichen und gegenständlichen Werte, sondern nach dem Gefühlswerte,den sie repräsentieren.

Zwei inhaltlich verschiedene Eindrücke könnendenselben Gefühlswert haben, können auf demBoden der Individualität gleiche Resonanz finden,und dann kann es kommen, dass die Stirn einesMädchens sich mit einer Landschaft assoziiert,die am tiefsten auf die Seele einwirkte, dass derBlick der Geliebten eine „taumelnde Orgie” hervorruft, „einen grässlichen Totentanz von schlottrigen männlichen Totengerippen und nacktenJordaenschen Frauenkörpern”.

Hierin ruht das Geheimnis des weitaus tiefsten und am schlechtesten verstandenen Buchesvon Nietzsche: „Also sprach Zarathustra” undhierin liegt das große Geheimnis der Hanssonschen Produktionsweise.

Aus der synthetischen Verschmelzung zweierAssoziationsweisen, der wissenschaftlichen, dieInhalte aneinander fügt, und der modernen dieDinge nach ihren Gefühlswerten assoziiert, erklärt sich die Forderung, die Hansson an dieDichtung stellt, sie solle psychophysiologischwerden, sie solle die Persönlichkeit, wie sie sichin der Individualität widerspiegelt, das Persönliche durchsättigt vom Individuellen, zur Darstellung bringen, einen Gesichtseindruck durchseine organische Resonanz, ein Ding durch dieStimmung, welche es erzeugt, einen Außenvorgang durch den Gehirnvorgang übersetzen. —

Daher ist die Kunst Hanssons eine symbolische, die einzige, die diesen Namen voll undganz verdient.

Symbolismus, das ist ein Stück Natur, transformiert in Nervenschwingungen, ein Stück Naturdas sich nicht auf einen Gesichts--, einen Gehörseindruck, eine taktile Sensation beschränkt, sondern ein Eindruck, der bis in den Knotenpunktaller Sinne herabfließt, um von hier aus dasganze Gehirn in Vibration zu versetzen.

Symbolismus das ist eine affektive Schwingung,die sich in Farben kleidet, in Töne einhüllt,Geschmackshalluzinationen in Szene setzt, aufdie sexuelle Sphäre herüberströmt oder als nervöses Schütteln, ein Erbeben und Erzittern desganzen Seins sich äußert und sich motorischin Tonkorrelate umsetzt.

Symbolismus das ist das Weib, das zu einergeschwungenen Linie wird, das Weib das sichin die Formen der Landschaft kleidet, und zumGeiste dieser Landschaft wird, zum Geiste, inwelchem sich diese letztere objektiviert.

Und diese große, makrokosmische, symbolische Dichtung ist die Novellensammlung: „Sensitiva amorosa.”

Sie ist der feinste, tiefste, intimste Ausdruckdes neuen Geistes, der großen Synthese, derkänogenetischen Entwicklungsstufe: Ola Hansson.

In ihr gipfelt die große Kunst Hanssons, sieist der Objektpunkt, in welchem die homozentrischen Strahlenbündel, die sein Wesen ausstrahlt, sich sämtlich treffen, und nur aus diesemeigentümlichen Geiste heraus kann sie gewürdigtund verstanden werden. —

V

Wo ich in dem ersten Abschnitte, als ich überParias sprach aufhörte, setze ich hier wiederumein.

Es ist derselbe Boden, auf dem sich auch die,,Sensitiva” abspielt, dieselbe Tiefe und Unterbewusstsein.

Und während Ola Hansson in den „Parias”das Ich-Bewusstsein schilderte und sich allesLeben im Unbewussten abwickeln ließ, zeigt erin der Sensitiva das Geschlechtsleben, das nurim Unbewussten aufwachsen und gedeihen kann.

Und wie er in den Parias zeigte, dass dasIch im Leben nur etwas Akzidentelles sei, dasjeden Augenblick verloren gehen kann, zeigt erhier, wie das Ich in dem Geschlechtsleben absolutkeine Rolle spiele, wie Alles unter dem Ich,nichts im Ich geschehe.

Und warum liebe ich das Weib?

Jede Linie, in die sich sein Körper ewigneu kleidet, der Teint seines Gesichtes, das Timbre seiner Stimme, der Geruch, den sein Körperausströmt, das sind Linien, Farben und Gerüche,die mit meinem innersten organischen Sein aufdas innigste verwachsen sind, und in denen meinWesen seinen höchsten potenziertesten Ausdruckgefunden hat. Das Weib, das diese feinsten undtiefsten Saiten meines Seins anschlägt, schleichtsich ohne Widerrede in mein Gehirn hinein, undich liebe es mit dem tiefen unbedingten Zustimmungsgefühl, mit dem ich das Land, dasmeine Seele geformt, liebe.

Ich liebe in dem Weibe mich, mein auf dasHöchste gesteigertes Ich; meine zerbröckeltenin allen Ecken des Gehirnes schlummernden Zustände, in denen das innerste Geheimnis meinesWesens ruht, haben sich um dieses Weib geordnet und konzentriert wie Eisenspäne umeinen Magneten, alle diese Dinge, von denen inmeinen sonstigen Bewusstseinszuständen höchstennur das eine oder das andere als ein konstituierendes Element eintrat, sind nun gleichzeitigversammelt, wie in einem Brennspiegel konzentriert, alle die Eindrücke, die das gleiche Maßhöchsten Lustgefühles repräsentieren, werden aneinandergefügt, gleichwie durch die Isothermenund Isobaren, alle Punkte gleicher Wärme undgleichen Atmosphärendruckes verbunden werden:und ich liebe das Weib, das diese Konzentrationin mir hervorgebracht hatte, ich liebe die Isobare und Isotherme meiner höchsten und tiefstenLustgefühle.

Dass ich gerade dieses Weib liebe, das istnur die Frage meiner organischen Konstitution,es ist die Frage, bis zu welchem Grade ichFormen genießen kann, ohne dass sich in dieBewegung meiner Augmuskeln auch nur dasleiseste Unlustgefühl einschleicht, bis zu welchemGrade ich die Bewegungen des geliebten Weibesinnerlich nachmachen kann, ohne dass dieseInnervationsgefühle das höchst zulässige Lustmaß überschreiten, es ist die große Frage bis zuwelchem Grade ich fähig bin, seelische Zuständenoch als Lustgefühle zu perzipieren — und dieses,,noch” ist die höchste, intenseste Spitze derselben.

Das Tiefste und Innerste meines Wesens istdie eine Seite des Bildes, das das Weib in mirentwirft, die unbewussten Gefühle der höchstenZweckmäßigkeit, des höchsten Maßes des mirZukommenden ist die andere Seite.

Und das Weib, das ich liebe, das bin Ich,mein intimstes, innerstes Ich, mein Ich alsarriére-fond, als entlegenster Hintergrund, Ichaus der Vogelperspektive, Ich, der Objektpunkteiner spiegelnden Ebene.

Innerhalb des ganzen Reizumfanges, innerhalbdessen ich Gefühle als Lustgefühle empfinde, istein engerer Umfang enthalten, in dem sich Allesals das höchste Lustgefühl präsentiert. Und dassdas Weib in diesen engeren Umfang mit allem,was es konstituiert, hineinpasst, dass es sichmit diesen intensesten Lustgefühlen deckt, deshalb liebe ich es als das Totalitätsbild allesdessen, das mir das höchste Glück bereitet, alsein inniges Ineinandersein, was vom Tiefstenund Glückseligsten in mir enthalten ist.

Und so ist das Weib mein Kraftmaß, derWertmaßstab meiner Glückseligkeitsempfindungen.

Hinter diesem engeren Reizumfange ruht dasMännchen, meine ganze Sexualsphäre mit deralle diese Zustände, welche am innigsten meinenOrganismus repräsentieren und den innerstenAusfluss meiner organischen Veranlagung bedeuten, unlösbar und untrennbar verschmolzensind.

Hier in diesem Reizumfange ruhen die vererbten Formenschätze, Gerüche und Töne, die inmeinen frühesten Lebensjahren erworben wurdenund deren Beziehungen zu meinem Geschlechtevon vornherein in meinem Gehirne präformiertwaren, so dass bei einem peripheren Reize ohneWeiteres das zentrale korrelative Bild hervorgerufen wird und umgekehrt, und hier wächstdas eigentümliche Kraut, das Hansson „Sensitivaamorosa” genannt hat.

Hier in diesem Umfange liegt auch das Fatalean der Liebe, dass sich nämlich Alles auf derGrenze bewegt, wo das intenseste Lustgefühlaufhört und Missbehagen ansetzt; Alles auf derMesserschneide, wo Glück und Unglück unmittelbar angrenzen. Hier noch Glück undFreude und Leidenschaft, draußen Ekel, nichtsals Ekel, Verzweiflung und Schmerz.

Dieser Umfang ist wie ein Gefäß übervollvon Flüssigkeit, die das leiseste Erzittern überfließen lässt, wie ein Dampfkessel bei übermäßigem Drucke, den ein paar molekulare Anstößemehr zersprengen werden, wie eine mit Elektrizität überladene Messingkugel, die sich bei Zusatz von vielleicht nur einer Elektrizitätseinheit entladen wird.

Und wie das Gefäß überfließt, wie der Dampfkessel berstet, wie in die festgeschlosseneKonzentration der Glücks-- und Liebesempfindungen zufällig ein Eindruck gelangt, der dasGeschlossene zerreißt, die Isobaren nach anderenPunkten wegrückt, all das, was das geliebteWeib am Angenehmen ausstrahlt, schief fallen,vorbeifallen oder Ekel hervorrufen lässt, wie dieaufgetürmte Bergkette vom Glück einsinkt, inunermessliche Gründe einstürzt, und alle dieSteine ins Rollen kommen, die früher den Gipfelbezeichneten, das schildert Ola Hansson inseiner Sensitiva.

Und wie das Weib sich vor seinem Geliebtenzu ekeln anfängt, weil es in seinem Gesichteplötzlich eine fatale Ähnlichkeit mit dem aufgedunsenen, widrigen Antlitz seines Vatersentdeckt, wie ein Mann sein geliebtes Mädchenverabscheut, weil er in ihm das lose und widerwärtig Hängende, das er an einer Kindesmörderin sah, wiederfindet, wie ein Mann sichwahnsinnig in ein Weib verliebt, weil ihrtränender Blick „seine Wollust so unendlichfein und so ängstlich spröde machte, dass siezum Schmerze wurde”, wie er sich qualvoll nachdiesem Blicke sehnt, das ist der Inhalt diesesBuches. —

Nichts von dem, was Hansson geschriebenhat, illustriert so evident den neuen Geist, wieSensitiva. In keinem seiner Werke hat er dieSonde tiefer in seine Psyche hineingesteckt.Was er schildert ist nur immer er selbst, inallen diesen Novellen ist nur immer ein undderselbe Typus, dieser so ungeheuer komplizierteund daher so fatal leicht zersetzbare Geist. Esist nicht ein Augenblick vom statischen Gleichgewichte da, es ist die personifizierte Instabilität, ein ewiges Wogen und Bollen, einewiges Kanten und Verschieben, ein ewigesAn-- und Abschwellen, ewiges Hin und Zurück,wie das Meer, das seinen Heizumfang gebildetund geformt hat.

Und so ist dieser Geist auch in der Liebe.— Kaum ist die Konzentration von alledem, wasan Glücksgefühlen im latenten Zustande in ihmruhte, zu Stande gekommen, so ist auch schondiese Potenzierung des Ich über das höchst zulässige Lustmaß hinausgediehen, der Menschhört auf, sein eigen zu sein, er verliert dasGleichgewicht und geht zugrunde.

Und jedes Wort durchsättigt von einem sointensen Schmerze, dass dieser aufhört, Schmerzzu sein; es ist die resignierte, hohläugige, gespenstische Verzweiflung, es ist der brutalphysische Schmerz, denn dahinter leidet, zucktund windet sich das auflösende Männchen: Dasist der Schmerz der zersprengten und zersplitterten Geschlechtsgefühle, die nur in engsterKonzentration, in stetiger Potenzierung, in ewigerSummierung bis zu den höchsten Grenzen hinaufLust bereiten.

Und hinter Allem, hinter dem Männchen undder potenzierten Psyche das sehnsüchtige, irreSinnen der öden, weiten Landstrecken, diebrütende Starre der Sommernächte, die schwüleSpannung der über der Erde gelagerten Nebelmassen, das dumpfe Brausen des Meeres und seinewiges Wogen.

Daher die spröde Empfindlichkeit, die enormeReinheit mitten in der Verderbnis und diekranke Keuschheit, mit der Alles, was nur einenSchein vom Unreinen an sich hat, als etwas ungeheuer Widriges und Ekelhaftes zurückgestoßenwird.

Was an dem Werke von einer unermesslichenBedeutuug ist, das ist die Psychologie des neuenGeistes in seiner feinsten und intimsten Struktur.

Der neue Geist auf dem Grunde des idealistischen Kritizismus und seiner Lehren, dassAlles, was da ist, nur zentral in meinem Kopfevorhanden ist, dass ich selbst nur meine Vorstellung bin, dass ich eine Welt völlig abgeschlossen, völlig einsame Welt bin, zu der es keineBrücken, keine Zugänge gibt, dass ich nichts empfinde außer meinen seelischen Zuständen, nichtssehe als nur meine zentralen Bilder, nichts höre alszentrale Tonkomplexe, dass meine ganze Kausalität sich nur aus meinen seelischen Verhältnissen und Empfindungen zusammensetzt.

Und gerade diese innere Kausalität ist inHansson bis zu den unmöglichsten Grenzen entwickelt.

In ihm bildet sich die Welt als ein Kontinuum ab. Aus dem Fluss der Erscheinungenwerden nicht einzelne Punkte herausgegriffenund festgenagelt, wie es der Mensch nochheutzutage tut, die alsdann als „Dinge”, „Grenzen”, „Gegensätze”, „Widersprüche” beschriebenwerden, sondern der Fluss wickelt sich ohneUnterbrechung ab.

Für den neuen Geist gibt es keine Gegensätze, keine Widersprüche, weil sich Alles alseine ununterbrochene Kette von fortwährendwechselnden, in allen Farben und Lichternschillernden und auf das innigste zusammenhängenden Gefühlszuständen seinem Geiste präsentiert, weil es keine Schwingung gibt, die sichnicht in Nervenschwingung und bewusste Gehirnvibration übersetzte.

Daher das Grenzen-- und Uferlose im Hansson.

Er macht zwischen Normalem und Pathologischem keinen Unterschied, weil er alle diefeinen und feinsten Zwischenstufen zwischenbeiden durchlaufen kann und beide, für das halbeGehirn gegensätzlichen Punkte, für ihn auf einereinzigen Entwicklungslinie gelagert sind, auf einerLinie, die er von Anfang bis zu Ende verfolgen,auf ihr kontinuierlich das Auge abgleiten lassenkann.

Und diese Kontinuität der Erscheinungen,die durch den enormen Umfang des Bewusstseinssich in eine Kontinuität der inneren Kausalitätübersetzt, ist der wesentlichste Gegensatz zu demherrschenden Herdentiergehirn.

Daher auch die Unmöglichkeit für Hansson,eine Resonanz zu finden. Er ist Luxusproduzent indem Sinne, wie die Tätigkeit der Geschlechtsdrüse, die die wichtigste und edelste Funktionverrichtet, im tierischen Haushalte eigentlichnur eine Luxusproduktion darstellt, die sobaldes nur geht, wieder eingestellt wird.

In einer Zeit, wo der Europäer noch nichtso weit gekommen ist, um über die Widersprücheseiner geistigen Einrichtung hinauszukommen,um Außen und Innen, Dinge und seelische Zustände streng auseinander zu halten, und überdie letzteren die ersteren zu vergessen, wo Allesnur in Hinsicht auf die Folgen gewertet wird,und je nachdem es praktisch, die Erkenntnisfördernd, und zweckmässig ist, „gut”, „normal”,— oder schädlich und unpraktisch und dann,,schlecht” und „pathologisch” genannt wird,kann eine so aristokratische und hoch differenzierte Persönlichkeit, wie die Hanssonsche, diesich nicht um die Folgen kümmert, sondernPhänomene in ihrer Kontinuität schildert, ohneRücksicht auf den praktischen und moralischenWertmaßstab, nicht verstanden werden.

Und so bin ich mit meiner Untersuchung zuEnde gekommen. —

Ich habe den größten Teil der schriftstellerischen Tätigkeit Hanssons nicht berücksichtigt,ich habe das für die Psychologie des Geschlechtesso ungemein wichtige Werk „Alltagsfrauen”,seine außerordentlich feinen Kritiken nicht erwähnt, — aber das Alles lag nicht im Rahmenmeiner Arbeit.

Die Psychologie des neuen Geistes wollte ichgeben, das Hüben und Drüben, das große jenseitige Ufer der menschlichen Entwicklung, dieeinsame Insel, die auf dem Ozean aufgewachsenist und mit der sich einst unser Kontinent vereinigen wird. —

Berlin, Mai 1892.

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