drukowana A5
20.21
De profundis

Bezpłatny fragment - De profundis

Objętość:
67 str.
Blok tekstowy:
papier offsetowy 90 g/m2
Format:
145 × 205 mm
Okładka:
miękka
Rodzaj oprawy:
blok klejony
ISBN:
978-83-288-0764-8

Pro domo mea

In ein paar Wochen gedenk' ich ein Buch herauszugeben: »De profundis«, dem ich jetzt schon einige Begleitworte an Stelle der Vorrede vorausschicke.

Ich möchte das Buch nur in wenigen Händen wissen— es ist kein Buch für das Volk — und diesen Zweckglaub' ich dadurch zu erreichen, dass ich es nur in einersehr beschränkten Anzahl von Exemplaren drucken lasse.

Ich habe in diesem Buche das Gebiet des sogenannten,,normalen Denkens“, also das Gebiet des „logischen Gehirnlebens”, des Lebens in der „Realität” (!) gänzlich verlassen. Alle, die sich auch nur ein wenig mit dem Seelenleben beschäftigt haben, wissen, was das „freisinnige Bürgertum” unter dem normalen Denken versteht: Alles, wasüber die Begriffssphäre des ehrbaren Müller und Schulzehinausgeht, ist natürlich verrückt. Selbstverständlich ist fürdiese Menschen Goethe der Maßstab des „normalen” Empfindens, wobei natürlich übersehen wird, dass er in seinenEpigrammen Proben von einer schon ganz schon vorgerückten sexuellen Perversität abgegeben hat.

Nun ja: dies ehrbare Gehirnleben, dies uniforme Gehirnleben, dessen Denkgesetze sowohl für den niedrigstenBildungsplebejer von der Sorte Max Nordau wie für denentwickeltsten und scharfsinnigsten Gehirnaristokraten vonder Art Nietzsche im gleichen Maße gelten, fängt an,furchtbar langweilig zu werden. Das hat auch Nietzscheeingesehen, und so schrieb er sein „verrücktes” Buch, d. h.sein seelischestes Buch: »Also sprach Zarathustra«...

In »De profundis« handelt es sich um die Manifestation des reinen Seelenlebens, der nackten Individualität,des Zustandes der somnambulen Ekstase, oder wie die zahllosen Worte auch heißen mögen, die eine und dieselbeTatsache ausdrücken, die Tatsache nämlich, dass es nochetwas Anderes gebe außer dem dummen Gehirn, einau delà vom Gehirn, eine unbekannte Macht mit seltsamenFähigkeiten begabt, nämlich: die Seele — die Seele,die Ekel empfand, in der fortwährenden Berührung mitder lächerlichen Banalität des Lebens zu stehen und sichdas Gehirn geschaffen hatte, um sich nicht jeden Tagprostituieren zu müssen...

Das Surrogat dieses unsichtbaren Seelenlebens: daslogische Gehirnleben, kennen wir nun zur Genüge. Dasganze Fazit aller seiner wissenschaftlichen und philosophischen Spekulationen ist ein Ignoramus und Ignorabimus, also eine gänzliche Bankerotterklärung all’ seinerverzweifelten Bestrebungen. Das künstlerische Fazit —risum teneatis amici — ist der Naturalismus, die seelenlose, brutale Kunst für das Volk, die Bürgerkunst par excellence, die biblia pauperum für das schwache „normale”Gehirn, das denkfaule, feige, plebejische Gehirn, das alleserklärt, alles zurechtgelegt haben will, das jede Tiefe,jedes Geheimnis verhöhnt und verspottet und für Verrücktheit erklärt, weil es die Seele hasst, nur weil es sienicht begreifen kann. Ja! das rohe, stupide Bürgergehirn— die famose vox populi — hasst alles, was es nicht verstehen kann, vielleicht auch, weil es die bekannte Plebejerangst hat, düpiert zu werden.

Nun ja: man überlasse dem Plebejer, was des Plebejers ist, mit Vergnügen sogar einige Herren, die durchaus,,Großgehirnaristokraten” genannt werden wollen.

Ich meine hier also eine andere Kunst. Die Kunst,die sich in der Malerei nicht mit der banalen Außenwelt,ein paar alten, stupiden Invaliden in Amsterdam zum Beispiel, beschäftigt, sondern der Welt, wie sie sich in derSeele in seltenen Stunden, den Stunden der Halluzinationund der Ekstase widerspiegelt. Ich denke auch nicht andie famosen Leoncavallos und die zahllosen Mascagnis,sondern etwa an die Fis-moll-Polonaise von Chopin, diesengrässlichen, nackten Seelenschrei. Ich meine hier auchnicht den feudalen Reinhold Begas, sondern Vigeland. Ja,ich denke jetzt an eine andere Kunst, die Kunst, die dasTageblatt-Bürgertum für verrückt, blödsinnig, impotentusw., usw. erklärt hatte.

In der Literatur hat diese Kunstgattung im orientalischen Altertum und namentlich im Mittelalter ungemeinreiche Blüten getrieben. Ja, namentlich im germanischenMittelalter. Keine Rasse hat so viele Mystiker, also Menschen, die des reinen visionären Seelenlebens teilhaftigwurden, hervorgebracht, wie gerade die germanische.

Für die moderne deutsche Künstlergeneration dieserArt, also Künstler, die sich mit den Phänomenen desSeelenlebens beschäftigen, scheint mir Amadeus Hoffmann der Urahn zu sein. Freilich hat Hoffmann an dieseelischen Phänomene als solche kaum geglaubt. Er suchtesie rationalistisch zu analysieren, etwa wie ein anderer Herrden Übergang der Juden über das rote Meer durch einekolossale Ebbe erklären wollte; vielleicht suchte Hoffmanndas Rätselhafte der Seele dem fetten Bürgergehirn, aufdas er nun einmal aus buchhändlerischen Rücksichten angewiesen war, gegen bessere Überzeugung verständlichzu machen.

Der nun so gefeierte Edgar Poe hat sich des seelischen Problems als eines wissenschaftlichen Kuriosums bemächtigt, allerdings mit einer künstlerischen Macht, diemit kalten Schauern den Rücken überläuft.

Es folgen die Revolutionen von 48, die Revolutionender Bildungssüchtigen und der Aufklärungsbedürftigen, dieRevolutionen mit ihren prachtvollen Errungenschaften: demüberflüssigen Parlamentwesen und dem wohlfeilen Presspiratentum. Pressfreiheit! Wundervoll! Das liberale Bürgertum fing an vermöge der Pressfreiheit den Gott abzuschaffen — nein! das wagte es nicht von wegen der Monarchie, die von Gottes Gnaden bestand, aber es hat seinDasein — auf „wissenschaftliche Gründe” gestützt — angezweifelt. Das liberale Bürgertum durfte aber wenigstensdie Seele abschaffen und ihre unleugbaren Offenbarungenals Blödsinn und Humbug erklären. Gott, wie es sichgefreut haben mag, als der Spuk von Resau endlich entdeckt und gerichtlich abgeurteilt wurde!

Mittelmäßige, beschränkte Geister kommen zur Herrschaft: die Büchners, die Vogts, die Strauß, die Spencersund die Psychophysiologen und wie sie alle heißen mögen,die Braven.

Das goldne Zeitalter des Materialismus und des Berliner Tageblattes, des naturalistischen Dramas und der freisinnigen Politik!

Erst in der jüngsten Zeit hier und da Einer, der verwundert vor irgend einer seelischen Offenbarung stehenbleibt, vor einem langen Blick, der in später Stunde gewechselt wird und den ganzen Menschen aufwühlt. Hierund da Einer, der Angst bekommt vor einem momentanenBlitz der Seele, der durch das Gehirn fährt und das Unterste zu oberst kehrt. Hier und da Einer, dem etwaszu Bewusstsein kommt, etwas Fremdes, Furchtbares, etwas,wovon er sich keine Rechenschaft geben kann: eine Idee,die — mag sie noch so schön physiologisch erklärt werden — nicht in den Ideengehalt seines Gehirnes hineinpasst, eine Tat, die unabhängig von dem Gehirnwillen, jatrotz des Gehirnwillens geschah. Das liberale Bürgertumhat dies alles für Verrücktheit erklärt, die famosen bürgerlichen Psychiater haben dafür den schönen Ausdruck,,Psychopathie” gefunden, und der senile Schwachkopf MaxNordau hat sogar darüber zwei Bände geschrieben, lehrreich für eine Alterserkrankung dieses Herrn, an der bekanntlich schon Cicero litt.

Eine neue, unbekannte Künstlergeneration tritt alsoauf. In Belgien — (Ich sehe hier von den sonderbarerweise anerkannten und Gottseidank nicht verstandenenKünstlern wie Huysmans und Maeterlinck ab) Verhaeren,Krains, Eckhoud, — in Skandinavien Ola Hansson — inPolen Przesmycki, — in Deutschland Dehmel und Schlaf.Freilich scheint Dehmel den Weg, den er mit solcherMacht und solcher Sprachgewalt in „Aber die Liebe”betreten hat, jetzt in seinen „Lebensblättern” verlassen zuwollen. Unter den Ländern aber, in denen diese literarischeRevolution mit besonderer Kraft und Begeisterung geführtwird, scheint mir Böhmen obenan zu stehen. In derReihe äußerst begabter und intelligenter Künstler nenneich hier nur Machar und Jirí Karásek.

So weit musste ich ausholen, um den Zweck meinerjüngsten Publikation zu rechtfertigen.

Was ich also mit meinem »De profundis« bezwecke,ist einzig und allein, ein seelisches Phänomen darzustellen— ich denke die Seele immer im schroffsten Gegensatzzum Gehirne. Das ist alles. Aber ja: die Handlung!Hm, die Handlung, vielleicht auch Situation, Verwicklung,Intrige usw. Ich pflege keine Handlung zu haben, weilich das Leben der Seele schild're und die Handlung istnur eine Kulisse der Seele, eine schlecht bemalte Kulisse,wie sie auf einer Liebhaberbühne einer Kleinstadt zu sehenist. Das Leben bedarf keiner Handlung, um Konflikte zuerzeugen. Dazu genügt ein harmloser Gedanke, der nachund nach vom ganzen Menschen Besitz nimmt und ihn zuGrunde richtet.

Man sollte mir ja nur nicht wieder mit dem dummenVorwurf kommen, ich sähe die Menschen nur auf das Geschlecht hin. Nun: ich sehe die Menschen weder „daraufhin”, ob sie geniale Geschäftsleute sind oder nicht, noch,,darauf hin”, ob sie in einer scheußlichen finanziellenMisere leben oder sich Pferde und Maitressen haltenkönnen, noch „darauf hin”, ob Hans die Grethe kriegtoder nicht, ich sehe sie ebensowenig „darauf hin”, wassie sonst als „logische Gehirnmenschen” sind, oder wassie als solche leisten können, eventuell leisten könnten,ebensowenig, wie ich jemals ein Möbelstück oder einZimmerarrangement beschrieben habe: ich sehe die Menschen lediglich „darauf hin”, ob es in ihnen jemals zurOffenbarung der Seele kommt oder nicht. Und weil esseltene Fälle sind, in denen sich die Seele offenbart, einmal vielleicht, wie nur einmal der heilige Geist über dieApostel kam, so sind die Fälle, die ich analysiere, ebensehr seltene Fälle.

Das Einzige, was mich interessiert, ist also nur dierätselhafte, geheimnisvolle Manifestation der Seele mitall’ ihren Begleiterscheinungen, dem Fieber, der Vision,den sogenannten psychotischen Zuständen — doch ichwill meine literarischen Freunde mit der bürgerlichenPsychiaternomenklatur nicht erheitern.

Ich schreibe: man sollte mich mit dem Vorwurf verschonen, ich wage es allerdings nicht zu hoffen. Aberebensowenig wie ich etwas dagegen vermag, dass imganzen Mittelalter die seelischen Offenbarungen durchwegnur auf dem Gebiete des religiösen Lebens zu finden sind,ebensowenig kann ich etwas an der Tatsache ändern,dass in unserer Zeit die Seele sich nur in dem Verhältnisder Geschlechter zu einander offenbart. Mag man dafürder Seele die Vorwürfe machen, nicht mir. Denn allesonstigen seelischen Phänomene der sogenannten „weißenMagie” entfallen ebenso wie früher auf das Gebiet desreligiösen Lebens.

Wenn ich von der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben spreche, so meine ich natürlich nicht diefade, brave, komisch-pikante Erotik eines Guy de Maupassant, noch die süßlich-widerliche Unterrockspoesie fürKonfektionösen eines Peter Nansen, noch die gesättigteGleichgültigkeit des Ehebettes. Was ich meine, das ist dasschmerzhafte, angsterfüllte Bewusstsein einer unnennbaren,grausamen Macht, die zwei Seelen aufeinander wirft undsie in Schmerz und Qual zusammenzukoppeln sucht, ichmeine die intensive Liebesqual, in der die Seele bricht, weilsie sich mit der anderen nicht zu verschmelzen vermag,ich meine das enorme Vertiefungsgefühl in der Liebe, woman in der Seele tausend Generationen tätig fühlt, tausendJahrhunderte von Qual und abermals Qual dieser Generationen, die an Zeugungswut und Zukunftsbrunst zu Grundegingen, ich denke nur an die seelische Seite in demLiebesleben: das Unbekannte, Rätselhafte, das großeProblem, das Schopenhauer zuerst ernsthaft in seiner,,Metaphysik der Liebe” aufgeworfen hatte, freilich mitwenig Erfolg, weil die logischen Mittel für das Unlogischeder Seele nicht ausreichen. Unsere Zeit, die überhauptkeine Probleme hat, die nicht schon durch die „tiefstenGeister” gelöst waren, kennt die Liebe nur als eineÖkonomische und sanitäre Frage, und es ist ganz natürlich,dass für die bürgerliche Kunst die Liebe nur als dermehr oder weniger selige Weg in das finanziell und gesundheitlich geregelte Ehebett besteht. So kam es, dassdies tiefste Seelen-- und Lebensproblem nur äußerst wenigeDenker gefunden hat. Und sonderbar genug, dass geradein einer solchen Zeit ein Künstler — allerdings auf demGebiet der „bildenden” Kunst — erstehen sollte, der indie schauerlichen Geheimnisse und Abgründe des Geschlechtslebens weit tiefer eingedrungen ist, als irgend einPhilosoph vor ihm: Félicien Rops.

Man sehe sich seine Werke an, und man wird verstehen, was ich unter der Offenbarung der Seele im Geschlechtsleben meine. Hier nur ein paar Worte, wieFélicien Rops den ewigen Erreger der Liebesgärung, dasWeib, auffasst, um gleichzeitig auf die enorme Distanzzwischen dieser und der bürgerlichen Kunst hinzuweisen.

Für die bürgerlichen Künstler ist das Weib ein Spielzeug oder ein unglaublich edles Wesen, eine Kokotte, odereine steif verschnürte, unnahbare Größe, sie ist ein Miezchen oder eine präraffaelitische Kunigunde... he, he,wie singen doch unsere braven Lyriker von den verschiedenen Fräuleins?

Für Rops ist das Weib eine furchtbare, kosmischeMacht. Sein Weib ist das Weib, das in dem Manne dasGeschlecht wachgerufen hat, ihn an sich mit tausendwohlfeilen Listen kettete, ihn zur Monogamie erzog, dieMännerinstinkte durcheinanderwarf, sie schwächte, verschobund verfeinerte, die Elemente seiner Begierden in neueFormen ordnete und ihm das Gift seiner teuflischen Lüstein das Blut impfte.

Und in der schmerzhaften Ekstase des Schaffens hater die längst verlorenen Verbindungen wiedergewonnen, dieuns an unsere mittelalterlichen Vorfahren knüpfen. Er istnicht mehr der Mann, der sein Leben einsetzt für denlächerlichen Preis des Fünfsekundengenusses, er leidetnicht mehr unter dem Weibe, er bäumt sich auf in demwilden Hass gegen die furchtbare, zerstörende Kraft undwird zu einem fanatischen Ankläger, der in der Rasereigegen seine eigene Natur das Weib unter Umständendem Feuertode preisgeben würde, um die Welt von dem,,größten aller Übel”, dem Weibe, zu befreien.

Und hier steht er vollkommen im Einklänge mit denmittelalterlichen Diabologen. Man lese nur die Doktoren:Bodinus, Sinistrari, Del Rio, Sprenger... Zwei Weltenschmelzen ineinander und begegnen sich in einer und derselben visionären Erkenntnis der Wurzel alles Daseins,der Wurzel jeglichen Schmerzes und aller Qual.

Soll ich nun jetzt vielleicht motivieren, warum ich in »De profundis« ein „succubat” — der Deutsche scheintkeinen passenden Ausdruck dafür zu haben — geschilderthabe, dies grässliche succubat» das der ganzen großenKultur des Mittelalters in der grandiosen Schöpfung desTeufels und der Hexe den Stempel aufgedrückt hatte?

Ich hoffe: nein!

Ja, noch etwas: Die bürgerliche Kritik schreit soentsetzlich nach Kraft und Gesundheit. Sonderbar? Esgab wohl keine Zeit, die mehr stupid, mehr protestantischund mehr borniert wäre, als die unsrige. Ist das nichtGesundheit genug? Ist das nicht Gesundheit genug, dassunsere Zeit so krankhaft seelenlos ist? Und würden dieKraftmeier, die famosen Abse der Literatur nicht einmalzur Abwechselung ein solches Werk mit Interesse lesenkönnen, ohne es gleich in den Schmutz zu ziehen undden Verfasser einen dekadenten Wüstling zu nennen?

Stanisław Przybyszewski

De profundis

Meinem Freunde

Meiner Schwester

Meinem Weibe

Dagny

Er ging müde und wie zerschlagen nach Hanse. Esfröstelte ihn trotz der tropischen Hitze. Im Halse fühlteer feine, scharfe Stiche wie von glühenden Nadeln.

Jetzt würde er wohl ernstlich krank werden. Erfühlte es kommen. Und gerade hier: in einer fremdenStadt ...

Er ging schnell die Straße entlang. Nach Hause.Bald trat ihm kalter Schweiß auf die Stirne, eine unangenehme feuchte Hitze kroch schwül über seinen Körper,und die Stiche im Halse wurden noch häufiger undschmerzhafter.

Die Angst wühlte sich tiefer und banger in sein Blut:er begann zu laufen.

Oben auf seinem Zimmer warf er sich aufs Bett.

Sein Herz schlug gewaltsam. Er fühlte, er hörte diefeinsten Adern klopfen und zittern und sich in wachsenderMacht mit Blut füllen, als ob sie platzen wollten.

Er setzte sich behutsam im Bett zurecht, nun reckteer sich langsam hoch: es wurde noch schlimmer. Er schobdie Kissen gegen die Wand, legte sich halb hin, presstedie Stirn gegen die kalte Wand und horchte auf dasFieber.

Allmählich glättete es sich in ihm. Das Blut flosslangsam zum Herzen zurück. Er hustete frei auf, ohneSchmerzen.

Er wartete. Ob es nicht wiederkäme?

Nein: Das Herz schlug fast ruhig, nur seine Händefieberten und er war wie gebadet in Schweiß.

Er knöpfte langsam die Kleider auf und trocknetesich die Stirn. Nur seine Hände: sie glühten so heißund so feucht.

Nun ja: es war nicht das erste Mal. Es wird sichervorübergehen.

Seltsam, dass er jedes Mal, wenn er von seiner Frauwegfuhr, von diesem Fieber befallen wurde. Jetzt sollteer sie hier haben: nur ihre Hände festhalten, und alleswürde gut werden. Er wurde sicher gleich einschlafen...Wieder begann es in ihm zu schwellen. Sein Körperfing von Neuem an zu zittern, es würgte ihn im Schlundund seine Fäuste ballten sich krampfhaft.

Eine kranke Sehnsucht nach ihren Händen, eine quälendeGier, ihren Leib an sich zu pressen, sein Gesicht auf ihreBrust zu legen: deutlich fühlte er ihre Hand mit leisenSchauern über seinen Körper gleiten und rinnen. DasGefühl wurde so visionär deutlich, als wäre sein Tastsinnein Organ für sich geworden mit einem selbstständigen Gedächtnis: Er unterschied die feinste Gefühlsnuance, die erdoch sonst nur bei der wirklichen Berührung ihres Körpersempfand.

Und die Sehnsucht fing an zu sprießen und schwollund schoss wild hinauf. Die Qual krümmte seine Fingerund zerrte an seinen Nerven, er kauerte zusammengekrampft,als wollt' er sich in seinen eignen Leib einwickeln.

Er fuhr auf und kam zur Besinnung. Sein Herz lief,eine rasende Angst bäumte sich steil in ihm hoch. Mitwachsendem Entsetzen hörte er auf das Klopfen undBrausen in seinem Körper. Er fühlte das Blut mit wütendem Drang die Gewebe anfüllen und auseinanderreißen.

Er sprang auf, blieb stehen, dumpf, starr. Seine Gliederflogen und seine Zähne klapperten in Fieberfrost.

Was sollte er nur anfangen?

Er durfte sich um Gotteswillen nicht eine Sekundedieser Qual hingeben, sonst wurde er sicher die Nachtnicht überleben.

Mit zitternder Ungeduld suchte er nach den Streichhölzern. Die Vorstellung, dass er sie vielleicht nicht findenwürde, brachte ihn der Ohnmacht nahe, er tappte umherund atmete tief auf: sie waren da.

Er zündete das Licht an und blieb lange reglos stehen.

Nun musste er an etwas denken, an irgend etwasGutes und Ruhiges, etwas, das sich wie ein Ruhekissenunter seinen Kopf schöbe.

Plötzlich entdeckte er einen Brief — auf dem Tischmitten unter seiner Wäsche.

Dass er den ganzen Tag nicht daran gedacht hatte,nachzusehen, ob ein Brief da wäre.

Es ging etwas Besonderes in ihm vor. Er ging ganzwie im Traum. Und jetzt hatte er keinen Mut, den Briefzu öffnen. Wenn irgend etwas Unangenehmes drin stand!Das wurde sicher sein Gehirn zerstören.

Da wurde er wütend. Lächerlich, dass ihn das bisschen Fieber so herunterbringen konnte. He, he: ein bisschen Fieber nicht überwinden zu können! He, he: dasbisschen Fieber wurde er schon überwinden. Er hatte jadoch schon viel Schlimmeres durchgemacht...

Über seinem Gehirn lag etwas wie eine feine Eisplatte.Das kühlte förmlich. Er wurde plötzlich so ungewöhnlichklar. Aber es war, als würde die Gehirnmasse verdrängt,tiefer gepresst, die kühle Eisplatte wuchs zu einem Eisklumpen an, die Kälte begann weh zu tun: jetzt fuhr esihm in langen, glühenden Striemen über den Rücken: erlachte heiser auf.

Na natürlich! Ein ganz gewöhnliches Fieber...

Er zerknitterte krampfhaft den Brief.

Ein ganz gewöhnlicher Fieberanfall... Er begannzu pfeifen.

Nun fühlte er lange Nadelstiche in der Brust.

Aha: alte, gute Bekannte... Wieder lachte er laut:das würde ihn sicher nicht aus dem Konzept bringen, dazumüsste die Tortur viel, viel schmerzhafter sein.

Er ging langsam herum, lachte und pfiff.

Ja, richtig: eine Zigarette!

Aber der Rauch machte ihn schwindlig.

Nicht einmal rauchen durfte er: das war doch wirklich schändlich. Das hatte aber doch nichts zu bedeuten,er war nur sehr schwach. Natürlich: wenn man nichtisst, wird man schwach.

Ja, der Brief, der Brief...

Er zerriss resolut das Kuvert, aber die Buchstabentanzten vor seinen Augen, er sah lange hin, sammelte seineganze Willenskraft und zwang sich schließlich, den Briefzu lesen und zu verstehen.

Er las langsam. Die Buchstaben waren so sonderbarlebendig. Als hörte er ihre Stimme, nur in einer neuenForm gegliedert:

Mein teuerster, mein einziger Mann, Du — Du...mein!

Schon eine Woche, seit Du weg bist. Willst Dunoch länger bleiben?

Ich bin neugierig, was Du den ganzen Tag über inder Stadt machst. Hast Du Deine Mutter besucht? Natürlich nicht. Aber mit Agaj bist Du oft zusammen, nichtwahr? Es muss ihr doch sehr schwer sein, fortwährendzwischen Dir und Deiner Mutter zu vermitteln. Sie istein so prachtvolles Mädchen. Ich liebe sie fast eben sosehr wie Dich und ich habe so oft über ihre Liebe zuDir nachgedacht. Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wieeine Schwester. Ich habe nie etwas Ähnliches unter Geschwistern gesehen? Bist Du sehr oft mit ihr zusammen?

Und morgen werden es zwei Jahre, seit wir verheiratetsind. Denk nur: zwei Jahre! Hast Du den Tag vergessen? Ich bekomme doch sicher morgen einen langen,schönen Brief von Dir? Oder — oder? Ich wage esnicht zu hoffen, aber vielleicht kommst Du selbst?

Nein, nein, komm lieber nicht. Ich habe das Gefühl,dass es Dir in der Stadt gefällt, und das macht mich glücklich. Du hast so entsetzlich gearbeitet und jetzt musst Duein bisschen Abwechslung haben, ein wenig Luftveränderung,nicht wahr?

Aber wenn Du kämest, das wäre wunderbar. Ich liebeDich — Du!

Du fühlst Dich doch sehr wohl — wie? Dann bleib'nur lieber, bleib', mein Teuerster Du!... Und weißt Du,ich bin manchmal eifersüchtig auf Agaj, ich habe Angst,dass Du sie mehr liebst wie mich. Aber das ist dochUnsinn, nicht wahr? Du musst sie tausendmal von mirgrüßen und ihr sagen, dass ich sie liebe, dass sie meineeinzige Freundin ist.

Nun leb' wohl. Du, mein Liebling. Tausend Küssevon Deinem Weib.

Er fing an, den Brief wieder von vorn zu lesen.

„Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester...”

Ein heftiges Licht durchfurchte seine Seele.

Er sah deutlich Agaj vor sich sitzen. Das schwarzeseidne Kleid schmiegte sich mit warmer Wollust um dieschlanke, magere Gestalt. Er fühlte durch das Kleid diefeinen, zarten Glieder.

Er ließ sich in den Fauteuil sinken.

Sie wich nicht von ihm. Immer sah er sie dicht,dicht neben sich. Er entkleidete sie mit den Augen, erwühlte in ihrer Nacktheit, er begehrte sie: sein Gehirnbegann in einem gierigen Taumel zu wirbeln.

Aber Agaj ist ja meine Schwester! schrie er entsetztin sich hinein.

Da hörte er sie plötzlich sprechen. Er verstand nunalles, was er noch vor drei Stunden nicht verstehen konnte.

„Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eineSchwester...”

Die paar Worte schlugen sich tief in seine Seele. Eswar, als wäre dort ein Pünktchen Licht hineingefallen,das nun plötzlich zu einer Feuersbrunst ausgewachsen war.

„Als Du das letzte Mal ins Ausland fuhrst, glaubtich, dass ich verrückt würde.”

Er hörte es damals fast gleichgültig an, und jetzt, jetztendlich verstand er es.

Er riss die Augen auf. Er riss sie noch weiter auf:das furchtbare Licht blendete ihn.

Er kroch ganz in sich zusammen. Ein schmerzhafterWollustkrampf fraß saugend an seinem Hirn, er wehrtesich nicht: die Schauer einer gierigen Lust krochen wieGift in jeden Nerv seines Körpers.

Er schrak hoch.

Das war das grässliche Fieber! Gott, Gott, was sollteer nur anfangen? Er musste wachen, er musste lauernund wachen, dass es nur nicht wiederkäme. Seine eigneSchwester!... Aber das ist ja Wahnsinn...

Er lachte irrsinnig. Er lachte lange, bis er Angstvor seinem Lachen bekam.

Natürlich war es das Fieber. Dass er dagegen somachtlos war!... Er musste ins Bett zurück. Ja, sichganz lang hinlegen, dass das Herz sich wieder beruhige.

Er entkleidete sich und legte die Streichhölzer dichtneben sein Bett.

Ich werde sie wohl bald wieder brauchen, lächelte erseltsam.

Nun löschte er die Lampe aus. Eine unerträglicheHitze. Die Decke lastete auf ihm wie ein Alp: er warf sie ab.

Plötzlich mit einem Ruck spannte sich sein Gehirnab, eise glückliche Ruhe kam über ihn.

Ein paar Gedankenbrocken gingen langsam durchseine Seele, zögernd, zerrissen, wie Wolkenlappen nacheinem Gewitter. In seinen Augen flackerte ein winzigesLichtchen, wie ein Irrlicht über einem grünen Sumpf. Erverfolgte es, wie es sich in zackigen, steilen Linien emporwarf und wieder herunterfiel, schwer und jäh wie ein gefallener Stern. Er sah es über dem Sumpf blitzschnelldahinschießen und dann wieder in irren Kreisen tanzen,schneller und schneller, bis es schließlich wie eine glühendeLichtmasse fahl den Sumpf umlohte. Und die grüne, fahleSonne wuchs, schwoll, goss sich kochend über, leckte andem Dunkel mit gierigen Zungen und zerfraß es zu blutigenFetzen. Und da schossen die Zungen in schmetterndenSturmfanfaren jäh hinauf — höher noch: mit wüster Machtwarfen sich die Sonnenbrände steil empor, bis sie amHimmel zerschellten. Noch sah er sie drängend emporzüngeln, dann brachen sie langsam an der Spitze, krochenzögernd ineinander und verschlangen sich in einem brünstigenGeflecht.

Und aus dem kochenden Orkan des Lichtes wuchsihm ein entsetzlicher Gesang hervor.

Eine Verzweiflung wie vor tausend offenen Gräbern.Als hatte sie der Himmel geöffnet und der Menschensohnstiege hernieder, um das Gericht über die Guten und die Bösen zu halten. Millionen Hände fühlte er sich in verblutendem Todeserethismus emporrecken mit Fingern, dieum Mitleid und Gnade schrien. Er hörte ein tierischesGebrüll, das wie ein Meer von dampfendem Blut in kochendem Gischt zum Himmel spritzte, und immer fühlte er dieknochigen Finger sich krallen und spreizen und im brechenden Schmerzenskrampfe schreien:

„Ad te clamamus exules filii Hevae, ad te supiramusgementes et flentes in hac lacrymarum valle”...

Und er sah einen Zug von Tausenden von Menschenvorbeirasen, gepeitscht von einer brutalen Ekstase desUnterganges, unter einem Himmel, der das Feuer und diePest auf sie herabspie. Er sah die Seele dieser Kreaturenin dem ekelhaften Veitstanz des Daseins sich wälzen undzucken, er sah den zerfleischten Rücken einer ganzenMenschheit und die Verzückung des Wahnsinns in dem vertierten Auge.

Und langsam hörte er den Zug sich entfernen, diedumpfen, qualtrunkenen Töne klangen wie das Röcheln derletzten Agonie und die kupferrote Flammensonne warfgrüne, schillernde Lichtstreifen über die Sümpfe von Blut.

Ad te clamamus exules filii Hevae! hörte er plötzlichin sein Ohr kichern: ein Weib glitt in sein Bett. IhreGlieder wanden sich langsam um seinen Körper, zweischmale Arme umklammerten ihn fest, schmerzhaft fest,und er fühlte die Spitzen zweier Mädchenbrüste sich inseinen Körper hineinglühen.

Er erstickte. Sein Herz schlug nicht mehr, nur eingeller Sturm der Wollust zerwühlte sein Hirn. Ihr heißerAtem versengte sein Gesicht, und ihre Lippen saugtensich ächzend an seinem Munde fest. Wie weißes Eisenglühte ihr Leib.

Da fühlte er wieder den Zug herannahen, sich wieeinen Knäuel von verstrickten Leibern dumpf und schwerheranwälzen: ein Knäuel von Leibern, die sich bissen, mitrasenden Fäusten auf einander losschlugen, sich zerstampftenund in Höllenqualen auseinanderrissen, aber sich nicht zutrennen vermochten. Der Gesang wurde zu einem Geheulvon wilden Bestien, die Verzweiflung kreischte grell indem verblutenden Hallelujah des Vergehens.

Er lachte, er schrie mit, aber er ließ das Weib nichtlos. Er fraß sich mit den Fingern in ihren Leib. IhrHerz fühlte er in seinem Körper klopfen, schwer, dumpfwie einen Klöppel gegen die geborstene Metallwand derGlocke, zwei Herzen fühlte er plötzlich Blut in sein Gehirnemporschießen, sich an einander reiben, und einander wundzerschürfen.

„Ad te supiramus gementes et flentes in hac lacrymarum valle”...

Die Verzweiflung kippte um in einen Abgrund vonTollwut und die Finger brachen inHass, in eine zuckende, geifernde Blasphemie, er fühlte denMenschenknäuel den Himmel anspeien, er hörte ihreLungen in einem grässlichen Schrei auseinanderreißen:Mörder! Mörder!

Jetzt erlahmten seine Hände, er ließ sie los. Undda wälzte sie sich über ihn, er hörte sie schreien, er fühlte,wie sie mit den Zähnen ihm die Halsadern zerschnitt, wiesie ihre Hände wühlend in seinen Körper vergrub.

Und von Neuem steifte sich sein Körper. Er warfsich über sie her, er legte sich über sie mit verzweifelterKraft: Ihr Leib wand und bäumte sich. Aber er warstärker. Er fesselte den widerspenstigen, zuckenden Körpermit Händen und Beinen, sein Leib warf sich ein paar Malauf und ab im schmerzhaften brutalen Krampf: der wildeSturm barst in einem langen, verröchelnden Laut.

Noch hielt er fest ihren Leib umschlungen. IhreGlieder lösten sich. In ihren Händen zuckte sein Herzwie eine verlöschende Flamme. Die letzte Schauerwogeverebbte: ein unsagbar ruhiges Glück tauchte in sein Blut.

Da: plötzlich fühlt' er sie entweichen, ihre Gliederglitten langsam an seinem Körper entlang; er griff nachihr, verzweifelt sprang er ihr nach...

Agaj! schrie er, Agaj!

Im selben Nu stolperte er, stürzte lang hin und kamzu Bewusstsein.

Er lag auf dem Boden.

Da warf er sich auf das Bett, die Angst nestelte auflösend an seinem Hirn.

Das war nicht Traum, das war mehr wie es jemals inder Wirklichkeit sein konnte, tausendmal mehr, schrie erin sich hinein... Sollte er wirklich wahnsinnig werden?

Mit letzter Kraft warf er alle Gedanken aus dem Kopf,mit Verzweiflung klammerte er sich an eine dumme Erinnerung, aber das Hirngespinst seines Fiebers goss sichschäumend über seine Seele: er fühlte so lebendig dieWollustraserei ihres Körpers, seine Lippen waren wund,sein Körper wie gebrochen von der Brunst ihrer Umarmung.

Das war Agaj — der Alp Agaj — der Vampir Agaj!

Er fuhr entsetzt auf:

Sie war es wirklich, sie konnte zugleich an zweiStellen sein. Sie konnte sich teilen, und jetzt war siebei ihm.

Er fühlte, dass die Angst ihn jetzt töten würde. Erwollte Licht anzünden. Seine Hände zuckten und flackerten.Endlich gelang es ihm.

Das beruhigte ihn einen Augenblick.

Und plötzlich, wieder von Neuem kam über ihn einwilder Paroxysmus von Gier und Sehnsucht nach Agaj.Und schon wollte er sich von Neuem in die Fieberorgiedieser blutschänderischen Wollust werfen. Er brauchte nurdas Licht auszulöschen, und er wurde es von Neuem erleben.

Aber die Angst schoss in ihm empor. Ein Strom vonAngst staute sich in seinem Hirn: das würde sein Lebenkosten.

Er faltete krampfhaft die Hände und suchte stöhnendnach Erlösung.

Endlich packte er gierig ein Buch, das auf dem Nachttisch lag: Auf der ersten Seite sein eignes Portrait.

Er sah flüchtig hin: sein Blut gerann vor Schreck.Er sah wieder hin: die Linien schienen lebendig zu werden,das Gesicht wuchs, bekam Leben, schien sprechen zuwollen...

Er blätterte ein paar Seiten um und fing an laut zulesen. Aber seine Stimme klang ihm dröhnend im Gehirne wieder, und er hatte das Gefühl, dass der Andre imnächsten Moment hervorkriechen werde, bald, bald werdeer aus dem Buche herauswachsen und ihn anstarren...

Das ganze Buch bekam etwas Lebendiges, es schiensich in seinen Händen zu bewegen, er warf es entsetztweg, aber es bewegte sich, es kroch auf dem Boden umher, der Andre arbeitete sich mühsam hervor, jetzt, jetztwürde er ihn sehen...

Er sprang rasend aus dem Bett, warf sich mit seinemganzen Körper über das Buch, packte es dann mit denHänden, würgte es, riss es auseinander, aber er fühlte, dasser hochgehoben wurde, gewaltsam, wie von einer Windehochgeschraubt...

Das ist Wahnsinn, das ist Wahnsinn! schrie es in ihm.Er sprang auf, stierte wie abwesend auf das Buch: dieVision war vorüber, aber er hatte Angst es aufzuheben.Endlich kam er zu sich.

Er setzte sich hin: Ohnmacht umfing lähmend seinHerz. Er sank auf das Bett und stierte in stumpfer Verzweiflung auf die Decke.

Da stellte sich plötzlich die Erinnerung an die Orgie,die er soeben durchlebt hatte, wieder ein.

Ein krankes Verlangen begann ihn zu peitschen, seineKräfte gaben nach, schon fing er an zurückzusinken, dastand er mit einem Mal ganz mechanisch auf, ohne im Geringsten daran zu denken oder es zu wollen, kleidete sichwie in einem somnambulen Traum an und ging auf dieStraße.

Er sah sich um: er war wirklich auf der Straße. Eswurde ihm nicht ganz klar, wie er heruntergekommen war.Aber er war glücklich, dass er nun weg, weg war von dementsetzlichen Zimmer, wo Satan seine Messe feierte.

Jetzt musste er an Satan glauben, murmelte er tiefsinnig, ja an Satan und an seine raffinierte, grausame Geschlechtsmesse...

Er setzte sich hin auf die Stufen eines Denkmals, vergrub den Kopf in beide Hände und verfiel in einen fiebrigen Halbschlaf.

Da schrak er zusammen: Jemand war dicht vor ihmstehen geblieben.

Er sah auf. In dem Zwielicht des ersten Morgengrauens sah er ein Mädchen, sah nur, dass sie sehr blasswar und große weite Augen hatte.

Sie sahen sich lange an.

— Ich will mit Dir gehen, sagte er und stand auf.

— Komm! Sie ging schnell voraus.

— Geh' nicht so schnell, geh' langsam. Ich habe eineentsetzliche Angst... Aber Du wirst meine Hände halten,dann werd’ ich gleich schlafen... Ich bin gar nicht wieandere Männer, gar nicht, fügte er nach einer Pause hinzu.

Sie sah ihn verwundert an.

Er merkte plötzlich, dass er sprach, ohne es zu wissen.

Sie blieben wieder stehen.

— Du bist ja noch ein Kind, sagte er erstaunt, ichkönnte Dich ja auf meine Hände nehmen und tragen. UndDu gehst so leicht, dass ich kaum Deine Schritte höre...

— Komm, komm: es ist noch weit.

— Weit? Aber ich kann ja kaum gehen.

— Gib die Hand. So...

Er fühlte plötzlich eine neue Kraft.

— Und Du wirst meine Hände halten, fest, sehr fest,selbst im Schlaf, willst Du?

— Ja, ja...

— Ist es noch weit?

— Bald, bald...

Sie gingen stillschweigend.

— Hier! sagte sie leise.

— Hier?

Sie gingen eine Treppe hinauf.

— Nun komm, komm, sie küsste ihn flüchtig, wirsind beide so entsetzlich müde, so entsetzlich müde, wiederholte sie nachdenklich. Ich werde bei Dir schlafen undimmer Deine Hände halten.

Er legte sich hin und nahm sie in seine Arme wieein Kind.

Sie schlang die Arme um seinen Hals.

— So fühlst Du mich stärker, sagte sie ernst.

— Wer bist Du? fragte er leise.

Sie antwortete nicht.

Er schlief sofort ein.

Sie saßen auf der Veranda eines Restaurants.

Es war später Nachmittag. Die Häuser warfen schwere,satte Schatten über die breite Straße. Das dichte Laubder Bäume war gesprenkelt mit purpurnen Flecken. Weiterab ein Baum, dessen Blätter schon ganz gelb waren undabwärts die Straße entlang flirrte unruhig eine ganze Farbenskala von fiebrigem Purpur bis zum welken Weißgelb hinab:er bekam ein plötzliches Interesse für die Tausende vonFarbennuancen...

— Nun, warum sprichst Du denn kein Wort? Sollenwir den ganzen Nachmittag so stumm dasitzen?

Agaj war sehr erregt.

Er sah sie an und lächelte seltsam.

Sie fuhr auf.

— Warum siehst Du mich so an?

Sie starrten sich lange an. Sie wurde rot und senktedie Augen.

— Noch nie hast Du mich so angesehen, murmeltesie leise.

Er rückte ihr näher.

— Ja, Agaj, ich habe Dich noch nie so angesehen.Du hast Recht. Aber Du bist mir nicht mehr das, wasDu mir gestern warst. Ich bin neugierig auf Dich. Ichkannte Dich bis jetzt nicht.

Sie sah ihn gespannt an.

— Ich sehe Dich anders an, als ich Dich gestern angesehen habe... Er schwieg eine Weile. — Warum ichnicht spreche? Ich will Dir nichts Furchtbares sagen.

Sie warf den Kopf hoch und starrte ihn herausfordernd an.

— Aber darauf wart' ich ja die ganze Zeit — aufdies Furchtbare. Mein ganzes Leben, vierundzwanzig Jahrewart' ich auf dies Furchtbare! Sag' es doch endlich.

Er wühlte in ihr mit seinem Blick. Sie sah zur Seite.

— Es ist mein Ernst, Agaj! Ich bin heute ganzsonderbar ernst. Ich war in meinem Leben nicht so ernst.

— So? So? Aber warum solltest Du nicht ernstsein?

Er lachte boshaft.

— He, he, Du bist neugierig, Du willst mich herausfordern... Aber weißt Du denn nicht, was ich Dir zu sagen habe? Fühlst Du es nicht?

Sie schwieg.

— Fühlst Du es nicht? Er erbebte.

Schweigen.

Sie stieß das Glas an und trank es aus.

— Trink doch, lachte sie. Du willst wohl Abstinenzlerwerden? He? Hast wohl wieder Fieber? Armer Du!

Er trank hastig; seine Hand zitterte.

— So sag' doch endlich das Furchtbare! Siehst Dunicht, wie ich neugierig bin?

— Soll ich es wirklich sagen?

— Warum solltest Du es verschweigen? Sie lachtehöhnisch. Aber trink doch, trink! Deine Adern klopfen,als wollten sie Dir die Haut zerreißen.

Er trank wieder.

— Agaj, erinnerst Du Dich an die furchtbare Nacht— damals...

Sie zuckte merkbar.

— Erinnerst Du Dich?

— Nein!

— Oh, oh — Du erinnerst Dich sehr gut. Seit zwölfJahren denkst Du immer daran. Warum lügst Du? He,he... Du warst wohl zwölf Jahre damals, dreizehn —wie? Du hattest Angst vor dem Gewitter und kamst zumir ins Bett, ich sollte Dir Märchen erzählen...

Sie lachte gezwungen auf.

— Und ich erzählte Dir die ganze Nacht hindurch.Ich habe mich gequält, etwas Neues zu erfinden. He,he... Du warst so verwöhnt, Du schliefst ja immer beimir...

Er sah sie fast gehässig an.

Ihre Finger liefen unstet und in nervöser Aufregungauf dem Tisch herum.

— Es regnete Blitze and Feuer vom Himmel. Undjedesmal, wenn der Himmel barst und unser Schlafzimmerin grünem Lichte stand, bekreuzigten wir uns und beteten:Und das Wort ist Fleisch geworden... He, he, erinnerstDu Dich nicht? Und der Ritter ritt auf einem schwarzenPferd, und das Pferd hatte gold'ne Hufe. Sie glänztenin der Sonne, dass die Menschen blind wurden...Wieder krachte der Himmel: Und das Wort ist Fleischgeworden... Und da kam der Ritter an einen Berg, dervon einem Riesen bewacht war... Und das Wort...Nicht wahr? So ging es die ganze Nacht über. Und daplötzlich: dies furchtbare, minutenlange Krachen und Bersten,als der Blitz dicht neben unserem Hause in die Pappeleinschlug! Da warfst Du Dich zitternd auf meine Brustund presstest Dich so fest an mich... noch fühl ichDeine mageren Händchen um meinen Körper geschlungenund Deine zarten Beine sich mit kranker Hitze in michhineinglühen. Damals hattest Du auch Fieber. Du hattestimmer Fieber. Weißt Du es jetzt?

Sie ließ den Kopf tief herabsinken. Er konnte ihrGesicht nicht sehen. Es war verdeckt von der breitenKrampe ihres schwarzen Sommerhutes.

— Nun trink doch! sagte er mit geheimnisvollemLächeln. Dein Wohl!

Sie stieß schweigend mit ihrem Glase an.

— He, he, Du trinkst ganz ausgezeichnet. Das hab’ich Dir beigebracht. Du fürchtetest, ich würde Dich verachten, wenn Du nicht tränkest. Gott, wie Du mich geliebt haben musst! Alles tatst Du nur um meinetwillen.Und jetzt, jetzt?... Agaj! jetzt?

Er wartete gespannt auf die Antwort.

Sie schwieg.

— Jetzt? fragte er heiß.

— Bist Du schon mit dem Furchtbaren zu Ende?

Ihre Stimme klang höhnisch und wegwerfend.

Er lachte laut auf.

— Du scheinst Dich schnell gefasst zu haben. He, he:es kam so unerwartet Du warst ja Anfangs ganz krank vorAufregung. Noch seh ich Deine Hände zittern und aufDeinem Gesicht glühen rote Flecken.

Sie sah ihn wütend an. Er erwiderte ihren Blickmit zynischem Lächeln.

— Nein Du! Ich bin gar nicht zu Ende... Ja,damals... He, he: Du hörst es so gern... Ich wachtefrüh auf. Ich konnte nicht schlafen. Ich löste vorsichtigDeine Arme von meinem Körper. Du warst auf meinerBrust eingeschlafen. Ich stand auf und fing an mich anzukleiden. Und da sah ich Dich plötzlich. Ja, plötzlich:ich habe Dich nie vorher gesehen... gesehen! verstehstDu? Es war wohl heiß, denn Du hattest die Decke mitden Füßen abgeworfen und lagst nun nackt.

Er lachte heiser.

Dein Hemd war bis zum Halse aufgerollt, schliefst Duda eigentlich? Er flüsterte ihr die Frage leise ins Ohr.

Sie sah ihn an. Ihr Gesicht zuckte. Ihre Augenwaren übergossen von einem heißen, fiebrigen Glanz.

Sie tauchte langsam, gierig tastend ihren Blick in seineSeele.

Er zuckte zusammen.

— Hörst Du nicht, was ich sage? Dein Hemd warbis zum Halse aufgerollt, und Du lagst ganz nackt. Undich bin sicher, dass Du nicht schliefst, ich bin sicher, dassunter den langen Wimpern Dein Blick in mein Blutkroch... Sei doch ein wenig empört! Bist Du esnicht?

Sie ließ wieder den Kopf sinken.

Er beruhigte sich plötzlich.

— Ich starrte Dich an. Ich konnte mich von DeinemKörper nicht losreißen. Mein Herz klopfte, dass ich nichtstehen konnte.

Sie sah ihn flüchtig an mit einem verzerrten fiebrigenLachen.

— Und dann? fragte sie heiser.

— Dann — dann... seine Stimme zitterte — dannsank ich an Dich und küsste Dich...

— Auf den Mund? Sie konnte kaum die Worte ausstoßen.

— Nein... Er fing wieder an zu flüstern. Du weißtes ja, Du schliefst nicht — Du warst wach, Dein ganzerKörper zuckte heftig auf...

Ihr Gesicht verschwand wieder.

Als sie aufblickte, war ihr Gesicht wie verzückt vonQual und ihre Augen funkelten in einem abgründigen grausamen Schmerz.

— Sag mehr! Sag doch mehr! stieß sie plötzlichhervor.

Es fing an, in ihm zu fiebern. Das Blut schoss ihmjäh ins Gehirn.

— Ich habe Dich dann vergessen. Ich habe Dichbeinahe zwölf Jahre nicht gesehen. Ich habe mich verheiratet. Und da sah ich nicht mehr das Weib in Dir, nur eineunendlich teure Schwester... Ja doch! einmal im vorigenJahre, als wir beide allein waren und so viel getrunkenhatten! Da wurdest Du plötzlich ganz ungewöhnlich boshaft, Du höhntest mich, machtest pikante Anspielungenauf meine Heirat und plötzlich warfst Du Dich über michher und bissest mich in die Lippen, dass sie bluteten...Da fing es an, mich heiß zu überlaufen.

— Hab ich Dich gebissen? Sie lachte hässlich auf.

— Und dann, als Du bei uns zum Besuche warst undmir einmal früh Morgens Kaffee ans Bett brachtest...

Sie fuhr wütend auf.

— Du bist wohl verrückt geworden? Du willst Dirdoch nicht einbilden, dass ich Dich als Weib liebe?

Er lächelte seltsam.

— Eben hast Du Dich verraten. Du hast mich nieals Schwester geliebt. Du zittertest immer nach mir, so wieich jetzt nach Dir zittre. He, he: Weißt Du noch? Einmal,als Du Deinen Geburtstag hattest und so viele Kinder zuuns kamen? Wir spielten Versteck. Immer bist Du zumir in die dunkelsten Ecken geschlichen und drücktestDich heiß an mich. Sieh mich doch an, lass Dir dochin die Augen sehen... Weißt Du noch, als wir beideso heiß wurden und uns beinahe erwürgt hätten in einerLust, die sonst Kinder nicht zu haben pflegen? He, he...Da wurd' ich Mann...

Er schwieg plötzlich, es kam ihm vor, als hätte er zuviel gesagt.

Sie lachte boshaft.

— Du willst wohl einen Roman schreiben? Irgendeine perverse Geschichte von Geschwisterliebe, wie? He,he, he... Damit düpierst Du mich nicht...

— Ich will Dich ja gar nicht düpieren. Du glaubstmir also nicht? Du traust mir nicht? Hör' Agaj, hörst Dunicht in meiner Stimme diesen entsetzlichen Ernst? Warumwehrst Du Dich? Warum willst Du nicht zugeben, dassDu mich liebst? Hast Du mir nicht gestern gesagt, dassDu beinah verrückt geworden bist, als ich im vorigenJahre nach dem Ausland zurückkehrte? Und glaubst Du,ich weiß es nicht, dass Du der Mutter das Geld gestohlenhast, um es mir zuzuschicken, als ich in Not war?...Tut das eine Schwester? Warum? Warum willst Dues verleugnen, dass Du mich liebst?

— Ich liebe Dich, wie man einen Bruder liebt, nichtmehr, sagte sie abweisend.

— Ha, ha, ha, liebt man so einen Bruder? Dasmusst Du einem Kriminalpsychologen erzählen... Warumwurdest Du jetzt so leichenblass, warum zittern DeineHände? Und Du trinkst viel, damit es Dir nur nicht bewusst wird, was ich sage. Quäl' mich doch nicht...

Er wurde ernst, sein Körper bebte.

— Qual' mich nicht! Ich bin so unerhört glücklich über Deine Liebe... Ich — ich... seine Stimmesenkte sich bis zum kaum hörbaren Flüstern... Du,Agaj, es ist etwas Sonderbares in mir vorgegangen...

— Ich liebe Dich! keuchte er plötzlich und seineStimme brach.

Es entstand eine lange Pause. Das Schweigen dauerteungewöhnlich lange.

— Hast Du es nun begriffen? flüsterte er leise.

Sie antwortete nicht.

— Gestern brach es durch in meiner Seele... Duwarst bei mir in der Nacht... Du bist nicht mehrmeine Schwester...

Sie sah ihn entsetzt an. Um ihre Mundwinkel zucktedie Qual. Sie gruben sich mit den Augen in einander, ihreBlicke verflochten sich unlösbar.

— Das ist furchtbar! sagte sie. Eine kranke Angstflackerte fiebernd in ihrem Gesicht.

— Ja, es ist furchtbar, wiederholte er wie abwesend.Wieder ein langes Schweigen.

Sie fuhr auf.

— Geh nach Hause! Geh! Geh!

Er hatte sie niemals flehen gehört.

— Nein, Agaj, ich kann nicht weg von Dir.

— Aber was willst Du denn von mir? schrie sieplötzlich rasend auf.

— Nichts, nichts... Natürlich nichts...

Er lächelte blöde.

— Gestern noch gab es für mich etwas, das Blutschande hieß, he, he. .. Inzest glaub' ich. Ich kamin die wüsteste Verzweiflung, als ich entdeckte, dass dasWeib, mit dem ich unerhörte Orgien feierte, meine eigneSchwester war. Heute hab’ ich die Schwester verloren. Heute seh' ich Agaj, das Weib, das fremde Weib, das mirüber jedes Weib in der Welt geht, schon deswegen, weiles Blut von meinem eignen ist, ein physisches Stückvon mir.

Er stockte plötzlich.

— Du, Agaj, Du fürchtest den Inzest?

— Ich fürchte ihn gar nicht. Sie lachte höhnisch.

— Aber? aber? Er sah sie mit zitternder Angst an,als sollte jetzt über sein Leben entschieden werden.

Sie blickte ihm starr mit einer grausamen Kälte indie Augen.

— Aber? Du fragst: aber? Es gibt kein Aber, weilDu für mich gar nicht als Mann existierst. Du bist einfach mein Bruder.

— Du lügst! Du lügst! Warum quälst Du mich mitDeinen Lügen? Zerstöre doch nicht das Heiligste in mir,das, wovon ich lebe, was den ganzen Inhalt meiner Seeleausmacht.

— Du hast Deine Frau vergessen, Du hast Fieber,Deine Hände glühen, und Deine Augen saugen sich giftigwie Tollkraut in mein Blut... Ich will Dich nicht sehen.Du zerstörst meine Seele, Du...

Sie kam plötzlich zur Besinnung und schnellte höhnisch auf.

— Lächerlich: Grenzenlos lächerlich! — sie raste —Du hast das schönste, das herrlichste Weib zur Frau, niehab' ich ein so herrliches Weib gesehen... und — undDu hast an ihr nicht genug und läufst einem andren Weibenach, das noch obendrein Deine Schwester ist.

— Oh, oh, Du läufst mir ebensoviel nach, wie ichDir... He, he... Nur feig bist Du, feig. Du wagstes nicht zu gestehen. Aber, als ich Dir gestern sagte, dassich vielleicht heute wegfahren werde — glaubst Du, dassich die Qual nicht gesehen habe und die Mühe, die Duhattest, um sie zu verbergen? Ich verehre mein Weib,aber ich liebe Dich. Versteh' es doch: Dich, Dich lieb'ich. Du hast Dich seit Deiner Kindheit nach diesemWorte, diesem: ich liebe Dich! gesehnt. Du hast gezittert, dass ich es Dir nur sage. Du wolltest es von mirerzwingen und jetzt, jetzt, da ich es endlich gesagt habe,willst Du mich so brutal zurückstoßen? Du glaubst vielleicht nicht, dass es mir Ernst ist, weil es so jäh und unerwartet gekommen ist. In einer Sekunde von Qual...Aber ich lebe jetzt nur in diesem Gefühl, mein Gehirnwühlt sich mit fiebernder Wollust in die Zeit, als DuDeine Gier noch nicht zu verbergen verstandest. Plötzlichist meine Seele aufgebrochen, ich erinnere mich an jedesWort, das Du vor zwölf Jahren gesagt hast, ich erinneremich an die tausend Dinge, tausend Kleinigkeiten, tausendBlicke und Bewegungsmomente aus jener Zeit, ich erinneremich an alles, das mir gestern noch vergessen war...

Er taumelte, verlor plötzlich den Gedankenfaden undsann eine Weile nach.

— Nein, nein, ich liebe Dich nicht seit gestern, ichliebe Dich seit langem. Das war nur zufällig, dass es mirgestern grade zum Bewusstsein kam. Du hast mir immergefehlt. Sieh: ich war ja glücklich mit meinem Weib,aber immer, immer sehnt' ich mich nach Dir.

Die Qual floss in ihm über, es würgte ihn, kalteSchauer strömten ihm über den Rücken, er schüttelte sichin Fieberfrost.

— Ich verehrte, ich liebte bis zum Wahnsinn DeineLiebe. Ich zitterte, um nur einen Brief von Dir zu bekommen. Und wenn ich Ihn bekommen hatte, las ich ihnund las unaufhörlich. Ich las das alles, was Du nichtschreiben konntest, was aber in jedem Worte zitterte, ichging wochenlang mit Deinen Briefen umher damals schon,als ich noch nicht ahnte, dass Du mir das werden solltest,was Du mir heute bist. O, ich liebe jedes Wort von Dir,ich liebe Deine grausame Seele, die nicht genug Schmerzenfinden kann, um sich darin zu vergraben, ich liebe Deinkleines, braunes Gesichtchen mit den abgründigen Augen,ich liebe die Seide, die Deinen Körper umschließt, ichliebe die Formen dieses Körpers, ich fühle ihn wie ersich an mich presst, mich umschlingt, ich sehe Deinekleinen Brüste, ich fühle sie sich in meinen Körper hineinglühen. Ich... ich...

Er fing an zu stottern. Es raste in ihm, sein Gehirnschwoll an zu einer riesigen Aderbeule. Dann begann erwieder zu sprechen, sinnlos, ohne Zusammenhang, die Wortekamen wie von selbst, glühend, krank, wie herausgeschleudert aus einem Vulkan.

Sie hielt seine Hand in stummem Krampf umschlossen,sie vergrub schmerzhaft ihre Finger in seine Haut. Siefasste ihn ums Handgelenk und presste wieder seineFinger: es war wie ein irres Gejauchze in dieser taumelnden, flackernden Hand.

Da wurde sie plötzlich grenzenlos unruhig. Sie hörtenichts mehr, sie sah nichts mehr. Sie faltete die Hände,dass alle Gelenke knackten, dann ballte sie die Fäuste undspreizte wieder die Finger.

— O Gott! stöhnte sie keuchend.

Jäh rückte sie weg.

— Sag jetzt kein Wort mehr, schrie sie auf, keinWort! Ich gehe — ich gehe sofort, wenn Du nur nochein Wort sagst.

Er sank zusammen.

— Nein, nein, ich will nichts mehr sagen. Ich kannauch nicht mehr, murmelte er müde.

Ein Schweigen, ein tötendes Schweigen, das langsameinen Nerv nach dem ändern zersägte.

— Komm! sagte sie endlich und stand auf.

— Wohin?

— Ist es Dir nicht gleichgültig, wohin Du mit mirgehst? Sie lachte ihn höhnisch an. Du willst ja nur mitmir zusammen sein.

— Aber nur mit Dir! Nur mit Dir allein! Ich habeEkel vor Menschen, ich mag keinen Menschen sehen. Ichspucke auf die Menschen! Ich kann die menschlicheFratze nicht ausstehen.

— Komm! sagte sie mit hartem Befehl.

Er sah sie erstaunt an, blieb eine Weile sitzen, starrtesie unaufhörlich an, dann erhob er sich und ging.

— Es hat mir noch kein Mensch etwas befohlen,sagte er leise auf dem Wege. Kein Mensch. Ich wusstebis jetzt nicht, was gehorchen heißt, bis Du jetzt plötzlichsagtest: Komm! Und ich gehorche...

Er lachte boshaft auf.

— Und Du willst mir vorlügen, dass Du mich nur alsSchwester liebst? Du liebst mich ja nur als Weib! Duhast ja nur gewartet auf das Wort: Ich liebe Dich! undgleich bist Du wie verwandelt. He, he: Du weißt jetzt,dass Du mir befehlen kannst, was Du früher nicht wagtest.Woher diese Instinkte, die nur ein liebendes Weib hat,woher dies feine Ohr für „ich liebe Dich“ und seine Konsequenzen? Warum lügst Du? Du sehnst Dich nach mir,Du hast dieselbe rasende Gier, Du... Du...

Sie blieb stehen und sah ihn wütend an.

— Wenn Du noch ein Wort sagst, geh' ich weg.

Er lachte laut auf.

— Versuch' es doch! Geh! Geh! Dir ist es ebensounmöglich wegzugehen, wie mir... Oh, wie Du schönbist! Wie Dein Gesicht flackert!... He, he, he...Wo hab' ich nur meine Schwester verloren?

Er schob seinen Arm unter ihren und presste ihnkrampfhaft an sich.

— Ich muss Dich halten. Ich bin nicht sicher, obDu am Ende doch nicht weggehst. Du bist grausamgegen Dich. Deine Seele hat wirklich nicht Qual genug,noch lange nicht genug. Du würdest in der Hölleglücklich werden. Und jetzt, jetzt quälst Du mich. Dumöchtest mich auf die Folter spannen, damit Dir nur dasHerz an meinen Qualen berstet. Oh je m'y connais: dasist die höchste Wollust, aber meine Nerven sind zu schwachdazu...

Er lachte irre.

Sie kamen in eine Gesellschaft. Plötzlich — Mit einemMal. Eine lange Zwischenzeit ging wohl seinem Gehirnverloren. Es wurde ihm nicht klar, wie er so plötzlichhergekommen war.

Im Nu wurde er nüchtern und kalt.

Er sprach sehr vernünftig mit einem Herrn, der einesammetne Weste und oben auf dem Vorhemd einen Diamanten hatte. Bei Tisch bekam er zur Nachbarin ein junges,frisches Mädchen, das eine sonderbare Freude am Lachenhatte.

Plötzlich wieder ein Lichtpunkt: Er begegnete Agaj’sAugen.

Er las in ihrer Seele, wie ein Somnambule. EineSehnsucht sah er in den Augen, einen kauernden, zusammengekrampften Schmerz: ihre ganze Seele gerann in diesemlangen, gierig schmerzlichen Blick.

Alles um ihn herum verschwamm zu einem wirrenGemenge von Messerklirren, Lachen, Sprechen, dann hörteer ein unangenehmes Geräusch wie wenn Stühle gerücktwurden. Er sah die finstre Masse von menschlichen Leibern,die vor seinen Augen flirrte, sich hochheben, mechanischstand er auf.

Plötzlich erlangte er das Bewusstsein.

Er sah die Menschen in den Salon treten. Er versuchte den Andren zu folgen, aber er blieb wie angewurzeltstehen. Etwas zerrte ihn zurück. Er sah sich um. Ihmgegenüber stand ein dunkles Nebenzimmer offen. Er wurdevon einer fremden Hand dahin gestoßen. Es kam ihm vorals taumelte er hinein: seine Beine gingen wie von selbst,er widerstrebte nicht mehr: in dem dunklen Zimmerbesann er sich auf sich selbst.

Eine unheimliche Angst krallte sich in seiner Seele fest.

Das ist ihr Wille! Sie hat ihn mir auferlegt! Ihrfürchterlicher, körperlicher Wille. Der Gedanke, derMacht geworden ist, eine riesige Macht mit Blut gefüllt,mit langen, gespenstigen Händen...

Er lallte es vor sich hin, um sich zu beruhigen.

Er saß sehr lange in dumpfer, irrer Schwüle. Plötzlich schrak er auf: sie saß bei ihm.

— Agaj?!

— Still!

Sie fasste seine Hand. Es goss sich über ihn wie einkochender Strom. Sein Körper fing an zu zucken. Inseinem Gehirne klopften kurze, schmerzhafte Schläge.

Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Es warf sieauf einander.

Sie versanken, sie vergingen in dieser stummen Brunstihres Blutes. Kopfüber sinnlos stürzten sie sich in dengrausigen Wirbel der geschlechtlichen Ekstase.

Ab sie sich loslosten, hielten sich noch ihre Händeumklammert, als wären sie selbstständige Organe geworden.

— Ich kann Dir nichts mehr geben, fühlte er siesprechen, aber er konnte sich nicht besinnen, ob er einenLaut gehört hatte.

— Deinen Leib! Deinen Leib! stammelte er.

— Du hast mich ja gehabt.

— Wann? Wann?

— Heute Nacht.

Er blieb einen Augenblick bewusstlos. Sie war plötzlich verschwunden.

Seine Seele löste sich qualvoll in wachsender Angst.

War sie es selbst? War es nur eine Vision?

— Sie sind wohl krank? fragte ihn der Herr mit dersammetnen Weste, als er in den Salon trat.

Er hörte kaum hin. Seine Augen flogen suchend umher. Endlich entdeckte er sie. Sie saß da regungslosmit einem kalten Sphinxgesicht und sah ihn ruhig an.

Er ging auf sie zu.

— Bist Du da drin bei mir gewesen? fragte erzitternd.

— Bist Du nicht sicher? sie lächelte seltsam.

— Ich habe Angst vor Dir, Du — Du Satan! Erzitterte immer heftiger.

— Warum denn? sie drehte sich gleichgültig umund fing an mit einem Herrn zu sprechen.

Seine Seele kroch zusammen. War dies das Weib,das sich vor ein paar Minuten mit dieser uferlosen Leidenschaft an ihn gepresst hatte?

— Ich fahre morgen nach Hause! flüsterte er ihrwütend zu.

Sie sah ihn an.

— Ja, es ist die höchste Zeit, sagte sie kalt. Nochzwei Tage und Du wirst verrückt.

— Du bist brutal! Er schrie fast.

Sie drehte sich wieder um und sprach weiter mit demfremden Herrn.

Er wurde plötzlich sehr ruhig. Als wäre alles inihm geborsten. Er verschwand unauffällig und trat insEntrée.

— Du fährst nicht! Er sah sie zittern und ihre Augenfraßen glühend an ihm. Du fährst nicht! Ich werde Dirdie Seele aus dem Leibe reißen, wenn Du fährst.

Er hörte ihre Zähne wie in Schüttelfrost an einander schlagen.

Er sah sie verächtlich an.

— Ich habe nichts mehr mit Dir zu tun, sagte erlangsam und kalt.

— Du fährst nicht! keuchte sie.

— Ich fahre! Ich will nicht mehr meine Seele prostituieren. Ich muss Dich in meinem Herzen vor diesem herzlosen Weihe da — er zeigte verächtlich mit dem Fingerauf sie — retten... die Trümmer retten.

Er lächelte wie im Traume.

Sie klammerte sich an ihn.

— Du bist morgen Nachmittag dort, wo Du heute mitmir warst... Bist Du nicht da, so, so...

— So?

Sie trat dicht an ihn heran. Sie sahen sich lange indie Augen.

Ohne ein Wort gingen sie auseinander.

Er wartete lange vergebens.

Er legte die Stirn in tiefe Falten und lächelte. Erlächelte immer. Ein blödes, irres Lächeln war wie versteinert um seine Lippen.

Sein Fieber wuchs und schwoll. Lange feine Nadelstiche fuhren ihm durch den Hals. Gedanken, schmerzhaft,wirbelten wie glühende Metallspähne durch seinen Kopf.

Fünf Minuten noch wollte er warten, nur fünfMinuten.

Ein stiller, irrer Triumph flammte in seiner Seele auf.

— Oh, wenn sie nicht käme, er würde sie dann loswerden.

Er fühlte es sicher.

Da zuckte er auf: ein bekannter Mensch! Er drucktesich tief in das Sofa hinein, faßte die Zeitung und verdeckte mit ihr sein Gesicht.

Aber der Andere hatte ihn schon gesehen. Er kamruhig an ihn heran und setzte sich neben ihn.

— Ihre Schwester wird wohl bald kommen, sagte er,ich habe sie heute getroffen, sie sagte mir, sie würde herkommen.

— Hat sie das gesagt?

— Ja.

Er biss vor Wut die Zähne aneinander. Griff wiedernach der Zeitung und fing an zu lesen. Aber er verstandkein Wort. Eine dumpfe kauernde Ohnmacht legte sichmit dicker Kruste um sein Herz. Er fühlte es sich an derRinde wundschürfen.

So saßen sie wohl eine Stunde.

Endlich sprang er auf.

— Warten Sie nur auf meine Schwester. Ich mussjetzt gehen.

— Müssen Sie wirklich gehen?

Er trat taumelnd auf die Straße.

Er konnte kaum gehen. Die wilde Wut gegen dasWeib machte sein Blut stocken. Er war nahe am Weinen.Seine Kräfte verließen ihn zusehends. Es würgte ihn,als schluckte er brandigen Qualm.

Er setzte langsam einen Fuß vor den andern. JederSchritt tat ihm weh im Gehirn: würde er schneller gehen,müssten alle Adern reißen.

Das Bewusstsein fing an, ihn zu verlassen.

Er wiederholte sinnlos einzelne Sätze, faselte vor sichhin, lachte still und rieb sich die Hände.

Und wieder flammte der stille Triumph in ihm auf:er brauchte sie nicht zu sehen. Er war befreit, erlöst vonseinem Vampir.

Er lächelte.

Da blieb er plötzlich stehen: sein Herz krampfte sichheftig zusammen: in der Ferne sah er ein schwarzes, seidenes Kleid knistern... Nein! es war nicht Agaj.

Die Unruhe bäumte sich in ihm hoch auf. Unruheund würgende Sehnsucht.

Nein, nein — er musste nach Hause gehen. Sich insBett legen. Er war ja todkrank.

Die Sonne schien ihm stechend in die Augen. Erfühlte die scharfen Strahlenstöße sich gellend ihm in die Nerven keilen. Es schwindelte ihn: er setzte sich auf eine Bank.

Ekelhaft, mitten auf der Straße ohnmächtig zu werden!fuhr es ihm plötzlich durchs Gehirn. Die Vorstellungvon einem Auflauf, einer Tragbahre rüttelte ihn mit einemMale auf.

Er strengte sich an, die Menschen, die wie Schattenan ihm vorüberglitten, zu sehen, deutlich zu sehen, sie voneinander zu unterscheiden.

Da sah er plötzlich sie. Es kam ihm vor, als hätteer sie schon früher einmal vor seiner Bank auf-- und abgehen gesehen.

Sie ging ruhig, grüßte freundlich nach allen Seitenund hatte rote Handschuhe an. Lange scharlachroteHandschuhe.

— Agaj! schrie er auf.

— Nun? was machst Du hier?

Er nahm sie schweigend unter den Arm und führte siein ein abgelegenes menschenleeres Café.

Es war Macht in ihm.

— Wenn Du noch einmal — seine Stimme ersticktein Wut — wenn Du noch einmal mir Menschen auf denHals schickst, werd' ich Dich, werd' ich...

Sie sah ihn lachend an.

— Was denn?

Er beruhigte sich plötzlich. Seine Macht schmolzwie Glas im Feuer. Er lächelte wieder. Da schrak eswieder in ihm auf. Eine Erinnerung fühlte er lauerndkauern, und plötzlich jäh emporschnellen:

— Hast Du mir nicht gestern gesagt, dass ich Dichheute erwarten sollte?

— Nein!

— Lüg' nicht, Agaj, nicht jetzt, um Gotteswillen. Ichhabe eine entsetzliche Angst um mein Gehirn... HastDu, — hast Du es wirklich nicht gesagt?

Sie schwieg.

— Sag' es, sag' — ich weiß ja nicht sicher. Allesverfließt in meiner Seele. Ich konnte nicht begreifen,warum ich dort auf Dich wartete.

Sie zuckte auf.

— Ja, ich habe es gesagt.

Er atmete schwer.

— Warum hast Du mich denn bestellt, wenn Dunicht kommen wolltest?

— Ich will nicht mehr mit Dir allein sein, sagtesie kalt.

— Nicht mehr?

— Nein!

Er sann nach und erhob sich.

— Ja, dann will ich nicht mehr mit Dir zusammensein, Agaj. Ich kann nicht mit Dir zusammen sein, wennMenschen dabei sind. Ich habe Ekel vor Menschen. Ichkann keinen Menschen außer Dir sehen. Nein, Agaj, ichwill es nicht.

Sie fasste ihn an der Hand. Er setzte sich wieder.

Sie war ernst und traurig.

— Kannst Du denn nicht zur Vernunft kommen?Verstehst Du nicht, dass alles aussichtslos ist, verstehstDu's nicht?

— Warum aussichtslos?

— Weil ich Deine Schwester bin.

— Du lügst. Daran denkst Du nicht einen Augenblick.Du liebst die Qual, Du kannst Dich nicht genug an Deinerund meiner Qual sättigen...

Sie schwiegen lange.

— Hör' Agaj, ist es... ja — nicht wahr? Du liebstmeine Frau sehr.

— Ja.

— Und wenn sie nicht da wäre?

— Vielleicht.

— Vielleicht?

Sie antwortete nicht.

Wieder Schweigen.

— Ich will bei Dir bleiben, sie sprach flehend. Ichwill immer mit Dir zusammen sein, aber nicht allein. Dasdürfen wir nicht. Ich bitte Dich darum.

— Hast Du Angst vor mir?

— Vor mir selbst. Und Du liebst mich doch. KannstDu es nicht meinetwegen tun?

— Was denn?

— Du sollst nicht wollen, mit mir allein zu sein, —und... und, sie senkte den Kopf — Du sollst mich nichtmehr berühren. Ich habe einen unaussprechlichen Ekeldavor, sagte sie hart.

— Hast Du Ekel vor meiner Berührung?

— Ja!

Über seinen Körper rieselte es wie von einer glühenden, zu Perlen zerstäubten Metallmasse. Seine Seeleschrumpfte wund zusammen. Er fühlte Scham und Ekelvor sich selbst. Er hatte das Weib berührt, das Ekelvor ihm — vor ihm empfand.

Er kam zu sich. Eine kalte, trockene Klarheit fühlteer in seinem Kopfe, wie Wetterleuchten zuckte wieder derstille Triumph der blutenden befreiten Seele auf.

— Ich danke Dir, dass Du jetzt endlich ehrlich bist...Du hast Recht... Nie werd' ich mehr darüber sprechen,noch Dich berühren.

Er sah nur die Krampe ihres Hutes. Ihr Kopf wartief gesenkt und die Hände in den roten Handschuhenweit über den Tisch gestreckt.

— Vielleicht sollen wir den Menschen aufsuchen, denDu mir zur Unterhaltung geschickt hast?

— Nein!

— Dann wollen wir andere Menschen aufsuchen.

— Nein!

Lange Pause. Er war ganz ruhig. Sein Fieber warmit einem Mal verschwunden. Er war wie von einemBann erlöst.

— Nun, sieh doch auf! sagte er freundlich nach einemlangen Schweigen. Jetzt können wir ruhig und vernünftigmit einander sprechen. Jetzt hast Du erreicht, was Duwolltest. Ja, Du kennst mich, Du weißt, wie schamhaftmeine Seele ist. Meinetwegen kannst Du jetzt tausendMenschen aufsuchen. Ich habe auch kein Bedürfnis mehr,mit Dir allein zu sein. Übrigens möcht' ich Dir den verfluchten Hut am liebsten vorn Kopfe reißen. Diese großeKrampe ist sehr bequem... Ha, ha, ha. .. Nun, Agaj,liebe Schwester, kannst Du mit Deinem Bruder nicht vernünftig sprechen?

Sie sah plötzlich zu ihm auf.

Er glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen.

— Agaj! sagte er langsam.

Die Tränen liefen über ihre Backen herab.

— Du weinst? fragte er kalt und ruhig.

— Nein! sagte sie rau.

— Du weinst ja, ich sehe es doch! Und ich sitzeund zerbreche mir den Kopf, warum Du eigentlich weinst.Ich glaube nicht an Deine Tränen. Deine Seele ist verlogen. Sie sucht nur krampfhaft nach neuen Martern...Ha, ha, vielleicht hast Du die Fähigkeit, zu weinen, wannDu willst? Willst Du mich mit Deinen Tränen kirren?

Sie sah ihn an: ein Blick, der in würgendem Krampfeschrie. Aber nur einen Moment, im Nu sah er einenwilden Hass aus ihren Augen stechen, zu einem bohrenden,saugenden Licht sich weiten und heiße Brände in seineSeele werfen.

Es dauerte eine Ewigkeit. Dann zersprang gellenddas Licht in ihren Augen, ihr Gesicht wurde hart, siesah vor sich hin, dann starrte sie ihn wieder an mit einemglasigen Ausdruck, und plötzlich schoss der dumpfe Hasswieder auf, sie warf sich ins Sofa zurück.

— Nun! Gott sei Dank ist Dein Fieber vorüber, sagtesie mit lachendem Hohn, jetzt kannst Du zu Deiner Frauzurückkehren und ihr die Erlebnisse mit Deiner Schwestererzählen.

— Ja, das werd' ich.

— Hast Du oft dieses Fieber? höhnte sie. Ich meine:betrügst Du oft Deine Frau unter dem Schutze diesesFiebers?

— Sehr oft. Hier zum Beispiel habe ich ein Mädchen,ein Kind noch, bei dem ich jede Nacht schlafe.

Sie schrie leise auf. Er sah sie mit höhnischerWut an.

— Hat es sehr weh getan? grinste er boshaft.

— Du lügst! schrie sie unterdrückt auf.

— Nein! Wozu sollt' ich lügen?

— So, so... Warum bettelst Du denn bei mir?

— Ich bettle nicht. Hab’ ich gebettelt? Davonweiß ich nichts... Und, und, ich bitte Dich um Verzeihung für alles, was vorgefallen ist. Ich empfinde mich sogrenzenlos lächerlich. Eigentlich solltest Du mich nichtso schmerzhaft beschämen. Nun, ich hoffe, dass DeineSeele jetzt vor Freude jauchzt...

Ihre Hände bewegten sich nervös.

Er wurde noch freundlicher.

— Wundervolle Handschuhe hast Du. Das sieht sehrpervers aus. Das ist à la Rops. Du hast überhaupt dieGestalt, die Rops immer zeichnet. Und auch die gierige,freche Unschuld... Ha, ha, ha... und Du verstehstDich zu kleiden! Das Seidenkleid lieb ich sehr. Es istein solch wollüstiges Gefühl in den Fingerspitzen, ja, ja —Deine Seide stäubt mir Wollust in die Adern... Nun,Du scheinst gar nicht auf mich zu hören... Ich habeDir auch nichts Interessantes mehr zu erzählen. Das, wasan unserem Verhältnis interessant und pikant war, wasnach Satanismus und Inzest schmeckte, ist ja nun vorüber.Jetzt können wir zu den zweifelhaften Freuden des Werktags zurückkehren.

Sie sah ihn plötzlich lange und durchdringend an.Ihre Augen funkelten in einem seltsamen Lächeln.

— Du hast Fieber, sagte sie langsam. Jetzt erst seh'ich, wie krank Du bist. Deine Augen sind eingefallen.Deine Augen glühen wie Kohlen, Dein Gehirn ist krank.Du kannst nicht mehr die Wirklichkeit von der Visionunterscheiden. Du siehst das Gras in meiner Seele wachsen.Und manchmal überhörst Du ganze Sätze, ist es nicht so?

Er stutzte, dann lachte er boshaft auf.

— Ja, ja, ich verstehe Dich. Jetzt hab’ ich natürlichFieber, well ich anfange, vernünftig zu sprechen. Ich habeFieber, weil ich Deine quallüsterne Phantasie nicht erhitze.Ich verstehe Dich. Du hast Sehnsucht nach den irrsinnigenWorten meiner Liebe.

— Ja!

Es klang wie ein langer Satz.

— Ja? Ja? Das sagst Du so frech, nachdem Du meineSeele zertreten hast? Sagtest Du nicht vor ein paar Minuten,dass Du Ekel vor meiner Berührung hast? Nein, nein —meine Seele ist spröde, ich will mich nicht prostituierenvor Dir.

Er kam plötzlich in eine Ekstase von Raserei. SeinGesicht fühlte er zucken und das Fieber befiel ihn von Neuem.

Er verlangte Wein.

— Willst Du mittrinken, Agaj?

— Ja. Viel — viel...

Er suchte, seine Ruhe zu bewahren. Sie bettelte mitden Augen.

Er trank schnell und stützte den Kopf in die Hände.Er hatte sie plötzlich beinah' vergessen. Sein Fieber ließnach. Nur ein Schmerz, ein brandroter Schmerz glühtein seinem Hirn.

Da fühlte er von Neuem ihr Locken. Er merkte,dass sie ihm langsam näherrückte — noch näher und plötzlich presste sie heftig ihr Bein an das seine.

Wieder empfand er die kurzen, schmerzhaften Zuckungenin seinem Kopf, wie von heftigen Hammerschlägen.

Sie saßen regungslos. Sie über den Tisch gebeugt,schwer und heiß atmend.

— Ich habe gelogen! flüsterte sie leise, trank dasGlas leer, füllte es von Neuem, leerte es wieder.

— Trink doch! Ihre Stimme zitterte.

Es schwindelte ihm. Er hatte plötzlich alles vergessen. Er fühlte nur die körperliche Wärme ihrer Gliedersich um ihn legen, er fühlte sie sich an seinen Körperschmiegen, heiß, sinnlos, zuckend...

Sein Gehirn taumelte. Er fing an zu sprechen, leise,flüsternd. Er bebte am ganzen Körper. Seine Händeirrten unstet.

Ihre bettelnde Hand umkrallte die seine, zerwühltefiebrig seine Finger und kratzte sie wund.

Da weiteten sich ihre Augen und sie sah ihn an miteinem Blick: ihre Seele verblutete in Angst und Verzweiflungsschmerz.

Er schwieg.

Beide kamen zum Bewusstsein.

Das Gespräch stockte. Sie sprachen gleichgültig übergleichgültige Sachen, von Zeit zu Zeit schwiegen sie lange,und dann kam es wieder von Neuem, ohne dass sie wussten,wer zuerst angefangen hatte.

— Und erinnerst Du Dich, Agaj, einmal als wirbadeten? Ich habe Dir beim Auskleiden geholfen. Duhast Dich plötzlich gesträubt, und wurdest so furchtbarrot... He, he: wir waren eigentlich keine Kinder mehr.Und mit einem Ruck empfand ich eine so grenzenloseLiebe zu Dir... erinnerst Du Dich? Wir warfen unsin den Sand und pressten uns so wild aneinander, dass wirbeide vor Schmerz aufschrien. Dann nahm ich Dich aufmeine Arme und trug Dich ins Wasser. Du warst soübermütig, wie es nur ein Weib sein kann, das plötzlichfühlt, dass es geliebt wird. Ich sollte Dich schwimmenlehren, aber Du sankst immer unter... O Gott, jetzt,jetzt seh ich Dich wieder als die herrliche Agaj von zwölfJahren, die mich so sinnlos geliebt hat. Jetzt siehstDu mich wieder so gut, so innig an, wie Du michfrüher immer angesehen hast. Du höhnst nicht mehr, Dubist nicht mehr boshaft, und jetzt bin ich wieder DeinHund, ich bin wieder Deine Sache, Du kannst mit mirmachen, was Du willst, Du kannst mir die Seele aus demLeibe reißen, und ich werde Dir noch dankbar sein dafür, weil Du, Du es bist...

— Quäl’ mich doch nicht, quäl' mich nicht so unerhört!flehte sie plötzlich.

Er lehnte sich zurück. Sein Kopf brannte. SeineZunge war trocken und ein dicker, schleimiger Speichelsammelte sich in seinem Mund.

— Das ist furchtbar! hörte er sie leise sagen.

Der Abend kam, es wurde allmählich dunkel.

Sie saßen dicht aneinander gekauert.

— Es ist dunkel, sagte sie.

— Ja, es ist dunkel.

— Siebst Du den Mond durch die Zweige bluten?

— Still! still!

Lange sprachen sie kein Wort.

Sie pressten sich noch enger an einander, noch fester,sie umklammerten sich, und in ihrem Schweigen, in ihrerUmarmung war Schmerz.

Plötzlich riss de sich los.

— Jetzt geh ich nach Hause, sagte sie hart.

Er fuhr rasend auf.

— Wenn Du jetzt gehst, jetzt — jetzt... dann...dann... wirst Du mich nicht mehr sehen.

Eine entsetzliche Angst zitterte in seiner Stimme.

— Agaj! Wenn Du nur eine Spur von Liehe hast,so geh nicht jetzt, ich werde wahnsinnig...

— Wir haben wieder Deine Frau vergessen, lachtesie hart.

— Machst Du mir einen Vorwurf aus meiner Frau?Ich werde sie nie mehr sehen, wenn Du es willst, ichwerde sie vergessen, wenn Du es befiehlst...

— Gott, wie krank Du bist! höhnte sie.

— Ich bin nicht krank. Ich liebe Dich. Ich —ich... Du Agaj verlass mich nicht, Du wirst es bereuen,es wird schlimm mit mir werden.

Er flennte wie ein Kind.

— Nun fängst Du an, sentimental zu werden. Sielachte heiser auf.

In einem Nu kroch seine Seele zusammen. Als erstarrte alles in ihm zu Eis.

Er sah sie lange sprachlos an, dann setzte er sich wieder.

Sie betrachtete ihn mit einer grausamen Neugierde.

Sie schwiegen sehr lange.

— Kann ich Dich begleiten, oder willst Du alleinnach Hause gehen? fragte er trocken.

— Ich werde allein gehen. Geh' Du auch, Du bisternstlich krank.

— Was ich zu tun habe, darüber hab' ich selbst zubestimmen. Er lächelte gehässig.

Sie sah ihn lange an.

— Gott, wie entsetzlich dumm Du bist! sagte sie endlich. Wie ekelhaft seid ihr alle — ihr Männer.

— Ich habe nur Prostituierte so von Männern sprechengehört. Sie hassen auch den Mann.

— Du bist brutal!

— Du viel mehr.

— Ich hasse Dich! Ich will Dich nie mehr sehen.

— Ich auch nicht.

Aber als sie gehen wollte, fasste er sie an der Hand.

— Verzeih' mir, ich bin krank.

— Ja, ja, fahr nur schnell zu Deiner Frau zurück.Bei ihr wirst Du schon Dein Fieber verlieren.

Sie sah ihn höhnisch an.

— Du willst wohl, dass ich mich zuerst von meinerFrau trenne? Dann wirst Du wohl Mut bekommen? Ha,ha, ha — Wie feig, wie feig Du bist!

Sie schien es zu überhören.

— Du wirst doch wohl endlich einmal die Mutter besuchen? Wie? Sie ist morgen Vormittag zu Hause.

— Nein! Danke!

Sie ging an die Tür.

— Du gehst wirklich, Agaj?

— Ja.

Plötzlich blieb nie stehen. Ihre Augen funkelten inwildem Hass.

— Ist es wahr, dass Du hier ein Mädchen hast, einKind noch, wie Du sagtest?

— Ja, ich habe mir meine, verstehst Du? meine frühereAgaj aufgesucht.

— Das ist ja wundervoll! Oh, wie ich Dich hasse!

— Verrate Dich doch nicht immer!

Sie machte die Türe auf.

— Du, Du, Agaj, warte ein wenig... Ich habe Diretwas Interessantes zu sagen.

Er lachte boshaft, ging auf sie zu und flüsterte ihrleise ins Ohr:

— Weißt Du, dass Du heute Nacht bei mir in meinemBette lagst?

Sie stieß ihn zurück und verschwand.

Er wurde ganz ruhig.

Nun war alles vorüber. Nun musste er nach Hausegehen. Und er konnte zu seiner Frau fahren, ohne Agajein Wort zu sagen.

Er trat auf die Straße.

Der Tag war zu Ende. Es war schon ganz dunkel,und aus dem Dunkel mühten sich die Glutaugen deselektrischen Lichtes hervor.

Menschen gingen in großen Scharen an ihm vorüber.Sie gingen wohl ins Theater.

Er lächelte.

Der Weg ging durch einen Park. Kein Mensch. Einestarre, öde Stille.

Er ging ganz langsam. In seinem Körper war wohlnicht ein Muskel, der ihn nicht schmerzte.

Plötzlich bemerkte er eine schwarze Masse, die aufihn zuzugleiten schien, er sah nicht, dass sie ging.

Er blieb erstarrt stehen.

Die schwarze Masse war einen Schritt von ihm entfernt und blieb auch stehen.

In sinnloser Angst sah er hin.

Aus dem Dunkel quoll leuchtend ein Gesicht hervormit grässlich verzerrten, entstellten Mienen und qualvollaufgerissenen, blutigen Augen.

Das war er selbst!

Das Gesicht schien sich zu bewegen, es öffnete denMund, bewegte ihn, einen Schrei hörte er gellen...

Er stürzte sich in Wahnsinn auf den Andren los.

Aber die schwarze Masse schien zurückzuweichen undblieb wieder stehen.

Die Augen rissen sich noch weiter auf — über dasGesicht glitt ein höhnendes Grinsen.

Er wollte zur Seite weichen, der Andre verstellte ihmden Weg.

Die Augen sogen sich gierig ihm ins Blut — seineAugen. Sie starrten ihn an, dann sah er den Andrenlangsam näher rücken, noch näher, das Gesicht berührtefast das seine: er schrie auf, schloss die Augen zu undfing an zu laufen, sein Kopf dröhnte, klopfte, barst: erstürzte hin.

Als er zu sich kam, schleppt' er sich zu einer Bankund setzte sich hin.

Ein Paroxysmus von wüstester Verzweiflung raste durchseinen Körper.

Das ist Wahnsinn! zuckte es ihm durchs Gehirn.

Er fühlte den Andren hinter seinem Rücken.

Er stand auf und fing an zu gehen, sein Herz schlugnicht mehr. Die Verzweiflung kippte um in ein blödes,irres Brüten.

Er glaubte Schritte zu hören Es war da. Dichthinter ihm.

Plötzlich verlor er das Bewusstsein. Er hörte nichtsund empfand nichts mehr.

Als er nach Hause kam, setzte er sich im Speisezimmervor den gedeckten Tisch, stützte seinen Kopf mit beidenArmen und verfiel in einen brütenden Halbschlaf.

— Wollen Sie etwas essen?

Er sah entsetzt auf, starrte lange gedankenlos hin, endlich erkannte er das Dienstmädchen.

— Wollen Sie etwas essen? wiederholte das Mädchenund sah ihn mitleidig an.

Er schüttelte den Kopf und starrte sie unaufhörlich an.

— Sie sind sehr krank, sagte sie endlich. Soll ichden Arzt holen?

— Den Arzt?

— Ja, den Arzt.

Er besann sich lange.

— Nein! Ich will nicht. Lassen Sie mich nur hiersitzen.

Aber sie ging nicht.

— Ich habe Angst sagte sie nach einer Pause.

— Angst?

Sie nickte stumm.

Er raffte sich auf.

— Nein, nein! Haben Sie keine Angst. Man darfkeine Angst haben.

Er faselte und betastete im Sprechen alle Gegenstände.

— Es ist die zweite Seele, die Angst hat, und ich liebedie Menschen, die eine zweite Seele haben.

Er fing an im Zimmer herumzugehen und sprach unaufhörlich.

Das Mädchen sah ihn mit steigendem Entsetzen an.

— Ihre Schwester war vor einer halben Stunde hier,rief sie in ihrer Angst.

Er horchte plötzlich auf.

— Meine Schwester?

Das brachte ihn wieder zur Besinnung.

Er setzte sich hin, aber von Neuem versank er in einstumpfes Grübeln.

Plötzlich fuhr er wild auf.

— Ist hier Niemand außer uns beiden?

— Nein, nein, stammelte sie und wich zurück.

— Aber hier — hier... Sehen Sie nicht? FühlenSie nichts?

Er sprang hoch wie von einem Krampf emporgeschnellt.Seine Augen waren geschlossen.

Plötzlich riss er gewaltsam die Augen auf: er sah dasMädchen totenblass sich an einem Stuhl halten.

Er empfand eine tiefe Scham, starrte sie lange an undversuchte, freundlich zu lächeln.

— Ja, ja, Sie haben Recht. Ich bin krank. Vielleicht sehr krank...

Er dachte lange nach.

— Vielleicht wollen wir an meine Frau telegraphieren,dass sie sofort kommen solle?...

Das Mädchen atmete glücklich auf.

— Ja, ja, tun Sie das nur. Schreiben Sie nur dasTelegramm. Ich werde auf die Post laufen.

Sie lief umher und suchte nach Tinte.

— So. Hier ist alles... schreiben Sie nur schnell.Es ist bald zehn Uhr.

Da kam es ihm plötzlich vor, das nun alles vorübersei. Er fühlte sich mit einem Mal so klar und so stark.

Er war erstaunt über dies Wunder.

— Nein, nein, es ist nicht nötig, wir wollen nochbis morgen warten. Übrigens bin ich sehr müde. Ichwerde mich jetzt schlafen legen. Ich fühle, dass ich sofort einschlafe.

In der Tür blieb er stehen.

— Wenn ich in der Nacht weggeben sollte, so ängstigenSie sich nicht. Ich werde nämlich, wenn es schlecht geht,einen Arzt aufsuchen.

Er trat in sein Zimmer und setzte sich auf das Sofa.

Sein Gehirn war noch immer klar. Vielleicht wardas mit dem zweiten Gesicht nur eine Fieberkrise, und jetztwürde er wieder gesund werden, dachte er.

Er grübelte.

Er erinnerte sich plötzlich an den Abend, an dem sein eignes Portrait einen so furchtbaren Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Er wurde glücklich.

Diese Erinnerung rettete ihn. Alles wurde ihm klar:im Unbewussten war der Eindruck stecken geblieben, undnun drang er nach Außen unter den Einfluss des Fieberparoxysmus.

Ein jauchzender Jubel weitete sein Gehirn. Er hatteLust, sich auf die Knie zu werfen und Gott zu dankenfür die Erlösung.

Er ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab.

— Gott! Was ist das? schrie er plötzlich auf.

Auf dem Schreibtisch lag ein Blatt Papier und daraufin flüchtiger, unsicherer Schrift ein Telegramm an seineFrau:

„Komm sofort. Es geschieht etwas Furchtbaresmit mir!“

Es war seine eigne Schrift.

Eine dumpfe tierische Angst wirbelte in ihm auf: erhatte die ganze Zeit nicht ein Wort geschrieben. Erwusste genau, dass er eine Feder nicht angerührt hatte.

Er sank hin, aber immer wieder musste er auf dasentsetzliche Blatt hinstarren.

Kein Mensch außer ihm konnte es geschrieben haben.Das war seine eigne Schrift.

Da fingen plötzlich die Buchstaben an, sich zu rühren,sie lösten sich von dem Papier los, sie wurden lebendig,schwirrten vor seinen Augen in irren Kreisen, alles umihn fing an, sich zu bewegen: er warf sich lang auf dieErde und vergrub das Gesicht in den Händen. SeineSeele kauerte: jetzt wird es kommen. Er fühlte sich eingeengt, die Winde rückten näher, alles im Zimmer schobsich ihm näher, umstellte ihn, versperrte ihm den Ausgang.Er kroch eng in sich zusammen.

Vor seinen Augen stieg das furchtbare Portrait auf, eswuchs über den Deckel hinaus, schon schielte es aus demBuch hervor, schon zwinkerte es boshaft mit den Augen.

Er sprang auf: vor ihm stand er selbst. Das Gesichtwar schmerzzerfurcht und die blutigen toten Augen starrauf ihn gerichtet.

Er war wie eingewurzelt in den Boden.

Da sah er sein Gesicht zucken, alle Muskel liefen,alle Fiebern klopften, die Zähne schlugen hörbar aneinander, die Augen schlossen sich krampfhaft und rissen sichwieder weit auf: er stürzte aus dem Zimmer, als wäreer von tausend Furien gepeitscht, lief über die Straßenaufs Feld, weiter noch in den Wald hinaus: er stürztezusammen.

— Was nun? Was nun? zuckte es unablässig in seinemGehirn, da verlor er die Herrschaft über sich, vergrub sichin das feuchte Moos, tiefer noch, er verscharrte sich indie weiche Erde: nun war er geborgen!

Er lachte in heißem Triumph, dann schrie er mitallen Kräften auf: er hörte sich, er fühlte auch einenheftigen Schmerz in der Lunge: er besann sich lange aufsich selbst. Ja, er hatte geschrien! Er versuchte, dieUrsachen seines Lungenschmerzes herauszufinden...

Da rüttelte sich sein Gehirn auf. Er setzte sich hinund dachte nach. Jetzt fühlte er nichts mehr: nur eineweite, blöde Ruhe. Er suchte sich Rechenschaft überseine Gedanken zu geben, er fühlte etwas mühsam inseinem Gehirn arbeiten: er wusste nicht, worüber erdachte, er suchte sich qualvoll darauf zu besinnen, abervergebens.

So saß er in einer stumpfen Resignation. Er wusstenicht, wie lange er so saß.

Plötzlich fühlte er Fieberfrost, so heftig, dass erseinen Körper nicht bemeistern konnte, er drohte auseinander zu fallen.

Er stand auf, fing an zu laufen und schlug denKörper mit den Armen, so hatte er immer als Knabegetan, wenn ihn gefroren hatte.

Dann lief er wieder im Kreise herum und schlug dabeiimmer mit den Armen auf die Brust.

Mit einem Ruck blieb er stehen.

Das Kind! Mein Kind! schrie er auf. Mein Kindwird mich retten, es wird mich retten — mein Kind, meinKind, mein Blut!

Er horchte: eine Öde, taube Stille.

Wo war er! wo war er nur?

Angst packte ihn.

Er lief auf das freie Feld hinaus.

Ein blutiger Schein am Himmel! Der Himmel brennt,zuckte es ihm durch den Kopf. Götterdämmerung! Jetztwird der Menschensohn heruntersteigen, um das Gerichtzu halten.

Er stand und starrte unablässig nach dem Feuerscheinam Himmel.

Eine Erinnerung mühte sich qualvoll aus der Nachtseiner Seele.

Er atmete glücklich auf: dort lag die Stadt. Unddies da am Himmel — das ist ja der Schein des elektrischen Lichtes.

— Mein Kind, mein Weib, meine Erlösung! fuhr esihm wieder durch das Gehirn.

Er schnellte auf. Eine unerhörte Energie ergoss sichüber seinen Körper. Er schritt mit weiten, triumphierendenSchritten der Stadt zu.

Oh, er kannte seine Erlösung, er kannte die Sonne,die in seinen Wahnsinn mit reinigender Macht hinabtauchte.

Plötzlich packte ihn ein furchtbares Grauen: Gott!Allmächtiger Gott, wenn sie nicht da ist?

Er fing an zu laufen, er vergaß seinen Körper. Erselbst war nur ein großes, klopfendes — Herz, er fühlte esden Boden berühren und in wilden Sprüngen aufschnellen;er kam in die Stadt.

Da schlich er langsam wie ein Dieb: er fühlte, dasssein Ende komme, wenn sie nicht da sei.

Schließlich kroch er fast. Er wagte nicht an dasDenkmal heranzukommen: er sah es in dumpfer Stille aufragen, kalt, grausam wie sein Schicksal, er sah es sich ineinen großen Dunstkreis auflösen, der zu schwirren undzu kreisen anfing, er fühlte den Boden sich um ihn drehen,heftiger, schneller noch, er taumelte... da plötzlich:aus den kreisenden Dunstringen quollen ihm zwei Augen.

Eine unermessliche Freude zerriss ihm mit flackerndemLicht das Gehirn: er klammerte sich um ihren Arm, erpresste sie an sich, zerrte an ihr, streichelte, liebkoste sieund lachte in irrer Seligkeit.

Nun war alles Furchtbare versunken und vergessen:er hielt sie fest, er wagte nicht ihren Arm loszulassen.

— Ich habe gestern auf Dich gewartet die ganzeNacht, sagte sie leise.

Er zitterte und konnte kaum gehen: die Freude hatteihn gelähmt.

— Jetzt bin ich erlöst Durch Dich — durch Dich!Er kicherte. Ich hätte heute sterben müssen, aber jetztbin ich erlöst. Du hast mich wiedergeboren, sagte ergrübelnd.

Sie sprach etwas.

— Ein Vampir? hörte er heraus.

Er blieb erschreckt stehen.

— Aber weißt Du nicht, dass wir nur durch einanderwiedergeboren werden? sagte sie geheimnisvoll.

— Du — Du... auch? stammelte er.

Sie antwortete nicht.

— Bist Du hier? Hier? fragte er entsetzt. Er betastetesie mit der Hand.

— Bist Du da? fragte er wieder.

Er fing an zu stottern und zu zittern.

— Ja, ich bin hier. Ich fasse jetzt Deine Hand.Fühlst Du sie? Oh, wie Deine Hand brennt!

Er beruhigte sich.

— Bist Du Agaj? fragte er nach einer Weile.

— Ist das Dein Vampir?

Er nickte stumm.

— Du bist nicht Agaj? fragte er wieder nach einerlangen Pause.

— Nein!

Endlich kamen sie an.

Diesmal kam es ihm vor, als ob sie durch eine endloseFlucht von Korridoren gingen, durch eine trostlose, verlassene Öde von Zimmern. Er hörte das leise Echo seinerSchritte, wie ein rhythmisches, taubes Herzklopfen.

— Ich habe nicht Angst! sagte er plötzlich.

Eine lange Zeit verging.

— Hier! sagte sie endlich.

Er atmete auf.

— Oh! Ich bin so fürchterlich müde! Er konntenicht unterscheiden, war es seine, war es ihre Stimme?

Er fing an zu zittern.

— Ich bin bei Dir! Sie hielt seine Hand fest.

Nie hatte er eine so dunkle Stimme gehört. Das warAgaj’s sammetdunkles Fleisch.

Sein Herz krampfte sich zusammen.

— Sprich, sprich zu mir! er presste ihre Hand.

— Du bist so krank. Du bist so krank, wiederholtesie leise und presste ihre Wange an seine.

So saßen sie lange, lange auf dem Rand des Bettes.

Er wurde ruhig und weich wie ein Kind.

— Wie gut Du bist! Wie unendlich gut! flüsterte erauf ihre Lippen.

— Jetzt leg Dich hin. Ich werde bei Dir schlafen.Ich werde Dich halten. Sieh', sieh', Du bist jetzt so ruhig,Dein Fieber ist weg.

Sie entkleidete sich und legte sich neben ihn.

— Ich werde Dich in meine Haare einwickeln, flüsterte sie und machte ihr Haar auf... Mein Haar ist solang, es reicht mir über die Knie...

— Dein Haar ist weich wie Seide! Oh, viel weichernoch.

— Ist Dein Haar schwarz? fragte er nach einer Pause.

— Nein!

— Sind Deine Augen schwarz?

— Nein!

— Sie schwiegen lange.

— Ich werde Dich auf Deine Brust küssen, sagte sieplötzlich. Deine Brust glüht, und meine Lippen sindso kühl.

Sie küsste ihn.

— Noch, noch! bat er flehend.

Sie küsste ihn über die ganze Brust, dann verschränktesie ihre Hände um ihn, das Haar ergoss sich in seidenerFlut über seinen Körper, sie legte ihren Kopf an seineBrust.

— Du wirst nicht von mir gehen? fragte sie ängstlich.

— Nein, nein... oh', jetzt ist alles vorüber.

Nun war es wohl Mittagszeit. Er fühlte, dass er jetztendlich werde etwas essen können. Das machte ihnglücklich. Nun war er auch Agaj los.

Er lächelte. Er lächelte jetzt immer still und geheimnisvoll.

Es klingelte.

Er schrak empor und begann zu zittern.

Das war sie! Ja, sie! Er fühlte sie.

Agaj trat ein. Ihr Blick fraß sich ihm ins Mark.

Sie setzte sich ihm gegenüber und sagte lange keinWort.

Plötzlich warf sie den Kopf auf und sagte höhnisch:

— Wo hast Du Dich denn gestern vor mir versteckt?

— Ich habe mich gar nicht versteckt, sagte er ruhig.Ich wollte Dich einfach nicht mehr sehen.

Er erschauerte. Aus der Hölle der abgründigenAugen dieses Weibes schoss ein kranker Hass hervor.

— Du warst die ganze Zeit bei dem Mädchen! Erglaubte ein Knirschen zu hören... Du warst bei ihr dieganze Nacht und gestern... sie brach plötzlich ab.

— Ja, ich war bei ihr. Er lachte boshaft. BerührtDich das eigentlich? Ha, ha, Du bist ja eifersüchtig.

— Ich erlaube Dir nicht, ich will nicht, dass Du einfremdes Weib berührst, ich will es nicht, verstehst Du,ich will es nicht!

Sie schrie es mit kurzen, gedämpften Schreien.

Er ließ den Kopf sinken und stützte ihn mit beidenHänden.

— Meine Seele ist scheu und schamhaft, sagte erlangsam und sehr leise. Du hast sie scheu gemacht. Dawarst roh... sieh, ich bin einmal auf der Straße gegangen, und da fühlt' ich mich nur als ein großes klopfendesHerz. Das ist ein Symbol für mein ganzes Wesen. Ichbin auch in Wirklichkeit nur ein großes klopfendes Herz.Und dieses Herz hat eine entsetzliche Scham. Die Schamist das kalkige Gehäuse, in das sich ein solches Herz fürimmer wie eine Schnecke verkriechen kann. Die Schammacht kalt und scheu und hat Ekel vor den Menschen.Jetzt fühl' ich kein Herz mehr, es ist verborgen, es schrumpftzusammen, es verkroch sich in dem Kalkgehäuse...

Er sah zu ihr auf. Er glaubte in ihren Augen großeTränen zu bemerken. Er war nicht sicher.

Wieder ließ er den Kopf sinken.

— Sieh' jetzt zum Beispiel. Ich glaube, ich habeTränen in Deinen Augen gesehen, aber selbst meine Schamist scheu, sie glaubt nicht an Deine Tränen.

Da sank sie ihm plötzlich zu Füßen. Sie fasste seineHände und küsste sie in einer Tollwut von Leidenschaft.

Sie wühlte ihn auf mit ihrer heißen (Her, mit denbettelnden Küssen, seine Leidenschaft kroch wieder hervor,drängte sich wütend in jeden seiner Nerven.

Aber er beherrschte sich mit einer unnatürlichen Machtund entzog ihr leise seine Hände.

Da warf sie sich auf ihn, klammerte sich an ihn, bisssich in ihm fest, erstickte ihn mit ihrer kranken Raserei.

Es schwindelte ihn. Kopfüber stürzte er sich in dieseHölle von Glück und Grauen.

— Du — Du liebst mich? stammelte er mühsam.

Sie hing an seinen Lippen. Sie sog an ihnen, sinnlos,gierig, sie konnte sich nicht sättigen.

Da sprang er plötzlich auf, sie kochte vor Wut.

— Du bist ja kalt, kalt!... Man muss Dich erobern...Ihre Stimme bebte und war heiser. Ha, ha... wir habendie Rollen vertauscht. Du bist jetzt ein Weib. Ha, ha,ha... es ist wohl pikant, sich einmal als Weib zufühlen?...

Sie biss ihn mit dem ätzenden Hohn. Er starrte siean, dann wurde seine Seele stumpf. Er sah sie nur dastehen mit dem breiten, gespreizten Hohn.

— Und, und... sie stockte... Was hab' ich mitDir zu tun? Geh' doch zu Deinem Mädchen, schrie sierasend auf.

Er bemerkte plötzlich, dass sie ein graues Kleid anhatte.

— Warum hast Du nicht Dein schwarzes seidenesKleid an?

Sie sah ihn erstaunt an. War er wirklich krank?Spielte er Komödie?

— Das reizt Dich zu sehr auf, sagte sie endlich frech.Du darfst Dich nicht aufregen. Deine Nerven sind zuschwach für den sexuellen Erethismus, in dem Du ewiglebst. Das reibt Dich auf.

Er sagte kein Wort.

Sie schwiegen lange.

Plötzlich stand sie auf und trat dicht an ihn heran.

— Du kommst heute um zehn Uhr abends zu mir,sagte sie scharf. Die Mutter ist verreist.

— Ich komme nicht! fuhr er rasend auf.

— Du kommst! wiederholte sie lächelnd.

Eine Tollwut kam über ihn.

— Ich schwöre Dir, dass ich nicht komme, schrie erheiser auf. Ich schwöre! er stampfte mit den Füßen.

— Du kommst! sagte sie sehr ernst.

Die Wut zersprengte ihm sein Gehirn. Er hatteeine tierische Lust, dies Weib zu morden. Es schrieetwas in ihm dies Wort: Morden! Die Sinne vergingenihm. Ein Schwindelgefühl wirbelte wie ein feuriges Feuerscheit in seiner Seele. Er ballte die Fäuste und gingauf sie zu.

— Du wirst heute um zehn Uhr zu mir kommen, sagtesie leise und ging aus dem Zimmer.

— Ich werde nicht! brüllte er auf und warf sich aufden Boden. Die Seele war ihm aufgerissen und bluteteaus tausend Wunden. Er wälzte sich auf dem Bodenund vergrub in wütender Ohnmacht seine Hände in denTeppich.

Mit einem Mal entdeckte er ihn wieder, ihn — sichselbst.

Sein Blut stockte, er fühlte ein Stechen und Prickelnin den Haarwurzeln, er war gebadet in Angstschweiß.

Er kroch wie ein Tier auf Händen und Füßen ineine Ecke und starrte unverwandt hin: dies grässliche verzerrte Gesicht! Sein eignes Gesicht.

Er schloss die Augen und drückte sich krampfhaft andie Wand.

Jetzt wurde er es nicht mehr los werden. Ermusste sich daran gewöhnen.

Er fing an, lange und leise vor sich hin zu stammeln.

Er wurde plötzlich neugierig auf sein Gesicht, er machtedie Augen auf: es war verschwunden.

Aber er fühlte es um sich. Es war da. Es fülltedas ganze Zimmer. Er war wie eingehüllt in sich selbst.

Eine unendliche Verzweiflung senkte sich ihm langsamfressend und zerstörend in die feinste Pore seines Organismus.

Da schnellte er auf und fing an wild zu lachen. SeinLachen kreilte ihm wie ein tierisches Wiehern in denOhren.

— Gut, gut, ich habe nichts dagegen, durchaus nichtsdagegen. Jetzt werd' ich nie mehr einsam sein. ImmerGesellschaft, immer Gesellschaft! In meiner eigenen Gesellschaft! He, he... kann ich eine bessere bekommen?

Mit einem Ruck wurde sein Gehirn gelähmt. SeinBewusstsein schwand.

Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer.

Er sprang auf in wilder Hast. Es war schon halbzehn. Ohne eine Sekunde zu überlegen, lief er zu Agaj.

Vor dem Hause blieb er stehen und lächelte. Ersprach sehr freundlich mit sich selbst und ging hinauf.

Sie stand zitternd vor der Tür.

Er sah alles mit einer übernatürlichen Deutlichkeit.Hektische Flecke glühten auf ihren Wangen: sie wareneingefallen. Sie atmete unruhig, sie rang nach Atem.Sie stand vor ihm in einem schwarzen seidenen Ballkleide,auf den nackten Armen hatte sie lange rote Handschuhe,die über die Ellenbeuge reichten.

— Sieh', sieh' mich an. Ich habe mich für Dichgeschmückt. Du liebst mich so, sag' es, sag'!

Sein Gehirn kam in einem Nu ins Gleichgewicht. Erfraß an diesem schlanken Leib.

— Wie schlank Du bist, murmelte er leise. Wie einPanther... wie ein glänzendes, geschmeidiges Tier...Und wie Du Dich bewegst!...

— Küss mich hier — hier! sie zeigte auf den nacktenArm. Du hast seit zehn Jahren meine Arme nicht nacktgesehen.

Sie lachte hysterisch.

— Ich gebe Dir heute das Abschiedsfest. Ich reiseheute Nacht weg, weit weg aufs Meer.

— Aufs Meer? wiederholte er dumpf. Es kam ihmso selbstverständlich vor, dass sie aufs Meer wollte.

— Komm, komm, setz Dich! Hier ist viel, viel Wein!Wir werden trinken heute...

Sie lachte lange, dann beugte sie sich zu ihm, legteden Kopf auf seine Brust und flüsterte leise:

— Ich gebe auch mir das Abschiedsfest. Ich kommenie wieder zurück... Gib, gib mir Deine schmalenKnabenhände, Deine teuren, goldnen Hände... Oh, wieich sie liebe! Sieh' ich bin Deine Agaj, — die Agaj, dieDir wie ein Hund folgte, die sich wie eine Katze an Deinemnackten Leibe rieb... Ich — ich fühle Dich so deutlichhier, hier, an meinem ganzen Körper fühl’ ich Dich...Und meine Seele ist so stolz... Nie sah ich einen Mannaußer Dir. Ich weiß nicht, wie sie aussehen. Es kamenso viele her, aber ich wusste nicht, dass sie Männer sind— das waren Hunde, Gegenstände, geschlechtslose Neutra.Nur Du — Du immer vor meinen Augen, immer um meinenLeib... Und sieh, meine ganze, unbefleckte Seele, siegehört Dir, immer hat sie Dir gehört... Nicht eineSekunde schlich sich dahinein der Gedanke an einen Anderen... Bist Du nicht stolz auf eine solche Seele? BistDu nicht stolz auf einen solchen Besitz? Ich bin an Diremporgewachsen — in der schwülen Treibhaushitze DeinesLeibes, Deiner Seele, Deines Pulsschlags bin ich großgeworden... Ich atmete Dich, ich ging wie eingewickelt in Dich... Du, Du... mein Blut, mein Mann Du!

Sie wühlte sich mit ihrem Kopf in seine Brust, dannlachte sie still auf.

— Aber trink, trink doch!... Was meinst Du, wennwir uns heute ganz und gar betränken? Sie kicherte vergnügt, wie ein Kind. Erinnerst Du Dich, wie wir einmalbei unserem Onkel waren, und uns in seinem Weinkellereinschließen ließen? Gott war das furchtbar! Wie?

Sie tranken sich zu und leerten die Gläser, dannnahmen sie sich an den Händen.

— Agaj, Agaj, — ich kenne Dich nicht wieder. Dubist, wie Du früher warst...

Sie starrte wie abwesend vor sich hin.

— Du, du... sagte sie leise. Jetzt sind wir wiedereingeschlossen in einem dumpfen Keller... Huh, wiegrausig!

Sie kicherten beide.

— Und Du — Du, mein Liebling. .. Huh, huh, dieNacht, die Nacht! Hörst Du die Eulen? Hörst Du dieFledermäuse gegen die Fenster schlagen? Und die grässlichen Kröten, die im Keller herumkriechen...

— Hu, hu, kicherte er irrsinnig.

— Sind wir vielleicht beide wahnsinnig? fragte sieplötzlich ängstlich... Aber das ist ja jetzt gleichgültig...Du, Du, küss mich hier... sie knöpfte hastig ihre Tailleauf... Das hast Du einmal vor zehn Jahren getan.Das gießt sich wie flüssiges Feuer über den ganzen Körper.Die Schauer kriechen wie lange, kalte Schlangen über denLeib...

Sie verstummte und zitterte heftig. Er küsste sie mitkranker Leidenschaft auf ihre Brust.

— Noch mehr! Sie war ganz von Sinnen.

Er zerriss ihr Hemd und sog an ihrer Brust.

Sie zuckten. Eine zerstörende Wollustextase rissihnen die Nerven entzwei.

Sie schrie plötzlich leise auf.

— Lass', lass', keuchte sie heiser. Mein Kopfbirst...

Sie warf sich von ihm weg, aber im nächsten Momentsetzte sie sich wieder dicht an ihn heran.

Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihnfest an ihre Brust und flüsterte ihm leise ins Ohr:

— Wenn wir jetzt stürben...

Aber im selben Nu rückte sie wieder von ihm wegund lachte.

— Oh Du! Du! Warum sagst Du mir jetzt nicht,dass ich sentimental bin? Du hattest jetzt eine so prachtvolle Gelegenheit, Dich an mir zu rächen. Oh ja, Du verschmähst es — Deine Seele ist groß und schön. Ich liebeDeine Seele, ich liebe die tiefe Schwermut Deiner Seele,ich liebe die Tiefe und den Abgrund in Dir. Alles wächstzu einem endlosen Abgrund in Dir, alles in Dir wird sofurchtbar tief und schmerzhaft. Du bist mir so heilig mitDeinen Visionen. Sag', sag', hast Du oft Visionen? Du,Du bist der Einzige, der Qual und Schmerz in sich hat!Und Du wehrst Dich nicht dagegen, Du wehrst Dich nichtgegen den Schmerz, Du liebst ihn auch, wie ich... Oh,lass', lass' mich alles sagen. Ich habe so gedürstet, ichhabe so gelechzt, Dir dies alles zu sagen... Ich liebeDich, weil es Dich ekelt vor Glück... Ich liebe Dich,weil Du die Vernunft hassest und Dich tausendmal lieberin den Abgrund stürzest...

Sie hing sich ihm um den Hals und rieb langsam ihrGesicht an dem seinen.

— Und Du liebst mich jetzt. Ich fühle wie grenzenlos Du mich liebst. Deine Seele klopft mir entgegen, DeinBlut fließt in meine Adern über, und Dein Geist strömt inmich über, Dein Geist mit der ganzen Hölle von Schmerz,mit der abgründigen Tiefe von Qual. Hörst Du michsprechen? Hörst Du Dich in mir sprechen? Du hast michsprechen gelehrt, Du hast Deine Worte in meine Seelegepflanzt...

Sie wiegte sich leise an seinem Körper.

— Und ich hasse die Vernunft. Ich habe keine Vernunft. Ich habe Ekel vor der niedrigen bürgerlichen Vernunft, die den Schmerz wie die Pest fürchtet... Kleine, besorgte Bürgerfrauen, kleine Bürgerfräulein haben Vernunft... Oh, wie sie vernünftig sind!...

Sie kicherte böse.

— Nicht wahr? Kleine Bürgerfräulein, die in kleiner,enger, vernünftiger Atmosphäre aufgewachsen sind, diemüssen wohl vernünftig sein... Ha, ha, ha... Aberich bin das Kind Deines Geistes...

Sie waren beide wie verzückt. Sie kamen in einenZustand von einer visionären, somnambulen Extase, ihreSeelen wogten in einander über.

Sie schwiegen, eng aneinander gepresst.

— Oh, ich hätte es nie gedacht, dass es so unendlichgut ist in Deinen Armen...

Wieder Schweigen.

Plötzlich ruckte sie von ihm weg.

— Du — Du... warst Du wirklich bei dem Mädchen?

— Wie?

— Warst Du bei ihr?

Er raffte alle seine Kräfte zusammen...

— Nein!

— Du lügst, sagte sie traurig... aber ich bin schulddaran... war ich roh zu Dir?

— Nein, nein... Nein, Du warst es nicht... Dubist mein, Agaj... Du... Du...

Er sank an ihr nieder und küsste ihre Füße.

Sie nahm ihn auf, hielt seinen Kopf in den Händenund sagte wie irrsinnig:

— Das ist das Ende vom Liede...

— Das ist das Ende vom Liede, wiederholte er.

Lange Pause.

— Aber nicht zusammen...

— Wie?

Sie lächelte irre.

— Nicht zusammen... Verstehst Du mich nicht?

Er dachte nach.

— Warum nicht?

— Wir würden einander stören.

— Ja.

Lange Pause.

Sie fuhr auf.

— Nein! wir wollen nicht traurig sein! Trink, trink!

Sie tranken hastig.

Und wieder saßen sie lange, dicht aneinander gekauert.

— Hör' Agaj, gibt es keinen Ausweg?

— Nein! Jetzt nicht mehr.

— Und... und, wenn wir beide wegfahren und, —wenn alles wie ein Alp abgeschüttelt ist?...

— Ich kann nicht Dein sein!

— Warum nicht?

— Ich weiß es nicht... Nein, es geht nicht...Sprich nicht darüber, es ist nutzlos, sagte sie müde.

— Ist es Vernunft?

— Nein, nein! Ich habe Ekel vor der Vernunft. Esist etwas, was ich nicht kenne. Ich sehne mich bis zumWahnsinn nach Dir... Du bist der größte Mensch, denich kenne, Du bist mein größter Künstler, und ichwürde mit Freude Deine ganze herrliche Menschlichkeit,Deine ganze gewaltige Kunst für ein Stück Deiner nacktenHaut geben... Sieh, sieh meine Arme, sie sind soschmal, aber sie haben Muskeln von Stahl... Wie ofthab ich Dich nicht mit diesen Armen in meinen Nächtenumfasst und an mich gepresst!... Sieh meinen schmalenKörper, wie oft hat er sich nicht über den Deinen gewunden!... und, und... sie stotterte verwirrt... imletzten Momente trennt uns etwas, reißt uns auseinander...Das ist wohl dasselbe Blut... Fühlst Du es nicht?

— Ja, jetzt fühl’ ich es.

Sie raffte sich plötzlich zusammen.

— Ja, Du, Du... Lach' doch!

Er lachte.

— Sind wir verrückt? fragte sie.

— Ja.

Ihre Hände verflochten sich krampfhaft. Ihre Gesichterverzerrten sich schmerzhaft.

— Geh, geh, flehte sie schluchzend. Der Wahnsinnkommt, der Wahnsinn kommt... Geh, geh!

— Ich bleib' bei Dir! sagte er hart.

Sie starrte ihn in entsetzlicher Angst an.

— Dein Wille schwillt... sie kam in eine furchtbare Erregung. Dein Wille schwillt so grässlich an. Jetztbekommst Du Macht über mich... Du bist so grässlichstark... Geh, geh... mein Kopf kracht und meine Brüste glühen... Feuer in meinem ganzen Körper.

Sie sank an ihm nieder und umklammerte seine Beine.

Seine Seele brach plötzlich in einer stumpfen Verzweiflung. Das Empfinden hatte sich von seinem Willenlosgelöst, er wurde machtlos. Eine dumpfe öde Leeregähnte in seinem Gehirn.

Sie setzte sich auf seinen Schoß, lehnte ihren Kopfan seine Brust und weinte.Dann nahm sie seinen Kopf, küsste ihn auf den Mund,auf die Augen und sah ihn fortwährend an mit einem Blick,in dem die Verzweiflung in ein brütendes Jenseits vomSchmerze zerbrochen war.

Jetzt geh, geh!

Er erhob sich mechanisch. Seine Seele war taub.

Sie führte ihn ans Fenster.

— Sieh das Meer! Wie gut wäre es, mit Dir daunten zu liegen — in Deinen Armen, Deinen Armen...aber ich liebe Deine Frau. Sie würde den Schmerz nichtüberleben... nein, nein! es müsste furchtbar sein, mitdiesem Schmerz an Dich zu denken. Ich muss allein.

— Ja, sagte er nachdenklich.

Sie führte ihn hinunter. Sie traten in den Garten.

Sie blieben stehen.

Plötzlich stürzte sie sich auf ihn, sog sich tief in seinenHals, biss sich mit den Zähnen fest und riss ihm dieHaut auf.

Er stöhnte leise.

Er hörte, dass die Tür zugeworfen wurde, er fühlteeinen heftiges Schmerz, er griff mit der Hand nach demHals: seine Hand wurde blutig.

Er lächelte.

Sein Gehirn war leer.

Er ging mit weiten, festen Schritten.

— Sie wartet auf mich am Denkmal, schoss es ihmdurchs Gehirn.

Er machte eine weite abwehrende Handbewegung undlächelte wieder.

Über seine Seele ergoss sich ein stiller, endlos weiterTriumph.

Als er nach Hause kam, machte er mechanisch dasFenster auf, setzte sich auf das Fensterbrett und starrte indie Tiefe.

Jemand ging mit einer Laterne über den Hof.

Das Licht, dies taube Irrlicht in der Tiefe interessierteihn sehr.

Der Andre war im Zimmer. Er sah ihn grinsen, ersah das fürchterliche, verzerrte Gesicht. Aber er hattekeine Angst mehr. Er zuckte verächtlich mit den Achseln.

Und wenn ich mich in tausend Ich’s spaltete, würd'ich doch allein bleiben. Agaj ist ja nicht mehr.

Da ist das Meer — und da unten dieser steinige, gepflasterte Abgrund.

Er wich unwillkürlich zurück und machte Licht an.

Ein Brief auf dem Tisch. Er riss ihn auf. Vonseiner Frau.

„Mein Gott, was ist mit Dir? Warum schreibst Dunicht ein Wort? Ich sterbe hier vor Angst um Dich.“

Er lächelte und küsste dreimal den Brief. Dann setzteer sich aufs Bett.

Er empfand wieder einen brennenden, stechendenSchmerz. Er ging an die Waschtoilette und wusch sichdie Wunde aus. Sein Rock war über und über blutig.

Er nahm ihn ab. Das sah ekelhaft aus. Dann löschteer das Licht und legte sich aufs Bett.

Plötzlich fühlte er wieder den Menschenknäuel sichheranwälzen. Langsam, wie ein kauerndes Gebetmurmeln.Es kam näher, es schwoll an, wie ein irres Stammeln,dann ging es wie ein röchelnder Marterseufzer durchdie Luft.

Und jetzt wieherte es gell auf, ein höllisches Hohngelächter zerriss die Luft, schwoll an, ballte sich zusammen,wirbelte sich in die Tiefe und schoss dann mächtig, jähempor in einem schreienden Würgegesang:

De profundis...

Es war wie eine tollgewordne Qual, die die mageren,knochigen Hände aus den Gelenken emporwarf und nachErlösung schrie.

Und plötzlich, langsam hob sich ein Weib empor inweitem, scharlachrotem Mantel, sie wuchs empor hochüber das ganze Erdenall, auf dem schmerzverzerrten Gesichte ein ödes, versteinertes Lächeln.

Und da sah er den Knäuel sich lösen, einen Stromvon Menschen sah er sich rings um das Weib gießen,Menschenpaare in ekelhafter Kopulation mit verrenktenGliedern, schmerzhaft in einander verflochten und verwachsen. Er hörte ein tierisches Gewieher, berstend ingeschlechtlicher Qual, er sah Gesichter verzückt in tollenWollustorgien, Leiber sah er, zerfressen von Gift, miteklen Runden bedeckt, und unten, ganz unten sah er sichselbst mit blutiger, zerquetschter Stirn, mit geballter Faust,zerrissen von einer Verzweiflungsagonie und schreiend, mitberstender Lunge emporschreiend...

Und aus den lechzenden, gierigen Schreien, aus demSchmutz und Ekel der geschlechtlichen Orgie, aus all derverreckenden Qual löste sich von Neuem der wahnsinnigeSchicksalsgesang von Menschen, die unwissend aufeinandergeworfen, an einander gekettet werden, Menschen die ineinander wachsen und sich nicht lösen können: ein wirbelnder Sturm von Verzweiflungsschreien:

De profundis...

Er sprang aus dem Bett.

Noch klangen die letzten Töne in seinen Ohren. SeinGehirn war wirr, vergebens versuchte er einen Gedankenzu fassen.

So saß er lange regungslos.

Das erste Morgengrauen fraß mühselig an dem Dunkeldes Zimmers.

— Aber, mein Gott, wo bleibt denn Agaj? fuhr esihm plötzlich durch den Kopf.

Er stand auf und blieb mitten im Zimmer stehen.

Ah, Agaj hat sich sicher im Garten versteckt, hinterder alten Pappel... Sie versteckt sich immer hinterdieser Pappel.

Er kicherte und schlich leise auf den Zehen ansFenster.

Nun muss ich ganz leise die Verandatür aufmachen...He, he... Sie hat sich hinter dem Garten versteckt...Sie hat sich auf das Meer versteckt... Sie ist selbstdas Meer... Aber ich werde sie schon finden...

Nur leise, leise... sonst entflieht sie mir...

Er kroch auf die Fensterbrüstung.

— Ich werde sie schon finden... Nur ganz leise...Oh... da... da ist sie...

Er stand im Fenster mit weit vorgestreckten Armen.

Agaj! schrie er lachend auf.

Er stürzte in die Tiefe.

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