Ankunft in Łochowo
Der Zug ratterte über die Gleise, und Mija drückte ihre kleine Nase gegen das Fenster, während die Landschaft an ihr vorbeiflog. Wälder, Wiesen und vereinzelte Häuschen mit roten Dächern zogen vorüber, so anders als die hohen Gebäude und belebten Straßen Berlins. Ihre Mutter, die neben ihr saß, lächelte.
„Wir sind fast da, Mija. Bist du aufgeregt?“
Mija nickte, doch in ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge. Sie hatte ihre Großeltern nur ein paar Mal gesehen, und das letzte Mal war sie noch so klein, dass sie sich kaum erinnern konnte. Trotzdem war die Vorstellung, den Sommer auf dem Land zu verbringen, aufregend und ein wenig einschüchternd zugleich.
Als der Zug im kleinen Bahnhof von Łochowo hielt, sprangen Mija und ihre Mutter hinaus. Eine warme Sommerbrise wehte ihnen entgegen, und von weitem hörte man das Krähen eines Hahns.
„Mija, meine Kleine!“ rief eine herzliche Stimme. Es war Oma Kamila, die mit offenen Armen auf sie zukam. Sie war eine kräftige Frau mit wachen Augen und einem bunten Kopftuch. Hinter ihr stand Opa Marek, der einen Strohhut trug und breit grinste.
„Willkommen, meine Entdeckerin!“ sagte Marek und hob Mija schwungvoll hoch, sodass sie vor Freude quietschte.
Die Fahrt zum Haus der Großeltern war kurz, und Mija konnte kaum glauben, wie grün alles war. Das kleine Haus stand am Rand des Dorfes, umgeben von einem üppigen Garten, in dem Obstbäume wuchsen und bunte Blumen blühten.
„Das ist unser Zuhause,“ sagte Kamila. „Und jetzt auch deins, Mija.“
Kaum hatten sie ihre Koffer abgestellt, zog Marek Mija mit sich in den Garten. „Komm, ich zeige dir etwas Spannendes.“
Der Garten war wie ein eigenes kleines Reich. Mija entdeckte Hühner, die gackernd umherliefen, ein Kaninchen, das unter einem Apfelbaum döste, und einen Teich, in dem Frösche quakten.
„Hier, das ist Burek,“ sagte Marek und zeigte auf einen alten Hund, der träge in der Sonne lag. „Er passt auf alles auf — auch auf dich.“
Mija kraulte Bureks Fell und fühlte sich plötzlich ganz ruhig.
„Schau mal hier,“ fuhr Marek fort und führte sie zum Zaun, der den Garten vom angrenzenden Wald trennte. „Da drüben, im Fluss, wohnt ein riesiger Fisch. Ein Karpfen, so groß wie ein Boot. Niemand konnte ihn bisher fangen.“
Mija riss die Augen auf. „Ein Fisch wie ein Boot?“
„Na gut, vielleicht nicht ganz so groß,“ Marek zwinkerte. „Aber groß genug, dass er uns alle satt machen könnte. Vielleicht fangen wir ihn ja zusammen.“
Am Nachmittag spazierten Mija und ihre Großeltern ins Dorf, um frische Milch vom Bauern zu holen. Die schmalen Straßen waren ruhig, die Häuser aus Holz und Stein wirkten urig und einladend.
Mija hielt Kamilas Hand und beobachtete alles neugierig. Ein alter Mann saß vor seinem Haus und schnitzte an einem Stück Holz, während Kinder barfuß über eine Wiese liefen.
„Das ist Łochowo,“ sagte Kamila. „Es ist vielleicht klein, aber voller Leben.“
Im Hof des Bauern sah Mija Kühe und Ziegen, die sie fasziniert betrachtete. Die einfache Lebensweise der Dorfbewohner war so anders als das, was sie aus Berlin kannte, und sie spürte, wie ihre anfängliche Unsicherheit langsam verflog.
Nach einem langen Tag voller Eindrücke saß Mija mit Marek und Kamila im Garten, wo der Himmel über ihnen in einem Meer aus Sternen erstrahlte.
„Es ist so schön hier,“ flüsterte Mija, während sie an ihrem warmen Kakao nippte.
„Und voller Abenteuer,“ sagte Marek. „Das Land ist ein Ort, an dem man lernen kann, mutig zu sein — und neugierig.“
Kamila legte eine Decke um Mija. „Aber für heute reicht es. Morgen wirst du sehen, wie viel Spaß das Leben hier wirklich macht.“
Mija schloss die Augen, und während die Grillen sangen, träumte sie bereits von dem riesigen Fisch im Fluss und all den anderen Abenteuern, die auf sie warteten.
Der große Fang
Die Sonne stand gerade über den Baumwipfeln, als Opa Marek mit seiner kräftigen Stimme durchs Haus rief: „Mija, zieh deine Gummistiefel an! Heute gehen wir auf ein echtes Abenteuer!“
Mija, die gerade am Küchentisch saß und neugierig Oma Kamila beim Buttermachen zusah, sprang auf. „Ein Abenteuer?“ fragte sie mit glänzenden Augen.
„Zum Fluss,“ sagte Marek und zwinkerte. „Heute fangen wir den größten Karpfen, den Łochowo je gesehen hat!“
Der Weg zum Fluss führte durch ein kleines Wäldchen, das von Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Blätter erfüllt war. Mija hielt Opa Mareks große Hand fest und beobachtete alles genau — die Ameisen, die fleißig einen Zweig trugen, das Eichhörnchen, das eilig einen Baum hochflitzte.
„Sind Fische eigentlich auch so fleißig wie Ameisen?“ fragte Mija.
Marek lachte. „Manche bestimmt. Aber unser Karpfen ist wahrscheinlich eher wie ein König — groß und schwerfällig. Und schlau genug, um bisher allen Anglern zu entkommen.“
Als sie den Fluss erreichten, war Mija beeindruckt. Das Wasser glitzerte in der Morgensonne, und auf der Oberfläche schwammen Seerosenblätter wie kleine grüne Inseln. Marek zeigte auf einen schattigen Bereich am Ufer.
„Da ist die beste Stelle,“ erklärte er. „Fische lieben es, sich im Schatten zu verstecken.“
Marek setzte sich auf einen Baumstamm und zog eine lange Angel aus seiner Tasche. Mija kletterte neben ihn.
„Das hier,“ sagte er, „ist der Köder. Die Fische denken, es ist etwas Leckeres. Und wenn sie anbeißen, ziehst du vorsichtig an.“
Er zeigte ihr, wie man den Haken mit einem Wurm bestückt und die Angel ins Wasser wirft. Mija beobachtete gespannt, wie die Schnur sich entfaltete und das Ploppen des Köders die Wasseroberfläche durchbrach.
„Und jetzt?“ fragte sie.
„Jetzt warten wir,“ sagte Marek mit einem Lächeln. „Fischen bedeutet Geduld. Die Fische kommen, wenn sie bereit sind.“